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»Grüße und Küsse an alle«

Die Geschichte der Familie von Anne Frank

AutorGerti Elias, Mirjam Pressler
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783104013367
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
***Die ganze Geschichte von Aufstieg und Schicksal der Familie Anne Franks über drei Jahrhunderte, erzählt auf der Grundlage tausender unbekannter Briefe und Dokumente*** Sommerfrische hoch über dem Silser See in den Schweizer Bergen: Alljährlich traf sich hier die Familie Frank, die sonst über ganz Europa verstreut war. Noch Anne Franks Ururgroßvater hatte als kleiner Junge in der engen Frankfurter Judengasse leben müssen, doch schon eine Generation später wurde ein Vorfahr Anne Franks zum ersten jüdischen Professor in Deutschland berufen. Ihre Großmutter Alice führte als Bankiersgattin ein weltoffenes Haus in Frankfurt, bis die Familie nach London, Basel und Amsterdam übersiedelte, das dann zum Schicksalsort der Familie werden sollte. Der letzte lebende Verwandte Anne Franks, der sie persönlich kannte, ihr Cousin Buddy Elias, wurde schließlich berühmt als Eiskunstläufer und Schauspieler. Wie durch ein Wunder haben zahllose Briefe, Dokumente und Fotos der Familie Frank auf dem Dachboden des Hauses in der Baseler Herbstgasse überlebt und wurden dort vor einiger Zeit entdeckt - ein Sensationsfund. Die wunderbare Erzählerin Mirjam Pressler hat daraus die so einzigartige wie exemplarische Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Frank zusammengefügt, die sich liest wie ein großer schicksalhafter Familienroman.

Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, besuchte die Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main und lebte als Übersetzerin und Schriftstellerin in der Nähe von München. Sie ist die Übersetzerin des Tagebuchs der Anne Frank, hat eine Biographie Anne Franks veröffentlicht (?Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank?) und mit großem Erfolg insgesamt fast vierzig Bücher publiziert. Mirjam Pressler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, so u.a. 1995 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für ?Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen?, 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille für Verdienste um die deutsche Sprache, 2002 mit dem Deutschen Bücherpreis (Kinderbuch) für ?Malka Mai?, 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis für ihr literarisches Lebenswerk, 2010 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis Sonderpreis Gesamtwerk und 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse sowie dem Internationalen Literaturpreis in der Kategorie Übersetzung. 2019 ist Mirjam Pressler in Landshut verstorben.Literaturpreise:Shortlist Hans Christian-Andersen-Preis 2016

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Leseprobe

Prolog


Sils Maria im Oberengadin, an einem Sommertag im Jahre 1935. Ein schlanker, gut gekleideter Mann verlässt das Hotel Waldhaus, wo er einen Leiter der Firma Pomosin getroffen hat, um ihm von den Fortschritten der Vertretung in Amsterdam zu berichten. Der Mann nimmt den Weg, der mitten durch den Wald führt, und erreicht nach wenigen Minuten raschen Gehens die Villa Laret.

Als er zwischen den Bäumen hervortritt, liegt sie vor ihm, eher ein Schlösschen als eine Villa, inmitten eines parkähnlichen Gartens mit vielen Bäumen. Die Fenster sind so blank geputzt, dass sie in der Sonne blinken.

Villa Laret, Sils Maria

Der Mann geht den breiten, gut geharkten Kiesweg entlang. Er lächelt, als sein Blick auf die Schaukel fällt, die zwischen zwei hohen Bäumen hängt, eine breite Schaukel mit einem Geländer und so groß, dass man bequem einen Tisch und ein paar Stühle daraufstellen könnte. Jetzt springen zwei Kinder auf dem Boden der Schaukel hin und her und bringen sie dadurch zum Schwingen. Die Kinder lachen und kreischen, und unter der Schaukel hüpfen zwei Dackel herum, aufgeregt kläffend, aber sosehr sie sich auch bemühen, sie schaffen es nicht, auf die Schaukel zu springen. Manchmal fällt ein Hund bei seinen vergeblichen Versuchen auf den Rücken und zappelt mit seinen kurzen Beinen, bis er sich wieder umgedreht hat und erneut anfängt, in die Höhe zu hüpfen. Dann biegen sich die Kinder vor Lachen. Der Junge ist etwa zehn Jahre alt, das Mädchen sechs.

»Nicht ganz so laut«, ruft der Mann den Kindern zu.

Die beiden halten inne. »Papa, weißt du, was tante O heute Morgen gesagt hat?«, ruft das Mädchen. Er tritt näher, schüttelt den Kopf. »Gestern hat sie ihre Zofe gefragt, wo ihr Waschlappen sei, natürlich auf Französisch, und dann wollte sie von Tante Leni wissen, wie das Wort auf Deutsch heißt. ›Waschlappen‹, hat Tante Leni gesagt. Und heute Morgen hat sie zu ihrer Zofe gesagt: ›Wo ist mein Waschlapin?‹« Die Kleine kichert. »Verstehst du das, Papa? Sie hat gefragt, wo ihr Waschhase ist. Ist das nicht komisch?«

Er nickt. »Ja, wirklich komisch. Aber ihr solltet nicht so viel Lärm machen, damit ihr die Herrschaften nicht stört.«

Die beiden nicken. Dann fassen sie sich wieder an den Händen und setzen, nur unwesentlich leiser, ihr Spiel fort. Die Kinder sind Buddy Elias und seine Cousine Anne Frank, und der Mann ist Otto Frank, der mit seiner jüngeren Tochter die Ferien in der Villa Laret verbringt.

Auf der Terrasse, an mehreren mit Porzellangeschirr gedeckten Tischen, sitzen etwa ein Dutzend Damen und Herren, die Damen mit breitkrempigen Hüten und Sonnenschirmen. Die Herren, die vermutlich trotz des warmen Wetters nicht wagen, ihre Jacken auszuziehen, tragen sommerliche Strohhüte. Allerdings ist hier, mitten im Wald, die Hitze auch erträglicher als an den baumlosen Hängen.

Neben der breiten Flügeltür zum Salon stehen zwei Hausmädchen mit kleinen weißen Schürzen und ebenso weißen Spitzenhäubchen neben Servierwagen mit Tee- und Kaffeekannen, mit Platten voller Petit Fours und Kuchen, bereit, auf ein Winken hin sofort zu einem Gast zu eilen und ihn zu bedienen.

Otto Frank tritt näher. Als die Dame des Hauses ihn sieht und ihm zuwinkt, zieht er den Hut und verneigt sich.

Die Dame des Hauses ist Olga Spitzer, geborene Wolfsohn, eine französische Cousine von Leni Elias und Otto Frank, die jeden Sommer etliche Wochen in ihrer Villa in Sils Maria verbringt, einem großen Haus mit neunzehn Zimmern, und immer lädt sie sich Gäste ein. Meist gehören Leni und ihre Mutter Alice Frank dazu, denn die familiären Beziehungen sind sehr eng. In diesem Jahr ist auch Otto aus Amsterdam gekommen, mit seiner Tochter Anne, aber ohne seine Frau Edith, die mit der älteren Tochter Margot zu ihrer Mutter nach Aachen gefahren ist.

Olga Spitzer reicht ihrem Cousin Otto die Hand, er beugt sich darüber. Dann begrüßt er seine Mutter Alice und seine Schwester Leni mit zärtlichen Küssen auf die Wange, bevor er sich zu ihnen an den Tisch setzt.

»War es ein gutes Gespräch?«, erkundigt sich Leni. Natürlich auf Französisch, denn es wäre unhöflich, Deutsch zu sprechen, eine Sprache, von der Olga Spitzer kaum ein paar Worte versteht.

Otto Frank nickt. »Ja, sehr gut. Wenn Menschen in den Ferien sind, lässt es sich viel leichter mit ihnen verhandeln, er hat sich auf all meine Vorschläge eingelassen.«

Die Kinder sind inzwischen neugierig näher gekommen, aber das Gespräch der Erwachsenen interessiert sie nicht. Sie schnappen sich jedes ein Törtchen.

»Was wollen wir machen?«, fragt Buddy kauend.

»Ich weiß was«, sagt Anne und zieht ihren Cousin hinter sich her ins Haus, durch den Salon und die Halle, die breite Treppe hinauf und ins Zimmer ihrer Großmutter Alice. »Du hast es versprochen«, sagt sie und deutet auf den Kleiderschrank, und als Buddy heftig den Kopf schüttelt, wiederholt sie. »Du hast gesagt, dass du dich traust.«

Buddy zuckt mit den Schultern. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich zu wehren. Wenn Anne sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich so leicht nicht davon abbringen. Und schließlich hat er die Wette verloren, sie hat sich tatsächlich getraut, auf den Baum zu klettern und ein Vogelei aus dem Nest zu holen, und dabei hat sie noch aufgepasst, dass es in ihrer Rocktasche nicht zerbrach. Dann ist sie trotz seiner Warnung noch einmal hinaufgeklettert und hat das Ei zurückgelegt.

»Los«, sagt Anne, setzt sich in den Sessel und zieht die Beine unter sich.

Buddy wischt sich die klebrigen Hände an der Hose ab, macht zögernd den Schrank auf und nimmt ein schwarzes Kleid heraus. Seine Großmutter Alice trägt immer nur dunkle Kleider, dieses hat einen weißen Spitzeneinsatz. Er zieht es über sein Hemd und seine Hose, nimmt einen Schal, den er sich fest um die Taille wickelt, und stopft dann zwei kleine Sofakissen in den Spitzenausschnitt. Anne kichert anerkennend. Er betrachtet sich in dem großen Spiegel neben dem Schrank. Das Spiel fängt an, ihm Spaß zu machen.

Er nimmt einen Hut mit einem Blumenbouquet aus einer Hutschachtel, setzt ihn auf, zupft vor dem Spiegel an dem Schleier herum, bis er ihm keck über einem Auge hängt. Die Schuhe mit den hohen Absätzen sind zu groß, er stopft sie vorn mit Taschentüchern aus, dann stolziert er vor der vergnügten Anne herum, die so laut lacht, dass sie ein Zimmermädchen herbeilockt. Das Mädchen, selbst noch sehr jung, klatscht Beifall. Buddy, begeistert von der Wirkung, die er erzielt, lässt sich zu immer weiteren Gesten hinreißen, er schiebt vornehm die Lippen vor, spreizt den kleinen Finger ab und führt eine imaginäre Tasse an den Mund, wischt sich mit einer ebenfalls imaginären Serviette den gespitzten Mund ab. Dann reicht er Anne die Hand, genauso elegant, wie Olga Spitzer sie vorhin Otto Frank gereicht hat, und Anne drückt einen schmatzenden Kuss darauf.

»Los, geh runter, zeig’s den anderen«, verlangt sie, aber das ist Buddy zu viel, das wagt er nicht, nicht hier in diesem vornehmen Haus. Daheim in Basel hätte er es sofort getan. Er zieht sich wieder aus und das Zimmermädchen legt die Sachen ordentlich in den Schrank zurück. Die Taschentücher, die er sich in die Schuhe gestopft hat, nimmt sie mit, um sie zu waschen und zu bügeln.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Buddy.

»Verstecken spielen«, schlägt Anne vor, obwohl das zu zweit ein bisschen langweilig ist. Aber sie haben sich andere Regeln ausgedacht, der Sucher muss länger warten, und wenn er den Versteckten nicht findet, hat er verloren und muss eine Strafe bezahlen, zum Beispiel dem Gewinner seinen Nachtisch abgeben.

Sie rennen durch den Garten zum Wald. »Du bist dran«, sagt Anne. »Ich hab gestern gesucht.«

Buddy nickt. Er kauert sich unter einen Baum und versteckt den Kopf in den Armen.

Anne läuft nicht weit, sie weiß schon, wo sie sich verstecken will, sie hat bei dem Spiel gestern in einer Böschung eine Höhle entdeckt, vielleicht eine verlassene Fuchshöhle. Sie reißt ein paar Zweige ab, kriecht in die Öffnung und zieht die Zweige davor. Bald hört sie Buddy rufen. Mehrmals läuft er an ihr vorbei, aber natürlich sieht er sie nicht. Sie hat ja gewusst, dass dieses Versteck großartig ist. Hoffentlich ist es wirklich eine verlassene Höhle, hoffentlich kommt jetzt kein Fuchs und beißt sie in den Po. Oder ist es gar keine Fuchshöhle, sondern die eines Hasen? Eines lapin? Sie unterdrückt ein Lachen, als sie sich daran erinnert, was tante O gesagt hat. Hasen beißen nicht, sie hat jedenfalls noch nie gehört, dass jemand von einem Hasen gebissen wurde, aber Füchse haben spitze Schnauzen und spitze Zähne.

Anne Frank 1935 in Sils Maria

Buddy ist inzwischen schon ganz nervös. Natürlich findet er Anne nicht, sie hat ein Talent, sich zu verstecken. Aber langsam könnte sie herauskommen. »Ich gebe auf«, ruft er laut. »Anne, komm raus!« Sie kommt nicht, er ruft immer lauter, rennt immer schneller. Wenn sie sich verlaufen hat? Wenn ein fremder Mann sie mitgenommen hat? Wie soll er dann seiner Mutter, seiner Großmutter und Onkel Otto erklären, dass er nicht schuld daran ist? Er hört seine Mutter schon sagen: Aber Buddy, du bist doch viel älter als sie, du müsstest doch auch vernünftiger sein.

Er ist verzweifelt und den Tränen nahe, als sie plötzlich hinter ihm auftaucht. »Ich will den Nachtisch, wenn es Eiscreme gibt«, sagt sie.

Buddy würde sie am liebsten verhauen. Oder küssen, weil er so erleichtert ist. Aber er sagt nur: »Wie siehst du denn aus, du bist ja ganz dreckig.«

Das stimmt. Annes helles Sommerkleid ist mit Erde verschmiert, sie versucht, den...

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