1.1 Biblische Nüchternheit
Eine realistische Sicht auf mich selbst
Wer zum ersten Mal und unvorbereitet den Boden unserer modernen Zivilisation beträte, würde wohl ziemlich staunen müssen. Zum einen über den unglaublichen Reichtum. Man versuche nur einmal, auf einer befahrenen Bundesstraße grob zu schätzen, welchen Wert die Autos haben, die da innerhalb von 10 Minuten vorbeifahren. Die Summe ginge weit in die Millionen. Statistiken belegen, dass der Gewinn aus Aktiengeschäften inzwischen höher ist als alles Einkommen aller Menschen zusammengenommen; der Gewinn aus Finanzspekulationen aber liegt geschätzt noch einmal etwa beim Dreißigfachen dieser Summe. Noch nie gab es eine Zeit, in der Luxussättigung, schnelle Versorgung, technische und medizinische Sicherheit so selbstverständlich waren wie heute – zumindest für die allermeisten Menschen unserer Gesellschaft.
Noch ein Zweites müsste dem Besucher auffallen: Die Gesichter vieler Menschen sind matt und ausdruckslos. Gebückte und in sich gekehrte Körperhaltungen und eine fast vollständige Emotionslosigkeit sind die Regel. Besonders stark muss das in den Großstädten auffallen, im Gedränge der U-Bahnen zum Beispiel: Fast niemand redet, schon gar nicht laut, und schon gar niemand lacht. Und noch mehr wird das deutlich, wenn man es mit der spontanen Ausdrucksfreude und der menschlichen Herzlichkeit vergleicht, die in vielen armen Gesellschaften vorherrschen.
Vielleicht kommt Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, diese Beschreibung übertrieben vor; und vielleicht trifft sie auf Sie auch gar nicht zu. Allerdings gibt es seit einigen Jahren Hinweise auf eine seelische Erschöpfung der Menschen, die kaum noch zu übersehen sind. Das Thema Burnout nimmt inzwischen geradezu epidemische Ausmaße an, und es betrifft nicht mehr nur gestresste Manager, sondern auch Lehrer, Hausfrauen und Geistliche. Die Krankheit, die sich am schnellsten verbreitet, ist eine seelische: die Depression.
»Dem modernen Leben fehlt es sehr an Leben«4 – trotz, ja gerade angesichts seiner hohen Impulsdichte, seines hohen Tempos und seiner gesteigerten Erlebnis-Intensitäten. So hat es der finnische Psychoanalytiker und Kulturbeobachter Finn Skårderud einmal scharf formuliert. Die epidemisch anwachsenden seelischen Schwächeerscheinungen unserer Zivilisation – Lustlosigkeit, innere Leere, Depression, Burnout und Demenz – zeigen das mit zunehmender Deutlichkeit.
»Wahrscheinlich fühlte sich das Individuum noch nie so fremd in seiner Welt wie heute.«5 Welch ein Satz! Man wird ihn dem erfahrenen Psychoanalytiker Peter Schellenbaum sicher nicht rundweg abstreiten wollen. Offenbar fehlen die Erfahrungen des Verbundenseins mit dem Leben. Es fehlt der fraglos gegebene Sinn und das Grundvertrauen in die Welt. Die Sehnsucht nach Sinn und Orientierung, nach Geborgenheit und Liebe ist mit Händen zu greifen.
Ganz offensichtlich erleben wir einen seelischen Klimawandel, der mit übergreifenden kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen zu tun hat, und dem sich der Einzelne gar nicht so leicht entziehen kann.
Die Hintergründe dieses seelischen Klimawandels lassen sich schnell skizzieren. Seit über 200 Jahren verbreiten sich in den modernen Gesellschaften die Grundwerte der Aufklärung: Freiheit von Abhängigkeiten jeder Art und die bewusste Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben. Nicht mehr die Achtung vor alten Traditionen, vor der allgemeinen Sitte und vorgegebenen Autoritäten bilden die Grundlagen der Lebensorientierung, sondern das Ideal der Selbstverwirklichung. Dieses Ideal ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass kaum noch darüber geredet wird. Gemessen wird es an Authentizität und vor allem an Erfolg: Reichtum, Ansehen, selbstbewusstes Auftreten und Einfluss sind die Ziele der Selbstverwirklichung, außerdem ein möglichst erlebnisintensives Leben. Entsprechend ändern sich die grundlegenden Werte: An die Stelle der Achtung vor dem Gegebenen, der Ehrfurcht oder gar der Demut treten Leistungsbereitschaft, Dynamik und Anpassungsfähigkeit. Das Leben wird zum Projekt. Drehbuch, Regie, Hauptrolle und Produktion liegen in ein und derselben Hand: beim Ich.
Wir definieren uns nicht mehr durch das, was wir vorfinden, sondern durch das, was wir aus dem Leben machen: durch Erfolg. Damit sind Leistungen an die Stelle des gegenseitigen Respekts getreten. Darum ist es kein Wunder, dass die persönliche Selbstbehauptung immer mehr auf Kosten von Wertschätzung, von Hingabe und der Erfahrung und Pflege der Verbundenheit geht. Die moderne Zivilisation ersetzt die Erfahrung sinnvollen Lebens immer mehr durch Dienstleistungen und kalkulierbare Funktionen.
Eine solche Orientierung setzt eine Menge an Kräften und Ideen frei – sie schneidet aber auch von Ressourcen ab, die außerhalb der eigenen Reichweiten liegen. Der moderne Mensch will alles selber wissen, selber tun und selber verantworten, möglichst auch sein eigenes Schicksal. Er kann sich nichts schenken lassen. Deshalb gibt es immer weniger Liebe in seinem Leben. »Gnade« ist zum Fremdwort geworden. Das Leben ist gnaden-los, denn es lebt von der eigenen Planung und von Konkurrenz. Kein Wunder, dass die persönliche Entfaltung zunehmend in Erschöpfung übergeht. Kraft- und Lustlosigkeit, Langeweile, innere Leere, aber auch innere Unruhe sind inzwischen so weit verbreitet, dass sie schon fast den seelischen Normalzustand bezeichnen. Die vielen Möglichkeiten der Unterhaltung und Zerstreuung – vom Fernsehen über das Internet bis hin zu Events und Vergnügungsparks – wirken zunehmend narkotisierend. Man hat unsere Kultur bereits als »Betäubungskultur« bezeichnet. Das zunehmende Tempo, die vielen schnellen Veränderungen und die Flut der Bilder verstärken die seelische Apathie und das Gefühl innerer Leere.
Selbstdisziplin, Erfolgszwang und Hörigkeiten haben ein geradezu pathologisches Ausmaß erreicht. Die scheinbaren neuen Freiheiten erweisen sich bei genauerem Hinsehen als ungeheure Über-Anpassungen. Die weitgehende Gleichförmigkeit der individualisierten Individuen ist offensichtlich. Elektronische Signale, chemische Tabletten, Alkohol, vorstrukturierte Events und organisierte Freizeitabläufe füllen das klaffende Loch der großen Fragen und lassen keinen Platz mehr für Besinnung.
Donald W. Winnicott hat den tiefgründigen Satz gesagt: »Die Alternative zum Sein ist Reagieren.«6 Demonstriert hat er das an kleinen Kindern, denen das Grundvertrauen fehlt. Solche Kinder müssen sich permanent vor möglichen Gefahren absichern, und darum ist ihr Blick unruhig, ihr Wesen unkonzentriert. Von jedem kleinsten äußeren Impuls werden sie abgelenkt. Der Satz von Winnicott lässt sich auf unsere ganze Gegenwartskultur beziehen: Unser Leben ist durch die ständigen, konzentrierten Reaktionen auf technische Signale geprägt, während spontane Äußerungen der Lebensfreude und kreative Impulse kaum noch zugelassen werden.
Peter Strasser meint, der moderne Mensch ersetze die Liebe zum Leben zunehmend durch die Liebe zum Genuss. Er versuche, das Letzte aus allem herauspressen. Nur das selbstverwirklichte Leben, nur der gestylte Körper, nur die verwirklichten Ideale zählen – was aber eben auch heißt: Das ungestaltete, unbearbeitete Leben an sich gilt als gar nichts Besonderes mehr. Die Suche nach Selbstverwirklichung unterstellt das eigene Leben dem Erfolgsdiktat: Ich bin das, was ich aus mir mache. Das heißt aber auch: Solange ich nichts (Außergewöhnliches) aus mir mache, bin ich nichts. Das Leben wird zur Anstrengung, die in Lustlosigkeit umschlägt.
Dazu kommt, dass uns die hohe Impulsdichte des modernen Alltags immer unempfindlicher macht und immer mehr abstumpft. Die Ansprüche an Unterhaltung steigen in Bereiche, die sich oft nur noch durch starke Reize befriedigen lassen, also durch hohes Tempo, durch riskante Betätigungen und durch Perversitäten, auf die wir aber zunehmend apathisch reagieren. Diese »Dekadenz wird nicht als Not, sondern als lebenskluge Bequemlichkeit erfahren. Und man muss schon Philosophen oder Psychoanalytiker bemühen, um hier überhaupt ein Bewusstsein zu wecken, dass dieses Leben nicht lebt.«7
Alain Ehrenberg hat in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst« die seelische Erschöpfung als die direkte Folge der Freiheit bezeichnet. Seiner Ansicht nach sind die Verfolgung von großen Lebenszielen, die Suche nach Intensität und das permanente Offenhalten und Nutzen möglichst vieler Optionen – die heute die normale Lebensorientierung bezeichnen – die besten Voraussetzungen für den Weg in die Depression. »Müde und leer, unruhig und heftig, kurz gesagt, neurotisch wiegen wir in unseren Körpern das Gewicht der Souveränität«.8
Die Erwartungen an das Leben sind hoch. Erwartungen können durchaus motivieren, das behaupten zumindest die meisten Coaches und Life Trainer. Nur bleibt das Leben ja fast immer hinter den Erwartungen zurück. Dann wird schnell das ganze Leben zur Enttäuschung, und dann können auch Luxus und uneingeschränkte Wahlfreiheiten keine innere Leere ausfüllen.
Wir haben uns von allen äußeren Zwängen befreit, nur – wozu? Immer deutlicher wird, dass Befreiung auch die Trennung von gewachsenen Verbindungen bedeutet, die einmal Lebenskraft und Geborgenheit gegeben haben. Sind wir dabei, die Verbindung zum Leben zu verlieren?
Wenn das Leben zum Projekt wird, wird es automatisch auch zur Stressquelle. Das kann dem Leben nicht gut bekommen. So ist das mit allen Orientierungen, die auf eine offene Zukunft verweisen: mit Lebenszielen, Lebensplänen oder »Visionen«, wie das im ökonomisierten Neudeutsch heißt. Ein Ziel zu...