1. Einleitung
„Deutschland mit oder ohne Bergbauern?“, diese Frage stellte Anton Reinthaller im Jahr 1944, zu dieser Zeit Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Landesbauernführer in Niederdonau und Leiter der Berglandabteilung. Seine Frage war die Überschrift für einen Aufsatz in der Zeitschrift „Deutsche Agrarpolitik“, die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, herausgegeben wurde. Backe bat Reinthaller durch einen Beamten des Reichsamts für das Landvolk, einen Beitrag über „die biologische Bedeutung des Bergbauerntums“ zu verfassen.1 Das kommende Heft der Zeitschrift sollte „revolutionäre Forderungen erheben“ und die Bergbauernfrage als „Menschenproblem ersten Ranges“ ansprechen. Für das Schreiben des Manuskripts in der Länge von vier bis sechs Seiten wurden Reinthaller zwei Monate Zeit gewährt. Sein offensichtlich rechtzeitig eingelangter Text von sechseinhalb Seiten Länge mit dem oben genannten Titel wurde für den Druck jedoch deutlich verkürzt und sprachlich stark verändert. In der Maiausgabe 1944 erschien Reinthallers Beitrag dann auch unter einer anderen Überschrift: „Bauern auf kargen Böden“.2 Ob die vorgenommenen Modifikationen mit Reinthaller besprochen wurden, ist nicht überliefert. Die konkreten Änderungen interessieren hier wenig – das Manuskript wurde von Zahlenmaterial und Details befreit, es wurde pathetischer formuliert und mit mehr Imperativen versetzt. Da wie dort jedoch führte Reinthallers Grundsatzfrage zu einer positiven Antwort im Sinne der Bergbauern: Der Nationalsozialismus brauche die Bergbauern erstens aus ökonomischer Sicht, weil sie einerseits großes und durch steigende Marktleistung bereits bewiesenes Steigerungspotential in der Milch- und Viehwirtschaft besäßen und andererseits, weil die Produkte der Berglandwirtschaft angeblich eine „qualitativ höhere Wertigkeit“ hervorgebracht hätten als jene der Landwirtschaft im Flachland. Zweitens wäre die Berglandwirtschaft auch durch ihre „biologische Leistung“, also aufgrund des den Bergbauernfamilien nachgesagten angeblichen Kinderreichtums, wertvoll für das Deutsche Reich. Damit seien die Unterstützungsleistungen des Reichs an die Bergbauern gerechtfertigt, denn sie wären, wie der unbekannte Überarbeiter von Reinthallers Beitrag formulierte, die „besten Blutspender der Nation“ und ein „nicht unbeachtliche[r] Wirtschaftsfaktor“ – und somit „ein nationales Heiligtum“!3
Wenige Jahre zuvor – kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich – wurde der „Bergbauer“ noch als „nicht zu übersehendes“ „österreichisches Problem“ bezeichnet.4 Wie der Autor ausführte, wären die Almflächen „zum größten Teil in schlechter Verfassung“, manche bergbäuerliche Arbeiten „oft mit Lebensgefahr verbunden“, sei die Verschuldung der Betriebe stark und das Getreide stehe oft im Schnee oder müsse grün geerntet werden. Die Problemlage der Berglandwirtschaft wurde auf die allgemeine Krise der Landwirtschaft seit Mitte der 1920er Jahre, aber auch auf die österreichische „Systemzeit“ zurückgeführt, denn die österreichische Verwaltung der 1930er Jahre habe es laut reichsdeutscher Diktion verabsäumt, die Bergbauernwirtschaft besser zu unterstützen.5 Erst mit dem „Anschluss“ Österreichs sei das „Bergbauernproblem“ für das Deutsche Reich „akut“ geworden.6
Der Weg vom „österreichischen Problem“ zum „nationalen Heiligtum“ war dann doch überraschend kurz. Kritische Stimmen in Berlin, die meinten, eine Förderung der österreichischen Berglandwirtschaft wäre unwirtschaftlich, setzten sich nicht durch und verstummten noch im Jahr der Machtübernahme. Die „Blut-und-Boden“-Proponenten fanden mit ihrer rassisch aufgeladenen Argumentation für die Erhaltung der Berglandwirtschaft vor allem in der NSDAP Gehör und es gelang ihnen, größere Summen zur finanziellen Förderung der Bergbauern zu lukrieren. Aber auch die Ideologen konnten ihre Pläne nicht vollständig zur Ausführung bringen. Denn die Kriegswirtschaft und -lage schuf schließlich Fakten, die von niemandem übergangen werden konnten. Und so war die Berglandwirtschaft während der NS-Zeit von der Kriegswirtschaft auf der einen und der „Blut-und-Boden“-Ideologie auf der anderen Seite geprägt und gleichzeitig zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen. Wie diese Aussage im Detail zu verstehen ist, möchte dieser Band unter anderem darlegen.
Das primäre Anliegen dieser Arbeit ist es, den Zeitabschnitt des Nationalsozialismus in Österreich von März 1938 bis Mai 1945 mit speziellem Augenmerk auf die in der Berglandwirtschaft tätigen Menschen zu rekonstruieren und zu interpretieren. Diese kurze Epoche hat eine Unzahl von Veränderungen und Neuerungen, auch für die alpine Landwirtschaft, hervorgebracht. Der Nationalsozialismus wollte in alle Bereiche des Lebens eindringen und setzte den gesamten Staatsapparat wie auch die Bevölkerung für die Erreichung seiner ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Ziele in Bewegung. Die Auflösung oder Gleichschaltung alter Strukturen und die Etablierung des Führerprinzips auf allen Ebenen wurde von der Einführung neuer, reichsdeutscher Strukturen und Gesetze begleitet.
Die Landwirtschaft gehörte zu den ersten Bereichen, die unmittelbar von der neuen Gesetzgebungswelle betroffen waren. Mit dem Reichsnährstand und der Marktordnung wurden die straff organisierten reichsdeutschen Agrarstrukturen schon bald nach der Machtübernahme eingeführt. Gleichzeitig partizipierte die nunmehr „ostmärkische“ Landwirtschaft an staatlichen Fördergeldern, die es unter österreichischer Verwaltung nicht oder nur in Form von nicht ausreichend dotierten Unterstützungsleistungen gegeben hatte. Die wirtschaftliche Komponente machte aber nur einen Teil der Veränderungen aus. Auch sozialpolitisch kam mit der Erweiterung sozialversicherungsrechtlicher Bestimmungen und der Einführung von Sozialleistungen einiges Neues für die Bewohner des alpinen ländlichen Raumes. Im Bereich der fiskalischen Neuerungen war beispielsweise die Einführung des Einheitswertsystems für die Landwirtschaft von Bedeutung. Alle Veränderungen bzw. Neuerungen zu nennen und zu behandeln, wäre unmöglich. Die Auswahl der zu bearbeitenden Themen war daher von zwei Faktoren abhängig: Zum einen von der Relevanz in der zeitgenössischen landwirtschaftlichen Praxis, zum anderen vom Grad der Nichtbeachtung durch die bisherige Forschung. Aus diesem Grund findet beispielsweise die für die landwirtschaftliche Praxis zwar wichtige, aber sehr gut erforschte Marktordnung mit ihren weiter reichenden Zusatzfragen nach den Anpassungsstrategien und Handlungsspielräumen der betroffenen Akteure hier wenig Erwähnung, ebenso wird das Reichserbhofgesetz nur gestreift. Breiten Raum nehmen hingegen jene Aktivitäten des NS-Regimes ein, die sich mit der Berglandwirtschaft auseinandersetzten. Institutionell steht hier die Schaffung der Berglandabteilung im Blickpunkt, die nach der Auflösung des österreichischen Landwirtschaftsministeriums ins Leben gerufen wurde. Als Unterabteilung des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (RMfEL) eingerichtet, wurde die Berglandabteilung vom vormaligen österreichischen Landwirtschaftsminister Anton Reinthaller geleitet. Weiters wird der ideologische Stellenwert der Bergbauern sowie die auf den ländlichen Raum ausgerichtete Sozialpolitik untersucht. Auf wirtschaftlich-praktischem Gebiet stehen der „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ und die „Entschuldungs- und Aufbauaktion“ im Fokus. In diesen „Aktionen“, die direkt vor Ort umgesetzt wurden bzw. werden sollten, prallten die widersprüchlichen Zielsetzungen des Reichs in Form der „Blut-und-Boden“-Ideologie auf der einen und den kriegs- und ernährungswirtschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft auf der anderen Seite auf die reale Lebenswelt der Bauernhöfe. Dieses Spannungsfeld führt zur forschungsleitenden Fragestellung: Wie wirkte sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Landbevölkerung in den bergbäuerlichen Regionen Österreichs aus?
Als Untersuchungszeitraum dient im Wesentlichen die Zeit von 1938 bis 1945. Für die Einbettung in größere Zusammenhänge ist es fallweise notwendig, über die Zäsur der NS-Herrschaft hinwegzuschauen. Etwas schwieriger ist die Verortung des geografischen Rahmens. Bereits in den 1930er Jahren hat die österreichische Verwaltung die Zonen des Bergbauerngebiets festgelegt (siehe Kapitel 4.b.). Diese erste taxative Auflistung aller Gemeinden, die ins Bergbauerngebiet fielen, wurde in der NS-Zeit geringfügig erweitert. Zunächst einmal war die Zugehörigkeit zum Bergbauerngebiet ein Indiz für eine naturräumliche Ungunstlage. Diese Ungunstlage war Basis...