Das unsterbliche Kind
Über Kinder, kleine Kinder, hat der Tod keine Macht. Ihre Welt ist ganz und gar heil, selbst wenn ein großes Unglück sie trifft: Puppe vergessen, Mutter verschwunden, winterkaltes Händchen, Himbeereis in den Sand gefallen. Solche Tränensturzbäche bringen wir, die Erwachsenen, die Wissenden, kaum noch zustande. Das Unwissen um die Welt, um den Tod hüllt das Kind ein wie ein warmer Mantel, es ist umsponnen von Scherben, Bruchstücken, Splittern, die ihm alles, die ihm ein Kosmos sind, weil sich alles fügt und verbindet. Wo wir nur Trümmer sehen, abgerissene Fäden, sieht das Kind noch ein Ganzes. Das Kind braucht keinen Himmel, weil es ihn in sich trägt. In seiner Hand, seiner Jackentasche oder der Falte seines Pullovers. Kinder können die Zeit verzaubern, weil sie die Uhr noch nicht lesen können. Die Zeit beißt sich an ihnen die Zähne aus. Wo aber beginnen Kinder zu sterben? Wo gewinnt der Tod seine Macht über sie?
Hat die Geschichte ohne mein Wissen angefangen? Schon mein Vorname trägt einen Tod in sich. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, waren meine Eltern Zugezogene. Sie waren Flüchtlinge aus der Deutschen Demokratischen Republik, die in der Bundesrepublik Deutschland niemanden kannten und keine Verwandten besaßen. Sie freundeten sich deshalb mit einer Familie an, die ebenfalls fremd und zugezogen war. Das Ehepaar Karl hatte drei Söhne und eine Tochter. Herr Karl war Kfz-Meister, betrieb eine kleine Tankstelle und eine Autowerkstatt. Ich erinnere ihn als großen, immer freundlichen Mann mit ölverschmierten Händen, der stets nach Benzin roch, viel rauchte, graublaue Overalls trug und Kinder sehr mochte. Ihr jüngster Sohn hieß Torsten. Meinen Eltern gefiel der nordische Name so gut, dass sie die Nachbarn fragten, ob sie etwas dagegen hätten, wenn auch ich auf diesen Namen getauft würde. Karls waren einverstanden, freuten sich. Nur der katholische Pfarrer, der mich taufen sollte, freute sich nicht. Er weigerte sich, diesen ganz und gar heidnischen und unchristlichen Namen ins Taufregister einzutragen. Nur unter Protest fand er sich schließlich dazu bereit und kündigte zugleich an, er werde mir bei der Taufe eigenmächtig einen christlichen, einen statthaften Namen verleihen, ihn sozusagen in die Luft sprechen, einen ordentlichen Namen, der mich begleiten sollte.
In der Nacht, in der bei meiner Mutter die Wehen einsetzten, war Hilfe vonnöten. Die nächste größere Stadt war vierzig Kilometer entfernt, und meine Eltern besaßen kein Auto. Der erste Nachbar, bei dem meine Eltern anklopften, öffnete nicht, wie verabredet, die Tür. Deshalb klingelte mein Vater bei Karls, wo ihm sofort aufgemacht wurde. Herr Karl unterhielt zugleich einen Abschleppdienst, weshalb er spätnachts oft zu Unfällen gerufen wurde. Und so fuhr er meine Eltern nach Oldenburg, wo ich geboren wurde.
Kaum zwei Monate darauf passierte etwas Furchtbares. Torsten, mein Namenspatron, wachte morgens auf und hatte plötzlich schneeweiße Beine, die über und über mit roten Punkten bedeckt waren, so als ob ihn jemand mit einer heißen Nadel gestochen hätte. Seine Mutter suchte mit ihm, ihrem zweijährigen Jungen, sofort den Hausarzt auf und erhielt noch am selben Tag die niederschmetternde Diagnose, dass ihr Sohn an Leukämie erkrankt sei. Es gab keine Rettung. Während ich heranwuchs, starb der ältere Torsten in nächster Nähe. Ich habe kein verlässliches Bild von ihm, denn als er starb, war ich kaum zwei Jahre alt, aber das häufige Reden über ihn, das familiäre Erinnern an ihn, macht ihn mir zu einer präsenten Kindheitsfigur, zu einer Schattengestalt, die ich gleichsam im Augenwinkel erinnere. Ich kann kein Bild von ihm haben und habe doch eines. Eines, das sich entzieht, sobald man anfängt, es zu beschreiben.
Torsten starb im Alter von vier Jahren. Am Tag seines Todes informierte die behandelnde Ärztin die Eltern und gab ihnen zu verstehen, dass es mit ihrem Sohn »zu Ende« ginge. Frau Karl rief daraufhin ihre Eltern in Hamburg an, die sich sofort auf den Weg machten, um sich von ihrem Enkelkind zu verabschieden. Wusste der Junge, dass der Wunsch nach einem Eis sein letzter Wunsch sein sollte? Schließlich saßen alle an seinem Bett, die Eltern und die Großeltern, und sahen ihn an. Der schlafende Junge wachte noch einmal auf, hob das bleiche Köpfchen, blickte in die Runde, lächelte und schloss die Augen.
In meiner eigenen Familie erlebte ich als Kind zunächst keinen Trauerfall. Die erste Trauer galt Tieren. Die Kaninchen, die geschlachtet wurden. Die zum Ausbluten aufgehängt wurden. Am Tag zuvor hatte ich sie noch mit Gras und Mohrrüben gefüttert, und jetzt hingen die felllosen, unheimlich roten Körper im Schuppen. Ein Nachbar, geübt in solchen Dingen, hatte ihnen mit einem Knüppel das Genick gebrochen. »Geh da nicht hin! Schau dir das nicht an!«
Dann eine Maus! Eine Spitzmaus, die ich im Wald jagte, unter Kiefern und Tannen. Ich sehe noch den Nadelteppich, der unter den Bäumen liegt. Ich falle, stürze und erdrücke das Tierchen unabsichtlich mit dem Knie. Die reglose Maus. Ich stupse sie vorsichtig mit einem Ast an. Rührt sich nicht mehr … Bekommt ein Grab unter den Bäumen und wird nicht vergessen, ein Leben lang!
Dann der erste Mord. Stichlinge werden aus einem trüben Graben gefangen. Die kleinen stacheligen Fische werden mit dem Marmeladenglas oder dem Kescher herausgeholt, dann viviseziert, mit dem Stöckchen, dem Fuß, dem Glas, einer Scherbe. Wie die zappeln, immer noch leben, bis sie ganz und gar zerstückelt und ohne Leben sind. Kriegen auch kein Grab, bleiben liegen auf dem Asphalt und sind schon am nächsten Tag kaum noch zu finden. Man merkt schon – auch als Kind – hier geht alles durcheinander. Entdeckerfreuden gepaart mit der Lust am Quälen, Gewissensbisse und Empathie, Trauer und das Gefühl, etwas ganz Besonderes getan zu haben, etwas, was man nicht tun soll und deshalb geheim halten muss. Kann man aber doch stolz drauf sein, denn man hat das Kind, das man ist, verändert, auch wenn man noch nicht weiß, wie und wohin. Etwas kommt in Gang.
»Meinst du, die Fische merken was?«
»Klar, die haben doch Augen, aber Regenwürmer nich’.«
»Und wo ist das Herz?«
»Muss da auch irgendwo sein!«
»Ich finde es nicht!«
Der Tod von Tieren ist häufig der erste Anlass für Kinder, nach dem Tod zu fragen. Wohin gehen sie? Sind sie jetzt woanders? Kommen sie nicht mehr wieder? Erwachsene, die stets glauben, dass Kinder Trost nötig haben, wenn sie dem Tod begegnen, erfinden dann Katzen-, Hunde- oder Spatzenhimmel und wollen keinesfalls den Gedanken zulassen, dass es einen totalen Abschied, ein totales Ende, eine völlige Auflösung und spurlose Auslöschung geben könne. Eltern überführen die Tierseele in halbdurchlässige Sphären, die für die Kinder nicht zugänglich sind, die aber von den Tieren verlassen werden können, damit diese Zeugen unseres Weiterlebens werden können oder wie Schutzengel das Kind begleiten. Wer tröstet da eigentlich wen? Erfinden wir, die Erwachsenen, diese narkotisierenden Geschichten nicht für uns selbst? Für manchen Erwachsenen ist der Tierhimmel der letzte Himmel, den er bauen mag, den er sich selbst als Himmelsbaumeister zutraut. Ich baue mir keine Himmel und pflege auch keinen intimen Umgang mit Gott, ich lasse ihn aber vor den Augen meiner Kinder als mythische Macht unangetastet und erwecke ihn von Zeit zu Zeit aus kulturellen Überlegungen zum Leben. Sollen sie ihn doch selbst zertrümmern, wenn sie irgendwann einmal die Lust dazu haben. Umso mehr überraschen mich bisweilen ihre engagierten Dialoge, in denen Gott unvermittelt und quicklebendig auftaucht. Der folgende Wortwechsel entspann sich kürzlich zwischen meinem Sohn (sechs Jahre) und meiner ältesten Tochter (vier Jahre) aus heiterem Himmel. Meine Frau und ich hatten zuvor über den Tod eines entfernten Bekannten gesprochen.
Meine Tochter (verwundert): »Erst wird man geboren, dann wartet man, und dann ist man tot. Gott ist ein bisschen der Beste.«
Er (mit Nachdruck): »Jesus ist der Beste!«
Sie: »Weil Jesus kann nach dem Sterben wieder aufstehen.«
Er (belehrend): »Gott kann sowieso nicht sterben!«
Sie (triumphierend): »So wie Pippi Langstrumpf, die kann auch nicht sterben, weil sie die Stärkste ist.«
Er (herablassend): »Aber die gibt es ja gar nicht, deswegen kann sie auch nicht sterben!«
Sie (schlussfolgernd): »Doch die gibt’s, sonst müssten Herr Nilson und Kleiner Onkel doch verhungern.«
Wenn ich diese Dialoge höre, weiß ich, dass das Kind, das ich war, auch über den Tod nachdenken und sprechen konnte, ohne in seine unmittelbare Nähe geraten zu sein, ohne Angst zu haben, den Tod in mein Leben einzuladen, nur weil ich ihn beim Namen genannt oder verspottet hatte. Kinder haben keine angeborene Scheu vor dem Tod, die wird ihnen erst durch uns anerzogen und nahegebracht. Die Verleugnung des Todes halten wir für ein Zeichen von Vitalität, und fast abergläubisch versuchen wir, dieses Thema von unseren Kindern fernzuhalten, als könnten allein die Symbole, Metaphern, die ganze Nomenklatur des Todes unsere Kinder und uns selbst wie eine ansteckende Krankheit befallen.
Die Woche nach dem Tod meiner Großmutter war sehr schön. So schön, dass ich diese Tage bis heute als angenehme, als glückliche Zeit erinnere. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in Leipzig; nach der Flucht meiner Eltern 1960 wurde mein Großvater verhaftet, weil man ihn verdächtigte, ein Mitwisser gewesen zu sein und den Republikflüchtlingen geholfen zu haben. Daraufhin konnten meine Eltern einige Jahre nicht in die DDR einreisen, dennoch brach der Kontakt zu den Großeltern nie ab. Mit dem...