Annäherungen
Bere zum Beispiel kann mit seinem Schweigen Menschen umbringen. Wenn aber die Tante Gite sich für ein paar Stunden hinsetzt, um sich auszuschweigen, dann ist es wie Gesang, wie ein Violinspiel. Moische Kulbak, Die Selmenianer1
I.
Die Frage, was ein Schweigen besage, bekommt es in ihrer paradoxen Struktur damit zu tun, dass das Schweigen eine Form der Sprache ist. Das »beredte Schweigen« ist ein berühmtes Oxymoron.2 Ein klassischer Beispielssatz ist das »cum tacent, clamant« aus Ciceros erster Rede gegen Catilina.3 Indem die zuhörenden Senatoren schweigen, so will es der Rhetor Cicero zum Ausdruck bringen, lassen sie laut werden, dass sie seine Anklage gegen Catilina für zutreffend halten und die aus ihr resultierenden Forderungen teilen. Denn, setzt Cicero fort, würde er einen Unschuldigen so attackieren, brächen sie in lauten Protest aus.
Freilich stellt sich hier sogleich die Frage nach der Interpretationshoheit über das Schweigen4 und allemal ist nicht jedes Schweigen als Zustimmung zu werten. Das gilt vor allem, wenn diejenigen, die widersprechen wollten, zum Schweigen gebracht wurden oder wenn sie in ihrer sozialen Stellung von vornherein keine Stimme haben. Dann obliegt es denen, die sprechen können, die Weisung aus Prov 31,8 zu beherzigen: »Öffne deinen Mund für den Stummen, für den Rechtsanspruch aller Schwachen!« (pet??-p?ch? le’illem ’äl-d?n kålb en? ?al?f).
Eine solche Mundöffnung5 kann auch darin bestehen, dass die zum Schweigen Gebrachten in einer neuen literarischen Gestalt endlich doch zu Wort kommen. Christine Brückner lässt in dieser Weise die bei Shakespeare von Othello zuerst zum Schweigen aufgeforderte und dann gänzlich zum Schweigen gebrachte Desdemona6 eine in doppeltem Wortsinn »ungehaltene Rede« halten.7 Wie klänge eine ungehaltene Rede Abels, der in Genesis 4 kein einziges Wort sagt, und wie eine von Davids Tochter Tamar, die von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt und dann von ihrem Bruder Absalom zum Schweigen verurteilt wird (2. Samuel 13)? Das Schweigen beider wird wie mehrere weitere hier in erster Annäherung betrachtete biblische Passagen noch ausführlicher zum Thema werden.
II.
Gerade für die, denen die Wahl gegeben ist zu reden oder zu schweigen, bleibt die Frage, wann das eine oder das andere an der Zeit ist. In diesem Betracht ist immer wieder der Satz aus Koh 3,7 zu bedenken. Ihm zu Folge gibt es wie für manche andere Gegensatzpaare, bei denen jeweils das eine an der Zeit ist, »eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden« (‘et la?aš?t we‘et ledabber). Allzu rasches Reden freilich ist zu keiner Zeit geboten. »Ein verständiger Mensch schweigt« (’?š tev?n?t ja?ar?š), heißt es in Prov 11,12 und Prov 17,27 urteilt: »Wer die Worte zurückhält, beweist Klugheit; wer einen kühlen Kopf behält, ist ein weiser Mensch.« Der darauffolgende Vers fügt die ironische Sentenz an, es sei auch den Dummen geraten zu schweigen, weil sich ihre Dummheit erst im Sprechen erweise. »Auch ein Narr, wenn er schweigt, kann als weise gelten, wenn er seine Lippen verschließt, als verständig«, heißt es da (gam ’äw?l ma?ar?š ??ch?m je??šev ’o?em ?ef?t?w n?v?n).
»It is better to remain silent at the risk of being thought a fool, than to talk and remove all doubt of it.« Diese hübsche Zuspitzung der biblischen Sentenz wird (u. a. im Internet) ebenso oft wie falsch Samuel Johnson, Mark Twain und besonders gern Abraham Lincoln zugeschrieben. Was angebliche Zitate des letzteren angeht, so gibt es im Internet immerhin auch das schöne selbstironische »Zitat«: »›80 % der Zitate im Internet sind frei erfunden.‹ Abraham Lincoln.« Der vermutlich früheste Beleg für jenen Satz über das Schweigen findet sich übrigens in Maurice Switzers »Mrs. Goose, Her Book« aus dem Jahr 1907.8
Ein entsprechender bekannter Satz aus der Spätantike geht auf Boethius9 zurück. Da wird jemand von einem Angeber gefragt: »Intellegis me esse philosophum« (»Begreifst du, dass ich ein Philosoph bin?«), und er antwortet bissig: »Intellexeram, si tacuisses« – »Ich hätte es begriffen, wenn du geschwiegen hättest.« Daraus wurde der bekannte gereimte Sinnspruch »Si tacuisses, philosophus mansisses« – »Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben.« Die Beherzigung dieses Plädoyers für das Schweigen wie das entsprechende in Prov 17,28 ließe den schweigenden Dummkopf nicht klüger werden; sie hätte immerhin die Dummheit zu verbergen vermocht.
Und wenn es um die Dummheit der Mächtigen geht? »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.« Das heißt – nicht nur für Minnesänger – auch: bei wem ich in Lohn und Brot stehe, dessen Schande verschweige ich besser. Auch ein Verschweigen kann zuzeiten klug, jedenfalls im eigenen Interesse geboten sein. Zuweilen gilt dann auch: »Da schweigt des Sängers Höflichkeit.«10
Diese Formulierung macht übrigens darauf aufmerksam, dass die Bekundung des Schweigen-Wollens und die des Nicht-schweigen-Wollens geradezu in eins fallen können. Eine rhetorische Figur wie »davon will ich lieber schweigen« oder »davon ganz zu schweigen«, betont ja gerade das, über das nicht geredet werden soll, und ruft es umso plakativer ins Bewusstsein. Hier ist es das rhetorisch betonte Schweigen, das umso beredter ist.
III.
Es gibt auch das ebenso sprichwörtliche »tiefe Schweigen«. Voller Zorn sagt die Göttin Juno in Vergils Aeneis:11 »Was zwingst du mich mein tiefes Schweigen (alta silentia12) zu brechen und meinen verborgenen Schmerz öffentlich auszusprechen (verbis vulgare – in Worten unters Volk zu bringen)?« – »Schon lange habe ich das Schweigen zum Mittel gegen das Unheil« (palai to sigan pharmakon blab?s ech?), bekundet der Chorführer in Aischylos’ »Agamemnon«;13 das Böse soll nicht noch durch – womöglich gar voyeuristisches – Davon-reden verdoppelt werden. In dieser Perspektive referiert Ruth Poser eine Wahrnehmung von Dori Laub, der zahlreiche Interviews mit Überlebenden der Schoah geführt hat, und hält fest, »dass viele Betroffenen Schweigen als den adäquateren Ausdruck für das von ihnen Erlittene ansehen – die Umsetzung des Geschehenen in ein erinnerbares Wissen nämlich setzt dieses zugleich der Gefahr des Vergessens und der Banalisierung aus.«14
Das Schweigen als ein Nicht-reden-Können kann die Folge traumatischer Erfahrungen sein. Das wird im Abschnitt über »Ezechiels Schweigen« zum Thema werden. »Gegen das Schweigen klagen« lautet dazu und auch dagegen der programmatische Titel einer Studie von Ulrike Bail,15 in der sie die Psalmen 6 und 55 auslegt und dabei auch in eine beziehungsreiche Konfiguration mit der Geschichte der zum Schweigen gebrachten Davidtochter Tamar bringt.
U. Bail beginnt ihr Buch (a.a.O., 13–15) mit einem eindrücklichen, die dann folgenden alttestamentlichen Exegesen präfigurierenden Abschnitt über die zum Schweigen gebrachte Philomele, von der u. a. eine der »Metamorphosen« Ovids handelt (VI, 412–674). Sie wird von ihrem Schwager Tereus vergewaltigt, der sie danach einsperrt und ihr zudem die Zunge herausschneidet, damit sie davon nicht sprechen kann. Die so zum Schweigen gebrachte Philomele webt ein Gewand »und in die weißen Fäden webte sie purpurne Markierungen ein zur Anzeige des Verbrechens« (purpureasque notas filis intexuit albis, indicium sceleris [Ovid, met. VI, 577f.]). »Philomeles Kunst fand eine schweigende Stimme« (Philom?las techn? si?p?san h?ur?ke phon?n) – »die Hand ahmt die Sprache nach« (mimeitai t?n gl?ttan h? cheir [beide Zitate aus der Fassung des Stoffs bei Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon, V, 5,4f.]). Dieses Gewand lässt sie ihrer Schwester Prokne, Tereus’ Frau, zukommen und die kann die in den Stoff gewebte Botschaft lesen – das Gewebe (textum) wird buchstäblich zum Text. Dieser Text ist ein vielfädiges Gewebe und er hat einen roten Faden bzw. mehrere (purpureasque notas). Beides wahrzunehmen, die vielfältigen Verknüpfungen in einem Text und seine roten Fäden empfiehlt sich bei der Lektüre auch und gerade von biblischen Texten.
Dabei kann das Schweigen selbst ein Element der Klage sein; das Schweigen des klagenden Menschen »kann nur ein Schweigen sein«, notiert N. Lohfink, »das übergroßem Schmerz oder lähmendem Schreck entspringt.«16 Das Schweigen und noch das Schweigen des Todes kann sehr laut werden. Von einem »schallenden Schweigen« spricht Rose Ausländer in ihrem ebenso überschriebenen Gedicht aus dem Jahr 1965:17
Schallendes Schweigen
Manche haben sich gerettet
Aus der Nacht
krochen Hände
ziegelrot vom Blut
der Ermordeten
Es war ein schallendes Schauspiel
ein Bild aus Brand
Feuermusik
Dann schwieg...