11. Kapitel
Grundfragen der Betreuung
I. Das Rechtsinstitut Betreuung
Was versteht das BGB unter Betreuung?
Das im BGB 1992 eingeführte Rechtsinstitut heißt vollständig „Rechtliche Betreuung“. Aus dieser Bezeichnung wird deutlich, dass es nicht um soziale oder lebenspraktische Hilfen geht, sondern um die Vertretung hilfebedürftiger Personen bei der Vornahme von Rechtsgeschäften (einseitigen Erklärungen, Verträgen usw.). Der Betreuer ist gesetzlicher Vertreter des Betreuten, kann also im Rahmen seines Aufgabenkreises im Namen des Betreuten gegenüber Dritten handeln und mit Wirkung für und gegen den Betreuten rechtsgeschäftliche Erklärungen abgeben und entgegennehmen. Tatsächliche Hilfestellungen (Saubermachen, Pflege usw.) sind nicht Aufgabe des Betreuers, wohl aber u. U., solche zu organisieren.
Gibt es noch die Entmündigung?
Die vor 1992 mögliche Entmündigung Volljähriger ist bewusst durch das neue Rechtsinstitut „Betreuung“ abgeschafft worden, das auch die sog. Gebrechlichkeitspflegschaft ablöste. Mit dem neuen Rechtsinstitut sollten die Rechte psychisch Kranker gestärkt werden. Die Einrichtung einer Betreuung beschneidet einen geschäftsfähigen Betreuten nicht mehr in seinen Möglichkeiten, rechtsverbindliche Erklärungen abzugeben und es gibt kein gerichtliches Verfahren 2mehr, in dem festgelegt wird, dass ein Mensch geschäftsunfähig ist. Besteht allerdings die Gefahr, dass der Betroffene infolge einer Erkrankung seinen Willen nicht mehr frei bestimmen kann und sich durch Teilnahme am Rechtsverkehr selbst schädigt, kann das Betreuungsgericht anordnen, dass Erklärungen des Betreuten nur wirksam sind, wenn der Betreuer sie genehmigt (sog. Einwilligungsvorbehalt, § 1903 BGB – siehe hierzu 4 III 2). De facto ist der Einwilligungsvorbehalt eine abgeschwächte Form von Entmündigung.
Hat die Betreuung Auswirkungen auf die Fähigkeit des Betreuten, selbst Entscheidungen zu treffen, Geschäfte abzuschließen usw.?
Nein, die Betreuung ist unabhängig von der Geschäftsfähigkeit des Betreuten, unabhängig von Veränderungen der Geschäftsfähigkeit und stellt den Betreuer als gesetzlichen Vertreter dem Betreuten als Hilfe zur Verfügung, der im Rahmen seiner Geschäftsfähigkeit alle Geschäfte weiterhin auch selbst erledigen kann, wenn er möchte und soweit kein Einwilligungsvorbehalt angeordnet wurde. Der Betreuer ist auch nicht verpflichtet, für den Betreuten zu entscheiden, wenn das von diesem selbst erledigt werden kann und sollte das in diesen Fällen auch nicht erledigen, denn eine seiner Aufgaben ist die Förderung und Bewahrung der Selbständigkeit des Betreuten.
Was ist der Unterschied zwischen Geschäftsfähigkeit, Testierfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit?
Unbeschränkte Geschäftsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, rechtlich bedeutsame Handlungen vorzunehmen, weil der Betroffene (sofern volljährig) die Bedeutung dieser Handlungen erkennen und nach dieser Erkenntnis handeln kann. Testierfähigkeit bezieht sich insoweit auf einen engen Teilbereich und ist die auf die Errichtung einer letztwilligen Verfügung (Testament, Erbvertrag) gerichtete Geschäftsfähigkeit. Die Einwilligungsfähigkeit (auch Einsichts- und Steuerungsfähigkeit) bezieht sich dagegen nicht auf die Vornahme von Rechtsgeschäften, sondern auf tatsächliche, insbesondere medizinische Eingriffe in die Rechtsgüter des Betroffenen, oft also den Bereich der Personensorge. Sie bezeichnet die Fähigkeit, die Bedeutung des Eingriffs erkennen und danach handeln zu können. Bei der Einwilligungsfähigkeit 3kommt es maßgeblich auf die Komplexität der konkreten Maßnahme an, was bei Geschäftsunfähigkeit kein zulässiges Kriterium ist. Ein Betroffener kann also bei einer wenig komplexen Maßnahme (Sterbehilfe durch Abschalten der Beatmung) geschäftsunfähig aber noch einwilligungsfähig sein, bei einer Operation mit komplex abzuwägenden Risiken kann umgekehrt Einwilligungsunfähigkeit vorliegen, obgleich der Betroffene eigentlich noch geschäftsfähig ist. Der Unterschied ist relevant, da ein Betreuer oder Bevollmächtigter im Bereich der Rechtsgeschäfte (außer im Bereich letztwilliger Verfügungen) stets für den Betreuten/Vollmachtgeber handeln kann, also unabhängig von dessen Geschäftsfähigkeit, im Bereich der Eingriffe in die persönlichen Rechtsgüter des Betroffenen (ärztlicher Heileingriff, Unterbringung usw.) dagegen ausschließlich bei Einwilligungsunfähigkeit des Betroffenen.
Was ist der Unterschied zwischen Vormund und Betreuer?
Vormundschaft und Betreuung unterscheiden sich nach dem Alter des Pfleglings. Vormundschaft gibt es nur bei Minderjährigen, Betreuung für Volljährige. Um Zeitlücken zu vermeiden, kann schon ab Vollendung des 17. Lebensjahres eine Betreuung angeordnet werden. Sie wird aber erst wirksam, wenn der Betroffene volljährig wird (§ 1908a BGB).
Warum gilt nicht automatisch, dass nahe Angehörige die Rechte Betroffener wahrnehmen?
Eine Regelung, dass der nächste Familienangehörige gesetzlicher Vertreter eines betreuungsbedürftigen Verwandten wird, wurde zur Verringerung der Kosten von Betreuungsverfahren bereits als Gesetzvorschlag diskutiert. Die Details einer solchen Regelung erwiesen sich jedoch als zu kompliziert und fehleranfällig. Es ist kaum möglich, abstrakt vorab zu bestimmen, welcher Angehörige am besten zur Wahrnehmung der Rechte geeignet ist, wie Interessenkollisionen vermieden werden können und wie mit zerrütteten Familienverhältnissen (z. B. bei Trennung von Ehepartnern) umzugehen ist. Der Gesetzgeber setzt zur Verringerung der Betreuungen stattdessen 4auf die private Vorsorge durch Vorsorgevollmachten (siehe 2. Kapitel).
II. Vermeidung einer Betreuung
Welche Vor- und Nachteile hat die Betreuung gegenüber privater Vorsorge?
Eine Betreuung ist in der Regel umständlicher und teurer als die Bevollmächtigung einer Vertrauensperson. Denn für die Einrichtung und Führung der Betreuung sind Gerichtskosten sowie Auslagen und ggfs. Vergütung des Betreuers zu zahlen, es ist dem Betreuungsgericht regelmäßig Bericht zu erstatten und in einer Vielzahl von Fällen die Genehmigung des Gerichts einzuholen. Die Vorsorgevollmacht (im Einzelnen siehe unter 2. II.) ist demgegenüber weitaus flexibler, da bei ihr diese bürokratischen Erfordernisse und Kosten weitgehend entfallen. Die Betreuung hat allerdings den Vorteil, dass der Betreuer weitaus stärker überwacht wird, und die Gefahren des Missbrauchs der Befugnisse daher geringer sind.
Wann ist eine Betreuung trotz Hilfebedarfs nicht erforderlich?
Um den Betroffenen – und bei Bedürftigen der Staatskasse – die Belastungen durch eine Betreuung zu ersparen, haben andere Hilfen Vorrang, wenn und soweit sie geeignet sind, ebenso gut wie eine Betreuung die Angelegenheiten des Betroffenen zu regeln (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB). In Betracht kommen vor allem Vorsorgeverfügungen, also Anordnungen, die der Betroffene im Voraus für den Fall seiner Betreuungsbedürftigkeit getroffen hat oder noch treffen könnte, insbesondere Vorsorgevollmachten. Solche Vollmachten sind in der Regel Generalvollmachten für sämtliche Lebensbereiche, damit eine Betreuung möglichst weitgehend vermieden werden kann (siehe hierzu näher 2. Kapitel).
5Wann ist trotz einer Vorsorgevollmacht eine Betreuung erforderlich?
Es gibt Fälle, in denen trotz einer Vorsorgevollmacht eine Betreuung erforderlich wird. Das ist dann notwendig, wenn
- die Vollmacht einer Person erteilt wurde, die nicht Betreuer sein dürfte; das ist der Fall, wenn eine Unterbringung in einer Anstalt oder einem Heim besteht, und der Bevollmächtigte hierzu in einer engen Beziehung steht (§ 1897 Abs. 3 BGB) oder,
- die Vollmacht unvollständig ist oder,
- das Gesetz eine Vertretung durch Bevollmächtigte ausnahmsweise nicht zulässt (s.u.) oder,
- der Bevollmächtigte sich weigert, tätig zu werden oder aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen selbst nicht in der Lage ist, dem Betroffenen zu helfen oder,
- konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Bevollmächtigte nicht mehr entsprechend der Vereinbarung und dem Interesse des Vollmachtgebers handelt und dadurch erforderlich wird, ihn durch einen unabhängigen Dritten zu beaufsichtigen (sog. Kontroll- oder Überwachungsbetreuung § 1896 Abs. 3 BGB), zum Beispiel bei Bedenken gegen die Redlichkeit oder Tauglichkeit des Bevollmächtigten.
Die Betroffene hat ihrer Tochter T eine Vorsorgevollmacht erteilt und ist durch Krankheit inzwischen betreuungsbedürftig geworden. Vor kurzem ist die Schwester S von T in den Haushalt der gemeinsamen Mutter eingezogen und hat eigenmächtig Pflegeleistungen organisiert und vorgenommen, wodurch es zu erheblichen Streitigkeiten zwischen S und T gekommen ist. T ist nicht in der Lage, das störende Verhalten von S zu unterbinden. Das Gericht setzt Rechtsanwältin R als Berufsbetreuerin ein, weil T, wenn auch unverschuldet, objektiv nicht mehr in der Lage ist, die Vollmacht auszunutzen.
Auch eine wirksame und umfassende Generalvollmacht an einen zugelassenen, zum Handeln bereiten und sorgfältig handelnden Bevollmächtigten kann ihm nicht für alle denkbaren Rechtsgeschäfte 6die Befugnis zum Handeln erteilen. Das ist dann der Fall, wenn der Betroffene nicht mehr selbst handeln kann und
- das Gesetz die Vertretung durch einen Bevollmächtigten generell nicht zulässt, sondern nur bei gesetzlicher Vertretung das Handeln für einen anderen erlaubt; Hauptanwendungsfälle...