2. Migration als politisches und soziales Phänomen
Migration ist eine der stärksten Kräfte sozialen Wandelns. Sie hat einen wirksamen Einfluss auf soziale, demographische und ökonomische Transformationsprozesse. Durch Migration werden politische Grenzen übertreten, die Arbeitskräfte in unterschiedlichen Regionen und Staaten neu zusammengesetzt, das Gesicht der Städte nachhaltig und unumkehrbar verändert. Außerdem stellt Migration eine Triebkraft von kultureller und ökonomischer Entwicklung dar. Menschen, die in einem Land ihre neue Heimat gefunden haben, bringen Wissen, Erfahrungen und Kultur mit und bereichern damit ihre Aufnahmeland. Düvell beschreibt Migration nicht als isoliertes soziales Phänomen, sondern als einen integralen Bestandteil der Entwicklung der Menschheit (vgl. Düvell, S.164).
Die Migrationsbewegungen spielten schon immer eine bedeutende Rolle für die Bundesrepublik Deutschland.
2.1 Migration in der Bundesrepublik Deutschland: ein Blick in die Geschichte der deutschen Nachkriegszeit
Zurzeit leben in Deutschland laut einer Statistik des Bundesamtes vom 31.12.2008 7.246.558 Ausländer, das sind 8,8% der Gesamtbevölkerung. Schon seit Jahrhunderten zeichnete sich das deutsche Territorium durch Menschenwanderungen aus. Die heutige Migrationsrealität in Deutschland ist weitgehend durch die Migrationsvorgänge geprägt, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingetreten sind. Sie sind komplex und facettenreich. Die wichtigsten Migrantengruppen in Deutschland sind:
ausländische Arbeitnehmer, vor allem aus südeuropäischen Ländern,
Aussiedler
Flüchtlinge/Asylbewerber.
2.1.1 Ausländische Arbeitskräfte
"Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen."
Max Frisch
Eine der zentralen Bestimmungsfaktoren der heutigen Migrationsrealität stellt die Anwerbung der Arbeitskräfte aus den südeuropäischen Ländern in der wirtschaftlichen Aufbau- und Wachstumsphase unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Am 20. Dezember 1955 schloss die Bundesrepublik mit Italien ein erstes Anwerbeabkommen zur Rekrutierung von Arbeitskräften ab. Weitere solcher Abkommen folgten unter anderem mit Spanien (1960), Griechenland (1960), Türkei (1961) und Jugoslawien (1968) (vgl. Han, S. 23).
Die Gründe für die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in Westdeutschland waren:
anhaltender Boom der deutschen Exportwirtschaft;
die Anzahl der offenen Stellen 1960 war höher als die Zahl der Arbeitslosen;
Bildungsexpansion und verlängerte Bildungszeiten;
sinkendes Rentenalter;
Babyboom und verringerte Erwerbsbeteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Münz u.a. S. 44).
Gesucht und ins Land geholt wurden Personen, für die es auch Arbeit gab, überwiegend schlecht bezahlte und unattraktive Arbeit, für die sich deutsche Bürger nicht interessierten. Die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse für die ausländischen Arbeitnehmer wurden zunächst nur für ein Jahr ausgestellt. Nach einem Jahr mussten die Arbeiter das Land verlassen, als Ersatz kamen immer wieder neue ausländische Arbeitssuchende nach Deutschland. In den ersten Jahren der Gastarbeitermigration wurde das Rotationsmodell von der deutschen Wirtschaft und Öffentlichkeit und auch von den Gastarbeitern und ihren Herkunftsländern akzeptiert. In dieser Zeit kamen bis zum Anwerbestopp 1973 insgesamt 2,6 Mio. Erwerbstätige nach Deutschland. Die größten Gruppen unter den Beschäftigten waren zum damaligen Zeitpunkt 605.000 Türken, 535.000 Jugoslawen, gefolgt von 450.000 Italienern, 250.000 Griechen und 190.000 Spaniern (vgl. Länderprofil S. 2).
Die ersten Gastarbeiter wurden in Deutschland herzlich empfangen, weil in der Öffentlichkeit diese Anwerbemaßnahme als kurzzeitige Deckung des Spitzenbedarfs dargestellt wurde. So hatte die Frankfurter Allgemeine 1959 den wesentlichen Vorteil der Ausländerbeschäftigung darin gesehen, dass „bei eventueller Arbeitslosigkeit in Deutschland die ausländischen Arbeitnehmer wieder zurückgeschickt werden können“ (vgl. Mukazhanov, S. 32). 1964 wurde der millionste Gastarbeiter – Armando Rodriguez aus Portugal - feierlich vom damaligen Bundesinnenminister begrüßt. Er bekam zur Begrüßung ein Moped geschenkt. Die meisten Gastarbeiter kamen aus konservativen ländlichen Gebieten, viele unter ihnen waren Analphabeten. Die Verständigung am Arbeitsplatz war vielenorts zunächst nur nonverbal möglich. Die Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitnehmer in Deutschland waren sehr bescheiden. Sie wurden in Holzbaracken oder in firmeneigenen Wohnheimen untergebracht.
Ab den späten 60-er Jahren verlor die Rotationsmodell an Akzeptanz. Viele Gastarbeiter konnten nicht innerhalb von ein oder zwei Jahren ihre selbstgesetzten Sparziele erreichen. Auch die Arbeitgeber wollten nicht ständig neue Arbeitskräfte anstellen und einschulen, nur weil bei den anderen die Aufenthaltserlaubnis abgelaufen war. Kritik wurde damals auch von den Regierungen einiger Herkunftsländer und den deutschen Gewerkschaften formuliert. Daraufhin reagierte die Bundesregierung 1971 mit einer Erleichterung der Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen. Damit begann für viele ausländische Arbeitnehmer die Verfestigung ihres Status in der Bundesrepublik. In der Folge kam es in stärkerem Maße zum Nachzug von Familienangehörigen (vgl. Münz u.a. S. 48).
Als Auswirkung der„Ölpreiskrise“ verkündete die Bundesregierung am 21. November 1973 die Beendigung der Anwerbung von Gastarbeitern (Anwerbestopp).
Der Anwerbestopp senkte aber nur kurzfristig die Ausländerzahlen. Die ausländischen Arbeitnehmer, die nicht getrennt mit ihren Familien leben wollten, entschlossen sich vermehrt zum Daueraufenthalt in Deutschland und zogen ihre Familien nach. Der genaue Anteil der Familienzusammenführungen an der gesamten Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland ist nicht bekannt. Schätzungsweise hat der Nachzug von Familienangehörigen in den 70-er und 80-er Jahren mehr als die Hälfte der Zuwanderung von Ausländern ausgemacht (vgl. Münz u.a. S. 76). Die Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in Bundesrepublik Deutschland ist in der Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1. Entwicklung der Ausländerbeschäftigung 1954 – 2003
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit/Statistik
Ähnlich wie die Bundesrepublik handelte auch die DDR. Wegen des chronischen Arbeitskräftemangels in den 60-er Jahren engagierte sie die Vertragsarbeiter aus sozialistischen Ländern Mitteleuropas, später auch aus Kuba, Mosambik und Vietnam. Dabei hielt die DDR-Regierung konsequent am Rotationsprinzip fest. Fast alle Migranten mussten nach Ablauf der vereinbarten Frist in ihre Heimatländer zurückkehren. Für die DDR spielte die Ausländerbeschäftigung nicht eine so wichtige Rolle wie für die Bundesrepublik (vgl. Münz u.a. S. 47).
Da es sich in der Bundesrepublik in den 50er Jahren um eine rein ökonomische und zeitlich limitierte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte handelte, dachte niemand an Integration. Es wurden auch in den Jahren danach keine Integrationsmaßnahmen vorgesehen für Menschen, die in Bundesrepublik bleiben wollten. Erst nach Jahrzehnten kamen Politiker und andere Gruppen in der Gesellschaft zu der Erkenntnis, dass gezielte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um deren Eingliederung in die deutsche Gesellschaft zu unterstützen. Fakt war, dass in Familien von Arbeitsmigranten, die bereits mehrere Jahre in Deutschland lebten, kein Wort Deutsch gesprochen wurde und dass Migrantenkinder ohne jegliche Sprachkenntnisse in die Grundschule kamen. Viele Familien lebten und leben immer noch in „Paralellgesellschaften“.
Eine der wichtigsten Ursachen dafür war eine regionale Konzentration der ausländischen Bevölkerung. Schon mit der Anwerbung gingen die ausländischen Arbeitnehmer in die Regionen mit dem größten Beschäftigungsbedarf. So wurden zum Beispiel italienische Gastarbeiter verstärkt nach Baden-Württemberg, türkische Gastarbeiter hingegen in großer Zahl ins Ruhrgebiet und nach Westberlin angeworben. Die ausländischen Arbeitsmigranten unterschiedlicher Nationalitäten zogen es vor, unter sich zu bleiben. Auch die Arbeitgeber haben Arbeiter vorwiegend gleicher Nationalität eingestellt. Die Auslandsbevölkerung konzentrierte sich auf die großen Städte, in denen die Industrien Beschäftigung boten. Innerhalb der Städte weisen heute bestimme Bezirke eine besondere Ausländerverdichtung auf. Späterer Familiennachzug hat diese Tendenz noch verstärkt. In diesem Fall spricht man von Gettoisierung der ausländischen Wohnbevölkerung (vgl. Ronneberger, S. 35). In solcher sozialen Isolation beherrschen oft auch Kinder kein Deutsch, die in Deutschland geboren wurden.
Das deutsche Schulsystem war auf den Ansturm der Ausländerkinder überhaupt nicht vorbereitet und mit daraus entstehenden Problemen...