EINFÜHRUNG
Eine Biografie Joseph Ratzingers – Benedikts XVI. – muss unweigerlich bei einem historisch-geografischen Umstand ansetzen: Er wurde 1927 in Deutschland geboren, in der unglückseligen Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, der eine Spur des Schreckens nach sich zog. Wie viele deutsche Katholiken seiner Zeit lehnte er jede Art von Gewalt ab, musste aber auch einen Weg finden, die gefährliche Welle der Barbarei zu überstehen, die sich von Deutschland aus über ganz Europa ergoss.
In den Kriegswirren fand der junge Joseph Ratzinger Zuflucht bei zwei Denkern – Augustinus und Bonaventura –, die das Phänomen der Zeit in den Blick genommen hatten. Der Kirchenvater aus Afrika stellte die Liebe Gottes an den Anfang der Geschichte und beschrieb die von Jesus verkündete göttliche Gnade als Geschenk an die Schwäche des Menschen. Bonaventura, einst als »Magister« der Universität von Paris anerkannt, versäumte es dann später als Generalminister der Franziskaner nicht, im Kielwasser der von Franz von Assisi herbeigeführten epochalen Wende die Kontinuität in der Offenbarung Gottes herauszustellen, die in Jesus Christus gipfelte und in der Zeit lebendig und wirksam bleibt – trotz der Schwäche und Verderbtheit der Institutionen. Denn ganz ohne diese auszukommen, ist trotz der millenaristischen Hoffnungen des Joachim von Fiore und der Nacheiferer, die dieser in jeder Epoche gefunden hat, unmöglich. Dank der Gnade und der Sakramente ist das von Jesus verkündete Reich Gottes zwar nah, doch es liegt nicht in der Macht des Menschen, dieses Reich zu erreichen oder sein Kommen zu beschleunigen. Gestützt vom Denken dieser beiden Kirchenlehrer, aber auch von zwei Theologen seiner Zeit – Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar – war Ratzinger beim Zweiten Vatikanischen Konzil ein überzeugter Gegner der naturalistischen Sicht der Scholastik, die in den Kongregationen und an den Päpstlichen Universitäten Roms noch immer vorherrschte. Ein paar Jahre später jedoch distanzierte er sich nicht weniger entschlossen auch von Karl Rahner, Hans Küng, den Befreiungstheologen und anderen, die – wie er meinte – durch ihr allzu starkes Beharren auf der Neuheit Gefahr liefen, mit der Tradition zu brechen. Einer Tradition, die für Ratzinger wie ein lebendiger Fluss ist, der uns wieder zu den apostolischen Ursprüngen, ja zu Jesus selbst zurückführt.
In München lernte der Kardinal die Katholische Integrierte Gemeinde kennen, eine kleine christliche Bewegung, die sich von den Schrecken der Nazizeit veranlasst sah, sich wieder auf das ewige Israel und auf die Dankesschuld zu besinnen, die die Christen dem Volk der Verheißung gegenüber haben. Von diesem Ansatz ausgehend, hat er seinen Gedanken von der Vielfalt der Religionen und dem einen Bund ausgearbeitet, den Gott durch die Söhne Abrahams mit der Menschheit geschlossen hat. Hier nimmt auch sein Offenbarungsdenken Gestalt an, das beim Bund am Sinai seinen Ausgang nimmt und in Jesus Erfüllung findet mit dem Neuen Gesetz, das auf dem Berg der Seligpreisungen verkündet wird.
Als Präfekt des ehemaligen Heiligen Offiziums hat Ratzinger versucht, das Werk Johannes Pauls II. voranzutreiben, indem er den verheerenden Konsequenzen des Nationalsozialismus und des Krieges endlich ein Ende setzte und Europa nicht nur aufrief, sich wieder auf seine christlichen Wurzeln zu besinnen, sondern auch auf die Liebe und auf die Schönheit, die fähig ist, Länder und Städte, Lebensräume und Landschaften zu verändern und ihnen Formen der Gastfreundschaft zu geben.
Als Papst war Benedikt – wie auch schon während seiner Münchener Zeit – der Meinung, dass seine Aufgabe nicht darin bestünde, althergebrachte Institutionen zu reformieren. Er lud die Kirche lieber weitblickend zum Glauben und zur Metanoia ein, zur Umkehr der Herzen, die die Skandale um sexuellen und wirtschaftlichen Missbrauch erforderlich gemacht hatten.
Er hat die Menschen daran erinnert, dass der Zweifel nicht nur zu den Christen gehört, die für ihren Glauben Rede und Antwort stehen müssen, sondern auch zu denen, die die Schöpfung mit wohlwollenden Augen betrachten und jenen, die die Welt mit Verantwortung regieren. Seit Platon in der Geisteswelt Einzug gehalten hat, hat der Mensch, der redlich und gewissenhaft und mit der Vernunft, die ihn von den anderen Geschöpfen unterscheidet, nach Antworten sucht, eine reelle Möglichkeit. Das Erbe Ratzingers besteht in der tapferen Verteidigung der Wahrheit – ein wertvolles Gut für die gesamte Menschheit – in der Enzyklika über die Liebe, die alle Menschen anspricht, die auf der Suche sind nach einem Sinn und einem möglichen Zusammenleben in Brüderlichkeit.
Ein schweres Erbe seines Pontifikats ist auch der Verzicht auf das Petrusamt. Nachdem er Europa gemeinsam mit seinem verehrten Vorgänger auf seine Ursprünge und seine Zentralität verwiesen hat, hat er die Öffnung der Kirche für neue Grenzen der Geografie und des Geistes eingeleitet und sie in jenes Dritte Jahrtausend geführt, von dem Johannes Paul II. so oft gesprochen hat.
Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um zum Seligsprechungsprozess Joseph Ratzingers beizutragen. Meiner Meinung nach täte die Kirche besser daran, auf Selig- und Heiligsprechungen von Päpsten zu verzichten. Wie Hans Urs von Balthasar gesagt hat, läuft sie damit nur Gefahr, sich selbst und ihre Geschichte heiligzusprechen. Das Leben der Päpste spielt sich ohnehin vor den Augen der ganzen Welt ab. Das Urteil über ihr Werk sollte man also lieber der freien Forschung der Wissenschaftler überlassen. Auch das könnte ein Zeichen der Öffnung sein, die Benedikts Nachfolger so sehr am Herzen liegt.
Ich dagegen wollte nur von einem aufrichtigen Mann erzählen; einem Mann, der Bayern und Bücher liebt und der den Lehrstuhl des Professors nur schweren Herzens gegen den Bischofsstuhl eingetauscht hat. Und mit dieser Haltung machte er sich auch auf den Weg nach Rom, die verhaltene Freude des Sämanns empfindend, der den Samen des Wortes ausstreut in der Hoffnung, dass er in vielen aufkeimen möge. Die Annahme der Wahl zum Nachfolger Johannes Pauls II. war ein neuerlicher Akt des Gehorsams seinen Mitbrüdern im Bischofsamt gegenüber. In einem berühmten Essay hatte er von der »martyrologischen Struktur des petrinischen Primats« gesprochen. In der etwas umständlichen Sprache der Theologen wollte er damit sagen, dass man als Papst genauso viel Geduld und Leidensresistenz braucht wie ein Märtyrer: Er hätte wohl nie geglaubt, dass er das einmal am eigenen Leib erfahren würde!
Aber er hat auch auf dem Stuhl Petri gezeigt, dass er ein überzeugter, geradliniger Mensch und Christ ist. Das Defizit in der Regierung, das ihm angelastet wurde, war begleitet von einer Einladung zur Reform und zur Nachfolge Christi, die mehr Gehör verdient hätte, als man ihr geschenkt hat. Die Entschlossenheit, mit der er Skandale anging, zu denen man viel zu lange geschwiegen hatte, wurde nicht von jenen unterstützt, die sich nur allzu schnell davon distanzierten. Und im politischen Bereich wurde das Programm eines neuen Humanismus für das Dritte Jahrtausend von dem Europa, das dem deutschen Papst am Herzen lag und ihm so viel Sorge bereitete, mit Skepsis betrachtet.
Ein Urteil über das Pontifikat Joseph Ratzingers muss unweigerlich auch seinem Rücktritt Rechnung tragen – einem Rücktritt, der die Frucht reiflicher Überlegung war und sofort nach dem Ende des Jahrs des Glaubens angekündigt wurde. Es war weder ein Akt des Aufbegehrens noch ein schmerzloser Schritt. Es war vielmehr eine prophetische Geste, die in der Gegenwart Gottes und mit seiner Hilfe vollzogen worden war. Nur so lässt sich der nachfolgende Friede, die Gelassenheit dessen erklären, der weiß, dass er eine Entscheidung getroffen hat, die zwar leidvoll, aber richtig war. Noch viel bedeutungsvoller aber ist es zu sehen, wie sich Joseph Ratzinger als emeritierter Papst verhält. Der Gehorsam Papst Franziskus gegenüber und die Nähe zu ihm, vor allem in delikaten Momenten, nehmen jedem den Wind aus den Segeln, der versucht, Zwietracht zu säen. Diese Momente zeigen nämlich das Bild eines Mannes, der zwar lange selbst das Steuer der Macht in der Hand hatte, die Tugend des Gehorsams aber nicht verlernt hat.
In den letzten Jahren hat sich Papst Benedikt an den heiligen Benedikt angenähert, den Vater des monastischen Humanismus, der das kontemplative Gebet mit einer stillen und harmonischen Arbeitsamkeit vereinte. In seinem Buch Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen erinnert er an den Tod des heiligen Benedikt, der sich, wie der heilige Gregor meint, an einem erhöhten Ort ereignet haben muss: »Er kann das Ganze sehen, weil er aus der Höhe sieht, und die kann er finden, weil er innerlich weit geworden ist (…). Und dann kann das Licht Gottes ihn anrühren, er kann ihn erkennen und von ihm her den wahren Über-Blick gewinnen.«1
Auch das Kloster Mater Ecclesiae, wo Papst Benedikt seinen Lebensabend verbringt, liegt an einer erhöhten Stelle. Hier hat er, genauso wie sein treuer Wegbegleiter Augustinus, Frieden gefunden in Gott, und von hier aus bleibt er in Gemeinschaft mit seinem Nachfolger und mit der gesamten Kirche. Auch die Menschheit sieht er von hier mit heitereren Augen, mit der Liebe Jesu, dem barmherzigen Samariter, der alle Wunden mit der Barmherzigkeit heilt, die dem Nachfolger Benedikts so sehr am Herzen liegt. Allen hinterlässt er den Samen, den er mit so viel Geduld gesät hat: der Kirche hinterlässt er den Aufruf zu einer neuen, konsequenteren Nachfolge Jesu; die Religionen und Staaten ermahnt er zur...