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Auf dem Heimweg in der S-Bahn denke ich, während Tom mit dem Kopf am Fenster schläft, Kopfhörer eingestöpselt, an einen meiner Kollegen, der neulich einen Artikel über die Sexualität der jungen Deutschen geschrieben hat. Er sagte mir, dass die typische Sexhäufigkeit der befragten Paare bei ein- bis zweimal die Woche lag. Der Kollege sagte, er sei richtig erleichtert gewesen, als er das herausgefunden habe. Er hatte nämlich befürchtet, dass alle anderen viel öfter Sex hatten als er selbst.
In seinem Artikel stand auch, wie viel Prozent der jungen Deutschen schon einmal Analsex hatten, wie oft Blowjobs und Cunnilingus passierten – immer schön die Checkliste beachten! – und wie viele Sexpartner die Menschen im Durchschnitt hatten. In diesen Zahlen steckt eigentlich der ganze Wahnsinn dessen, wie viele von uns heute über unsere Sexualität denken. Es geht nicht mehr darum, was genau eigentlich zwischen mir und der Person, die ich vielleicht liebe, in einer ziemlich in-timen Situation passiert. Sondern darum, ob wir den Vergleich mit anderen aushalten würden, ob wir genauso oft, wild und variabel Sex haben wie die anderen. Dabei überschätzen wir ständig die Vergleichsbasis. Laut einer Studie des Soziologen Michael Kimmel glauben amerikanische College-Studenten, dass 80 Prozent ihrer Kommilitonen jedes Wochenende Sex haben. Tatsächlich hatten 80 Prozent aller College-Absolventen in ihrem Leben überhaupt schon einmal Sex. Trotz aller Klagen über unsere sexualisierte und pornografisierte Gesellschaft, obwohl es nun Dating-Apps gibt und obwohl man nur eine beliebige U-Bahn betreten muss, um 14jährige über Arschficken fachsimpeln zu hören, haben junge Menschen heute weniger Sex als eine Generation früher. Mehr noch: die heutigen 50-64jährigen erlebten ihren ersten Sex mit durchschnittlich 17,8 Jahren. Die heutigen 25-34jährigen mit 17,5.10 Diese Zahlen zeichnen natürlich ein ganz anderes Bild als das, was wir uns über Sex im Jahr 2015 vorstellen.
Das fiel auch der jungen australischen Journalistin Rachel Hills auf, die in ihrem Buch The Sex Myth: The Gap Between Our Fantasies and Reality schreibt, dass sie in ihren Zwanzigern von Sex besessen gewesen sei: »Nicht von dem körperlichen Drang ihn zu haben…, [sondern] davon, was er bedeutete«. Vor allem davon, was es bedeutete, dass das Leben aller Menschen außer ihrem eigenen ein einziges All-you-can-eat-Buffet zu sein schien. Alle waren cool, machten dreckige Witze und gaben mit ihren Eroberungen an. Hills machte mit – sie wollte ja dazugehören. Erst, als ihr eine hübsche Freundin gestand, dass sie seit zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte, fing Hills an, die All-you-can-eat-Prämisse infrage zu stellen. Sie merkte, dass es eine Lücke zwischen den Geschichten gab, die wir über Sex hören und dem, was wir tatsächlich erleben. Hill schreibt in ihrem Buch, dass die sexuelle Revolution uns nicht dabei geholfen hat, uns weniger Sorgen um unsere Sexualität zu machen. Wir sorgen uns jetzt einfach anders – also nicht mehr darum, ob wir zu viele Partner hatten, sondern zu wenige. Wie und wie viel Sex wir haben, definiert, ob wir als Menschen okay sind. Hills stellte fest, dass junge Frauen die Frage danach, wie ein gutes Sexleben aussehe, oft mit einer Zahl beantworteten. »Sie schienen die zwei- bis dreimal die Woche, von denen es heißt, dass das der Durchschnitt sei, verinnerlicht zu haben. Oft versuchen die Leute, diese Nummer zu übertreffen; sie sehen das als ein Minimum.«11
Das ist nicht zuletzt deswegen traurig, da Menschen bekanntermaßen bei Sexumfragen nicht aufrichtig antworten. Niemand, der von Forschern befragt wird, möchte wie ein Loser klingen Deshalb halten sich fast alle an das ein-bis-zweimal-die-Woche-Schema – egal, ob das nun wirklich zutrifft, oder nicht. Diese Zahl tauchte übrigens zum ersten Mal 1953 im Kinsey Report auf, der seitdem oft dafür kritisiert worden ist, dass die dafür ausgewählten Freiwilligen kein repräsentatives Bild liefern konnten. Dennoch steckt diese Zahl unverrückbar seitdem in unserem kollektiven Bewusstsein und gibt die Standards vor.
In einer Cosmpolitan-Ausgabe las ich neulich einen Artikel, in dem der Film »Nymphomaniac« von Lars von Trier erwähnt wurde. Gleich daneben war eine Anzeige für Creme gegen Scheidentrockenheit platziert. Das kam mir sehr symbolisch vor. Leistungsficken ist kein schönes Wort, aber ich fürchte, man täte unserer Generation damit nicht unbedingt unrecht. Es heißt, unsere Körper seien Dienstleister für die Leistungsgesellschaft geworden, und da ist etwas dran. Wir haben Sex versachlicht und entemotionalisiert. Er ist wie jedes andere Produkt, das wir konsumieren und optimieren. Dank Hirnforschung und Lifestyle-Magazinen wissen wir, wie viele Kalorien man beim Sex verliert, welche Botenstoffe beim Orgasmus ausgeschüttet werden und wir kennen alle Stellungen im Universum. Mit all diesen Informationen im Kopf kann man natürlich überhaupt keinen entspannten Sex mehr haben. Man steckt die ganze Zeit dem Gefühl nach in einer Art öffentlicher Performance, als hätte man Zuschauer, die Punkte vergeben und sagen, dass dieses Paar okay ist, dieses Paar macht es richtig, denn seht nur, sie tun es zweimal am Tag, und immer auf dem Fußboden! Und wenn es dabei nicht richtig flutscht, schadet das gar nichts. Dagegen gibt es ja jetzt diese tolle Creme.
Knallersex ist Statussymbol und Verpflichtung, nicht weniger wichtig als Geld. Überall stehen die Hinweise darauf, dass wir es im Bett doch verdammt noch mal besser haben könnten und müssten. Neulich las ich auf einem Food-Blog ein Rezept für einen »Eheretter-Smoothie«. Die Autorin erklärte den Titel begeistert damit, dass das in den verarbeiteten Mangos enthaltene Vitamin E aphrodisierend wirke. Ich fühlte mich müde beim Lesen. Ich wollte doch einfach nur etwas Leckeres trinken! Aber das reichte nicht, mein Drink musste einen sexuellen Mehrwert haben. Weil das Leben sonst einfach nicht geil genug ist. So kommen Stoßseufzer zustande, wie der, den eine Freundin neulich tätigte: »Ich kenne 100 Möglichkeiten, meinem Freund einen zu blasen, aber ich habe einfach keinen Bock darauf.«
Joan Sewell, eine hübsche, gebildete Frau Ende dreißig, hat in den USA ein Buch geschrieben, das als die »heißeste, wildeste, schockierendste Wende in der sexuellen Revolution«12 bezeichnet wurde. Es ist ein Manifest namens »I’d rather Eat Chocolate: Learning to Love My Low Libido« (»Ich würde lieber Schokolade essen: Wie ich lernte, meine schwache Libido zu lieben«). Wenn sie die Wahl zwischen einem Brownie und einem Orgasmus hätte, erklärt Sewell darin, würde sie den Brownie wählen. Der Kuchen sei nämlich jederzeit da, auf den Orgasmus müsse sie erst mühsam hinarbeiten. Nach einer langen, sexarmen Beziehung mit ihrem Mann und vielen Anstrengungen, mehr Elan in ihr Ehebett zu bringen, kommt sie zu dem Schluss, ihre Unlust sei darin begründet, dass sie eine Frau sei. Das weibliche Geschlecht an sich habe nämlich einfach keine starke Libido, auch wenn spätestens seit Sex and the City so getan wird, als würde die selbstbewusste Frau von heute sich am liebsten dreimal täglich einen Lover zwischen die Schenkel klemmen. Zwischen dem Bild der modernen Nymphomanin und der realen Erfahrung vieler Frauen klaffe ein enormer Abgrund, meint Sewell. Ihr Statement ist mutig, weil es politisch unkorrekt ist und sich gegen den medialen Mainstream wendet. Aber soll das wirklich der Kampfschrei der nächsten sexuellen Revolution sein? »Jetzt geben Frauen zu, dass sie keinen Sex wollen. Yeah!«?
Ich kenne Joan Sewell, die Frau, die lieber Schokolade essen möchte, als mit ihrem Mann zu schlafen, nicht. Aber ich ziehe den Hut vor den Anstrengungen, die sie gemacht hat. Sie und ihr Partner haben sich eine ähnliche Frage gestellt wie Tom und ich, aber sie haben diese Nuss anders zu knacken versucht – wobei ihr Mann Kip dabei eine eher passive Rolle spielte. Sewell ließ ihre frühen sexuellen Prägungen von einer Therapeutin durchleuchten. Sie zog ein heißes Bustier an und stieg in Netzstrümpfe. Sie bestrich Kip mit Schokoladencreme und leckte ihn ab. Sie flüsterte ihm auf der Straße schlüpfrige Dinge ins Ohr. Während das für ihren Partner funktionierte, hatte sie wenig Spaß daran und fragte sich schließlich verwundert, wieso man von Frauen erwartet, ihre Libido hochzutunen, statt dass man Männer dazu anregte, ihren Trieb herunterzufahren.
Beim Lesen ihres Buches habe ich den Verdacht, dass sie etwas verwechselt: Sie sieht ihr eigenes Leben und das ihrer Freunde an, gleicht ihre Beobachtungen selektiv mit Statistiken ab und kommt zu dem Schluss, dass Frauen mit Sex einfach nicht so viel anfangen können. Und dass sie und ihre Männer das endlich zugeben sollten, um tragbare Kompromisse zu finden. In gewisser Weise ist das mutig, weil sie damit an den Grundpfeilern dessen rüttelt, was der Mainstream über Beziehungen denkt: Dass ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Freundschaft und einer romantischen Beziehung der Sex ist. Sewell aber verlangt, eine vollwertige Beziehung zu einem Mann haben zu dürfen, ohne mit ihm schlafen zu wollen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das Problem liegt darin, dass sie sich nicht mit ihrer persönlichen Schlussfolgerung zufrieden gibt, sondern sie auf alle Frauen ausdehnt. Damit macht sie es sich zu einfach.
Sewells Buch endet traurig. Kip und sie schließen einen Kompromiss: Sie legt gelegentlich Striptease-Tänze für ihn hin, während er bei sich selbst Hand anlegt. Manchmal, wenn ihr danach ist, gibt sie ihm einen Blow Job, ab und zu schlafen sie auch miteinander Das alles...