KAPITEL 1
1 | Um was es uns geht: Motogeragogik |
3 | Der „Schlüssel zur Praxis" I: Grundsätzliches |
4 | Der „Schlüssel zur Praxis" II: Eine Modellstunde |
5 | Anregungen & Ideen nach dem motogeragogischen Konzept |
6 | Ideen am Tisch für zwischendurch |
7 | Wie es begann – und wie es Mut macht, es auszuprobieren (Thesi Zak) |
Kapitel 1
UM WAS ES UNS GEHT: MOTOGERAGOGIK3
Wer kennt das nicht?
Die Zufriedenheit, die uns erfüllt, wenn wir etwas getan haben, der Stolz, der uns stärkt, wenn wir etwas geschafft haben, die Freude darüber, wenn etwas gelungen ist,
die Lebendigkeit, die wir in uns spüren, wenn wir gerochen, gefühlt, geschmeckt haben.
Aber auch diese guten Gefühle, die tief innen aus dem eigenen Tun erwachsen sind, werden schal, wenn unser Handeln nicht von anderen Menschen wertgeschätzt wird.
Wir sind stolz auf unser Werk – aber frustriert, wenn es niemand bemerkt.
Wir sind zufrieden mit dem, was wir gerade tun – aber enttäuscht, wenn es nicht gewürdigt wird.
Positive Gefühle zu erleben, sind Bausteine eines guten Daseins. Immer. In jedem Lebensalter.
Und auch, wenn der Geist schwindet.
Es ist nämlich ein Gefühl, kein Gedanke.
Menschen mit Demenz verlieren zwar ihr Gedächtnis mehr und mehr, das Denken wird verworrener – aber die Gefühle bleiben. Unmittelbar und unverfälscht. Und sie brauchen, damit es ihnen gut geht, auch gute Gefühle.
Aber sie erleben sie immer seltener. Ja, mehr noch – sie erleben das Gegenteil.
Im vernünftigen erwachsenen Leben „funktionieren“ Menschen mit Demenz nicht mehr. Was sie tun, wird oft abgewehrt, zumindest belächelt und nicht ernst genommen.
Was sie sagen, wird nicht verstanden und was sie wollen, erst recht nicht. Wie können sie dann zufrieden und stolz sein? Auf was? Alles, was sie tun oder sagen, wird verächtlich gemacht. Zurück bleibt tiefste Verunsicherung. Ein schlechtes Gefühl. Schlechte Gefühle wirken sich auf das Selbstbewusstsein aus, auf das Gefühl, etwas wert zu sein, etwas zu können, gemocht zu werden.4
Menschen mit Demenz erleben sehr oft diese schlechten Gefühle. Und sie haben aufgrund der Krankheit keine Möglichkeit mehr, sie kraft des Denkens zu sortieren, abzuschwächen, zu relativieren. Die Auswirkungen sind viel unmittelbarer und tiefer als bei Gesunden.
Habe ich voll kreativen Schaffensdrangs bunte Blumen zu einem wunderbaren Gesteck gebunden, ernte ich Lob. Habe ich sie aber geköpft und mich gefreut, wie sie zu Boden gefallen sind, ernte ich Schelte. Habe ich Kleider für meine Kinder genäht, wurde ich bewundert. Habe ich aber das bunte Tischtuch sorgfältig zerschnitten, wurde ich getadelt. Habe ich die Familie sicher über die Hungerzeit gebracht, waren alle stolz auf mich. Habe ich aber Brot in meinem Nachttisch vorsorglich versteckt, schimpfen alle mit mir. Warum? Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Wir Gesunden können nie wissen, was in den Köpfen der demenzkranken Menschen vor sich geht. Mit welchen Bildern sie das tun, was sie gerade tun. Sie können es uns nicht sagen. Sie wähnen sich bei der damaligen „guten“ Tätigkeit – nur diesmal reagiert die Umwelt mit Abwehr. Die Folge ist immer größer werdende Unsicherheit, immer weniger Selbstvertrauen, immer mehr Scham, immer mehr Rückzug in Bewegungslosigkeit. Und immer seltener werden die guten Gefühle. Immer seltener das Wohlfühlen.
Es liegt an uns, ihnen die guten Gefühle zurückzugeben. Wir können Anregungen anbieten, damit sie etwas tun können – und dieses dann entsprechend wertschätzend zurückspiegeln. Und dann erleben sie wieder Freude und Wohlgefühl, Genuss und Geborgenheit. Und dann eröffnen sich unendlich viele Erfahrungen. Und zwar nicht auf einer rationalen Ebene, sondern auf einer leiblichen, „vorbewussten“ Ebene.
Ich spüre meine Hände und Arme, wenn ich einen Ball fange, ich sehe ihn und fühle sein Gewicht und seine Oberfläche. Mein Gehirn koordiniert die Bewegungen, sodass ich die Arme und nicht die Beine bewege, mein Gedächtnis kramt in alten Mustern und findet dort „fangen und werfen“ und setzt es automatisch ein. Meine Muskeln und Gelenke bewegen sich, meine Sinne funktionieren. Eine unendliche Vielzahl von Prozessen läuft gleichzeitig ab: Mein Körper ist in Bewegung.
Aber da ist auch ein anderer Mensch, der mir den Ball zuwirft. Er ist nett und ich bin nicht allein. Ein Lächeln wärmt mir das Herz. Da sind auch noch andere Menschen um mich herum, das Lachen steckt an. Und da sind ganz verschiedene Bälle, die mir zugeworfen werden: mal ein kleiner, stacheliger, mal ein großer, glatter, mal gar kein Ball, sondern ein Kuscheltier. Alles fühlt sich anders an und braucht andere Wurftechniken.
Es ist interessant und lebendig. Ich bin lebendig.5
Und so wird deutlich, um was es geht: Damit es uns gut geht, müssen wir mit uns selbst und unserem Körper, eingebunden in unser soziales Netzwerk, mit der Umwelt, in der wir leben, möglichst gut zurechtkommen. Das muss man immer, solange man lebt. Aber je besser es gelingt, umso besser geht es uns und umso wohler fühlen wir uns. Und können die jeweils gestellten Aufgaben lösen. Wir sind selbstständig und unabhängig, fühlen uns nicht den Lebenswidrigkeiten hilflos ausgeliefert und sind überzeugt davon, dass es schon das Richtige ist, was wir tun. Wir können achtsam und verantwortungsvoll mit uns und der Umwelt umgehen. Ideale Ziele – in jeder Lebensspanne. Für ein Kindergartenkind wie für einen Erwachsenen. Und für einen Menschen mit Demenz auch.
Genau das sind die Grundprinzipien der Psychomotorik. Sie will dazu beitragen, dass jeder Mensch genügend Kompetenzen und Ressourcen besitzt, seine individuellen Aufgaben zu bewältigen, sein Leben zu meistern. Unser Medium ist die Bewegung. Durch Bewegung kommen wir in Kontakt mit dem ganzen Menschen, mit Körper, Geist und Seele.
In Bezug auf die Lebensspanne Alter wurde das Konzept Motogeragogik entwickelt, das sich gezielt auf die Bedürfnisse älterer und alter Menschen bezieht. In den Bewegungsstunden wollen wir die Fähigkeiten stärken, die
■ auf die Person bezogen sind (Ichkompetenz),
■ auf ihre Eingebundenheit in ihr soziales Netzwerk wirken (Sozialkompetenz),
■ auf ihr Zurechtfinden in der Umwelt abzielen (Sachkompetenz).
Ein vielfältiges Angebot strukturiert die Praxis 6.
Beschäftigen wir uns mit Menschen mit Demenz, greift dieses differenzierte Modell so nicht mehr. Es geht nun nicht mehr darum, dass sie Kompetenzen erwerben sollen, sondern vielmehr darum, dass sie vorhandene nutzen. Menschen mit Demenz wird – weil der Verstand nachlässt – zu oft abgesprochen, dass sie Ressourcen haben. Damit sie sie nutzen, sind sie allerdings darauf angewiesen, (weil sie es selbst nicht mehr herstellen können), dass ihnen die Umwelt die entsprechenden Anforderungen bereithält. Denn darüber wirkt es wieder zurück auf das Personsein. Positive Gefühle müssen erlebt werden – immer wieder neu – aus der Erinnerung, die zudem immer mehr schwindet, können sie nicht mehr stützend wirken. So, wie sie sind, wie sie fühlen, erleben, denken, genau so muss ihnen begegnet werden. In unseren erwachsenen Augen: einfacher, basaler. Alles „komplizierte“ muss wegfallen. Sie könnten es nicht verstehen – aber das Gefühl der Beschämung, etwas nicht gekonnt zu haben, würde sich dennoch einschleichen.
Auch wenn es anders erscheint: Menschen mit Demenz können sehr wohl kommunizieren und interagieren. Auf eine unverfälschte, direkte Art. Wir Gesunden müssen nur lernen, ihre Sprache zu verstehen, die Zeichen zu lesen und zu deuten. Sie können uns nicht mehr verstehen – wir sie schon.
Menschen mit Demenz müssen genau wie jeder in Mensch in anderen Entwicklungsstufen sich selbst spüren, sich eingebunden fühlen und etwas tun, damit sie sich wohl fühlen. Wir müssen Wege finden, ihnen zu begegnen – und ihnen das Gefühl geben: ich kann etwas! Ich bin etwas wert. Und ich...