Einleitung. Was ist ein Optogramm? Ein erster Blick auf das letzte Bild
»Des Mörders Bild im Auge seines Opfers. Sowas lesen sie liebend gern.«
James Joyce, Ulysses [Hades Episode], S. 144
Optogramme sind Bilder, bei denen es nichts zu sehen gibt und die doch viel zu sehen geben. Sie zeigen eher das, was der Betrachter sehen möchte, als das, was dort wirklich zu erkennen ist. Optogramme sind, so die über einen Zeitraum von gut 75 Jahren bis hinein in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Annahme, Bilder, die sich auf der Retina eines Sterbenden im Moment seines Todes abzeichnen. Das Auge zeigt, wenn man denn nur genau genug hinsieht, das, was es zuletzt gesehen hatte. Auch wenn die Wahrnehmungsgegenstände längst aus dem Gesichtsfeld verschwunden sind, so haben sie doch ihre Spur auf der Netzhaut des Auges hinterlassen. Dort könnte man vielleicht das sehen, was ein Bild der Agentur »Münchener Bildbericht« zu erkennen gibt, das die denkwürdige Bezeichnung »Spiegel der Seele« trägt.
Abb. 01: »Der Spiegel der Seele«, Münchener Bildbericht
Doch Optogramme sind – anders als dieses – immer letzte Bilder, vom Tod gezeichnet. Der Moment des Todes unterbricht den ununterbrochenen Fluß der Wahrnehmung und stellt den kontinuierlichen Film der flackernden Bilder mit einem Mal still, verwandelt ihn in ein nahezu photographisches Standbild. Die eigentümliche photographische Metaphorik kommt dabei nicht von ungefähr, ist doch die Überzeugung, daß es Optogramme geben könne, eng mit der Geschichte der Photographie verbunden. Nicht nur, daß photographische Verfahren dazu genutzt werden, um die Bilder von der Retina zu extrahieren, zu vergrößern und so überhaupt erst wahrnehmbar zu machen, auch das Auge wird seinerseits bereits als Kamera vorgestellt, die wie ein Photoapparat Bilder aufzeichne. Im stream of consciousness gehen die Einzelbilder unter, doch im Moment des Todes verwandelt sich das Auge wieder und zugleich ein letztes Mal von einer Filmkamera, die Bewegungen bannt, in eine Photokamera, die Einzelbilder belichtet. Und so nimmt es kaum wunder, daß die Firma Kodak von 1934 bis 1966/67 Kameras mit dem Markennamen »Retina« hergestellt hat. 1977 kam noch ein letztes Modell auf den Markt, eine wie alle Vorgängermodelle handliche funktionale Kleinbildkamera, meist mit eingebautem Belichtungsmesser, die so strapazierfest war, daß selbst Sir Edmund Hillary am 29. Mai 1953 bei der Erstbesteigung des Mount Everest den Sherpa Tenzing Norgay, der mit ihm den Aufstieg unternommen hatte, mit ihr photographierte. Dieses Bild wurde zu einer der photographischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, also zu jener Zeit, in der die großen Entdeckungen längst vorüber waren.
Die Hochzeit der Optogramme fällt mitten in das photographische Zeitalter, setzt in den 1850er Jahren ein und verschwindet in etwa mit Aufkommen des Tonfilms Ende der 1920er Jahre. Erste Belege finden sich in Zeitschriften Mitte des 19. Jahrhunderts, letzte gegen Ende der 1920er Jahre. Danach wandert das Optogramm mehr oder weniger gänzlich in den Bereich der Fiktion, in die Literatur, den Film und in die bildende Kunst ab. Optogramme erscheinen weiterhin vereinzelt in Filmen und Texten, haben aber, wie wir sehen werden, das phantasmatische Register gewechselt. Nunmehr verwandeln sie sich in Schnittstellen, die in ein anderes Reich führen, in eine Parallelwelt oder aber in ein technisches Reich, das die Bilder emblematisch zeigen. Optogramme werden nun zu technischen Bildern, die von einer anderen parallelen Wirklichkeit oder überlegenen Ordnung zeugen. Sie werden zu Fenstern in eine andere Ordnung der Dinge.
Wie muß man sich die Berichte über Optogramme aus dem 19. Jahrhundert vorstellen? Ein Beispiel unter vielen sei hier in ganzer Länge angeführt, um den Charakter dieser Berichte, die zwischen Hörensagen und belegbaren Referenzen, zwischen Kompilation diverser Quellen und vermeintlichen Augenzeugenberichten oszillieren, zu verdeutlichen. Es stammt aus dem Jahr 1863/64, also kurze Zeit nach den ersten auffindbaren Belegen:
»Es ist bekannt, daß man bereits festzustellen versucht hat, ob man durch die Untersuchung der Retina einer gewaltsam umgekommenen Person das letzte Bild, das auf diese Retina getroffen sei, etwa jenes des Mörders, erkennen könne. Wir wissen nicht, ob hinsichtlich dieser Frage bereits Untersuchungen vorgenommen worden sind, aber in einigen Zeitschriften finden sich die folgenden Berichte:
In San Francisco hat man die jüngst gemachte Entdeckung, daß man auf der Retina des Auges einer gewaltsam umgekommenen Person das letzte Bild, das auf diese im Moment des Todes selbst getroffen sei, widergespiegelt findet, angewendet. Man wollte den Mörder der jungen Frau Smith herausfinden, die von unbekannter Hand umgebracht wurde. So berichtet Das Echo des Pazifik von diesem Experiment:
›Herr Burke, der Polizeichef von San Francisco, hatte die Idee, die Retina von Frau Smith photographieren zu lassen. Herr Bryan und Herr Johnson wurden mit dieser heiklen Aufgabe betraut, die erst um fünf Uhr am späten Nachmittag erledigt werden konnte, d.h., lange nachdem der Tod eingetreten war. Gleichwohl ist das so gewonnene Ergebnis überraschend, vor allem dann, wenn man die Aussage des Zeugen Ryan mit in Betracht zieht. Auf dieser Ambrotypie, die zehnfach vergrößert wurde, erkennt man erst einmal nur ein verworrenes Bild. Aber dann erscheinen bald die Züge einer menschlichen Figur: Hakennase, niedrige Stirn, die Augen nur als Flecken zu erkennen und doch deutlich wahrnehmbar, dichte, schwarze Augenbrauen, die bereits an der Nase ansetzen; der Rest des Angesichts sieht so aus, als sei es bedeckt von einem Schnäuzer und einem buschigen Bart. Das Bild auf der Retina um dieses Angesicht herum zeigt nichts klar Auszumachendes. Der allgemeine Eindruck, der im Gedächtnis bleibt, ist, daß man das bleiche Antlitz eines Mexikaners gesehen hat. Auch wenn dieses Bild etwas undeutlich sein mag, so kommt man nicht umhin, von der Ähnlichkeit, die zwischen ihm und der folgenden Aussage des Zeugen Ed. Ryan, dem Besitzer des Mietstalles, der an das Haus grenzt, in dem Frau Smith wohnte, besteht, überrascht zu sein: ›Seit einer Woche‹, so sagt er aus, trieb sich ein Mexikaner in der Nähe des Hauses des Opfers herum; er kam von der Washington Straße. Es war ein dunkler Mann von hohem Wuchs; er trug einen Schnauzbart. Ich hatte ihn vorher gesehen, als er beim Tunnelbau am Berg Diablo mitarbeitete. Ich habe ihn mehrfach gesehen, namentlich auch am Vortag des Mordes. Er ging vor dem Haus hin und her. Ich habe ihn in keinem Haus in der Nachbarschaft verschwinden sehen. Ich betrachtete ihn mit einem gewissen Mißtrauen, und eines Tages meinte ich, auf ihn achtgeben zu müssen, da ich fürchtete, er würde in meinen Speicher einbrechen. Aber er kam nicht näher.‹
Die Polizei verfolgt ihre Untersuchung mit großem Eifer; sie studiert die kleinsten Details, und die ganze Bevölkerung drückt die Daumen, daß es gelingen möge, den Schuldigen zu verhaften. Doktor Sheldon wird die Sektion des Auges von Frau Smith vornehmen, und die Retina vollständig freilegen. Dann werden weitere photographische Aufnahmen angefertigt, die vielleicht bessere Ergebnisse zeitigen werden. ›Diese Publikation würde es verdienen, mit Hilfe von Tierversuchen überprüft zu werden, selbst wenn dabei nur herauskäme, daß die Annahme nicht zutreffe.‹[1]
Blickt man dem Toten scharf ins Auge, so sieht man nicht in seine Seele, sondern erblickt vermeintlich das, was er zuletzt sah. Das Auge ist kein Spiegelbild der Seele, das Innenleben zählt hier wenig; es kommt vielmehr auf den durch den Schreck des plötzlichen Todes eingefrorenen letzten Blick an, der nichts über den Ermordeten verrät, wohl aber den Täter. Das Feld, das die Optogramme bestellen, ist das des Todes: Auge und Tod gehen dabei eine merkwürdige Allianz ein. Das Auge ist ein verräterisches Organ, das über den Tod hinaus zum Sprechen gebracht werden soll. Okularzentrismus, die kulturelle Fixierung auf das Auge, war kaum je schlagender als hier und erweist sich zugleich als ein photographischer: Die retinalen Bilder sollen, sind sie doch mit einer organischen Kamera aufgenommen, von nachgerade photographischer Objektivität sein. Optogramme sind das piece of evidence, das Evidenz verspricht.
1879, gut zwanzig Jahre nach den ersten Berichten, sind die Optogramme bereits salonfähig. In dem Buch mit dem schönen Titel Lichtbilder nach der Natur des anerkannten Photographen und Wissenschaftlers Hermann Wilhelm Vogel, einem der Pioniere der Photographie im 19. Jahrhundert, findet sich ein mit »Optik im Salon« überschriebener Text, in dem er eine Gesellschaft imaginiert, die von dem Gastgeber mit allerlei optischen Experimenten unterhalten wird. Bereits der Beginn des Textes ist bemerkenswert. »›Mehr Licht‹, sagte Frau X. zu ihrem Diener, als sie kurz vor Anfang einer großen Abendgesellschaft die festlich geschmückten Räume durchschritt, und einen prüfenden Blick auf das, in optischer Hinsicht etwas vernachlässigte, zum Rauchzimmer bestimmte Studierzimmer ihres Gatten warf.« Hier würde, so könnte man fortfahren, selbst das sonnengleiche Auge Goethes, dessen letzte Worte hier am Anfang dieser lehrsamen Plauderei stehen, nicht klar genug sehen. Und gleichwohl geht es um eine Lehrstunde in Sachen optischer Aufklärung, an deren Ende eben die Optogramme stehen – und das just nach einer scharfsinnigen Reflexion über die Sehschwäche William Turners und ihre Folgen für seine Malerei. Bei den letzten Bildern Turners angekommen,...