Jenseits einer Sportart - Das Energiekonzept
Um mit und durch Bewegung an Herz und Hirn zu gesunden, ist das Betreiben einer speziellen Sportart hilfreich, aber nicht nötig. Eine Fülle von Erkenntnissen zeigt den eigentlich auch selbst entwickelbaren Ansatz: Sei einfach aktiv. Der moderne „Couchling“ bewegt sich aufgrund seiner beruflichen und privaten Lebensvorlieben und „Überlebenszwänge“ nur wenig. Der Lebenskampf findet oft im Sitzen statt. Nicht einmal mehr ist das so beliebte Substitut (Ersatz) des Jagens – das Shoppen – an Bewegung gebunden. Bequem lässt sich schon längst am Rechner das Schnäppchen ins Visier nehmen und erle(di)gen. Dieser Umstand wiegt insofern schwer, da unser Körper evolutionsbiologisch noch immer auf regelmäßige Aktivität hin ausgelegt ist.
Was bedeutet Evolution?
Im biologischen Sinne beinhaltet Evolution eine kontinuierliche und gerichtete Veränderung. Nach dem englischen Forscher Charles Darwin (1809 - 1882) beruht Evolution auf dem zufälligen Auftreten genetischer Variationen und der natürlichen Bevorzugung der darin befindlichen vorteilhafteren Varianten. Evolution ist ein Prozess, der genetische Variation und Auswahl bereitstellt und braucht. Auch der Mensch hat eine Jahrmillionen währende Evolution durchlaufen.
Alte Gene in zeitgenössischen Klamotten
Unser Genpool (Erbanlagen) wurde für das Überleben in der für uns jeweils vorgesehenen ökologischen Nische (Lebensraum) über den Vorgang der natürlichen Selektion über Jahrhunderttausende hinweg auf Lebensbedingungen zugeschnitten, von denen wir uns inzwischen deutlich entfernt haben. Seit der Zuwendung zu Ackerbau und Viehzucht vor etwa 12.000 bis 13.000 Jahren haben aber, aufgrund des kurzen Zeitraumes, keine oder nur wenige genetische Veränderungen stattgefunden. Deshalb ist sicherlich der größte Anteil unseres Erbguts noch immer bestens an das Leben als Jäger und Sammler angepasst, also noch immer für Bewegung vorgesehen. Daraus resultiert ein Missverhältnis zwischen genetischer Anlage und modernen Lebens- und Umweltbedingungen, zwischen Bauplan und Einsatz. Quasi als Ferrari konzipiert fahren wir ständig im ersten Gang und mit schnalzender Kupplung. Befindlichkeitsstörungen und Erkrankungen sind nicht nur die Folge des Älterwerdens, sondern zunächst einmal auch die Konsequenz aus der Schere zwischen dem, wofür wir gedacht sind, und dem, was wir tun. Im Zentrum des Gefährdungspotenzials „sitzt“ - neben physikalisch-chemischen Umweltbelastungen, unreflektierter Ernährung, hoher Aufgabendichte und Überforderung - der Bewegungsmangel. Wir sind von Kopf bis Fuß eigentlich Jäger und Sammler. Dafür bieten 100 Prozent unserer Gene beste Konstruktionspläne. Kraftanforderungen gepaart mit Ausdauerleistungen und zwischengelagerten, ordentlichen Ruhephasen, das wäre für uns der ideale Alltag. Welches Potenzial an Kraft und Ausdauer in uns schlummert, das zeigt ein Kraft- oder Ausdauertraining. Anpassungen werden sichtbar, die unserer archaischen Leistungsfähigkeit entsprechen würden. Damit ist nicht gemeint, dass jeder von uns ein „Hasta-la-vista-baby“ werden könnte, sondern nur - und das ganz vorsichtig -, dass die in uns schlummernde archaische (ursprünglich mögliche) Figur und ihr genetisches Potenzial mehr hergeben und meist mehr nach Bewegung ausschauen würden.
Gerade beim Krafttraining wird die Anpassung deutlich. Der Muskel wächst, und zwar so, wie es die Variationsbreite der eigenen Gene zulässt. Beim einen mehr und schneller, beim anderen weniger und langsamer. Unser krafttrainierter Körper deutet an, wie er vor langer Zeit hätte aussehen können. Aus dieser Sicht bildet unser an Ausdauer, Beweglichkeit, Muskulatur und Koordination verarmter Körper eine eher „krisenhafte“ Form dessen ab, was eigentlich biologisch vorgesehen und möglich wäre. Ein Schatz, den es zu heben gilt.
Für viele unserer Gene bedeutet Inaktivität „biologische Funkstille“ und damit Funktionsverlust. Gene arbeiten nicht alleine, sondern im Konzert mit anderen. Dieses Konzert „klingt“ nicht wie früher. Daraus mögen sich u.a. die uns bekannten Störungen ergeben. Nicht unbedingt fehlen die Gene für ein gesundes und vitales Leben, sondern die für deren Funktionserhalt notwendige artgerechte Nutzung unserer biologischen Klaviatur. Die biologische Evolution kann mit der heutigen gesellschaftlichen Rasanz der technologischen Evolution nicht Schritt halten. Größere Veränderungen in der menschlichen Entwicklung zeigen sich nur alle paar Millionen Jahre. Das ist fatal, da eine „archaische Biologie“ auch heute noch einen körperlich aktiven Lebensstil hoch hält. Eine körperlich aktive Lebensweise hat daher eine große, nicht nur präventive sondern auch tief humanistische (Humanitas (lat.) Menschlichkeit; Interessen, Werte, Würde jedes einzelnen stehen im Vordergrund).
Um verstehen zu können, warum Bewegung gut tut, ist es hilfreich, zurück in die Vergangenheit unserer Menschheitsgeschichte zu schauen. Werfen wir einen Blick in die Stammesgeschichte des Menschen, die vor einigen Millionen Jahren ihren Anfang in Afrika nahm. Man geht davon aus, dass sich der gemeinsame Weg von Mensch und Affe vor etwa 5 bis 7 Millionen Jahren trennte. Bereits damals stand Bewegung seit geraumer Zeit im Zentrum des Überlebens. Schon immer musste Nahrung beschafft, der Nachwuchs versorgt und vor Gefahren geflüchtet werden.
Blick in den Rückspiegel
Die Beschreibung der Entwicklung des Menschen - gerade des frühen Menschen - basiert auf Spuren-, Werkzeug- und Knochenfunden. Mit den Geschichten, die sie erzählen, lässt sich in groben Zügen der Werdegang des Menschen skizzieren. Folgendes glaubt man in etwa zu wissen:
Vor 6 - 8 Millionen Jahren veränderten sich in der Wiege der Menschheit wahrscheinlich die Umweltbedingungen. Eine längere Trockenperiode setzte ein, wodurch sich die Bewaldung in Ost- und Südafrika drastisch reduzierte. Tropische Wälder in Afrika zogen sich zurück und wandelten sich zu mosaikartigen Savannen- und Buschlandschaften. Lebens- und „Nahrungsinseln“ entstanden, die größere Ausflüge zur Nahrungssuche nötig machten. Etwa zu dieser Zeit vollzog sich der Schritt zum aufrechten Gang. In der freien, offenen Savanne, die weniger Schutz gab als der Wald, bot der aufrechte Gang Vorteile. Nahrung, Wasser oder Feinde konnten schneller erspäht werden. Ein paralleler Ansatz geht davon aus, dass der Mensch im Wald lebte und sich bereits hier der aufrechte Gang entwickelte.
Die von der Fortbewegung befreiten Hände ermöglichten den Einstieg in eine technische „Evolution“ und erlaubten den Transport von Nahrung. Verblieben Weibchen und Jungtiere in einem engeren Lebensraum um eine Art Lager, erweiterte sich der Aktionsradius der Männchen. Damit mag auch das gut gepflegte Klischee zusammen hängen: Das weibliche Geschlecht tue sich mit Orientierungsleistungen im Gelände schwerer - wagen Sie durchaus einmal eine familiäre Analyse. Vor etwa 12.000 – 13.000 Jahren begann der Mensch in Südwestasien (z.B. Ostküste Mittelmeer, südliche Türkei, Syrien, Jordanien, Iran, Irak) mit dem Sesshaftwerden und der Vorratshaltung in Form von Ackerbau und Viehzucht.
Der Mensch verbrachte somit die meiste Zeit seines Daseins als Jäger und Sammler. Physische, psychische und emotionale Eigenschaften des modernen Menschen sind damit Abbilder der Umweltbedingungen und Aufgaben, die das Leben und Überleben im Verlaufe von Jahrmillionen stellte. Wer es nicht glaubt, der erinnere sich nur einmal daran, was passiert, wenn es beim Spaziergang durch den Wald in dunkler Nacht knackt. Ein Schreck durchläuft den Körper. Nicht anders als in der Steinzeit (etwa vor 2,6 Mio. Jahre bis 2.300 Jahre v. Chr.) warten wir gespannt auf einen Angriff. Da kann sich unser aufgeklärtes Großhirn noch so oft einreden, dass da „ja“ gar nichts ist. Beim Sporteln in der Nacht wird der Busch zum geheimnisvollen Unbekannten, der Papierkorb an der Straßenlaterne zum potenziellen Wadenbeißer oder dichtes Gras zum angriffslustigen Getier. Der menschliche Körper reagiert archaisch (ursprünglich). Die Alarmreaktion als biologische Überlebenshilfe stimmt ein in: Flucht oder Angriff? Der Organismus mobilisiert. Stresshormone fluten. Der Blutdruck steigt. Der Puls beschleunigt. Der Organismus sitzt in den Startlöchern.
Bewegungsdefizitärer Lebensstil
In den Anfängen bestimmten Jagen, Sammeln, Tragen, Graben, Suchen, Umherziehen und Fliehen den Alltag und entschieden darüber, wie erfolgreich gelebt und überlebt wurde. Später kamen Fischen, Bauen, Werkzeuge erstellen, Feuer bewahren und vieles andere dazu. Man nimmt an, dass sich der Mensch in den letzten 40.000 bis 50.000 Jahren, trotz aller sozialen und technischen Veränderungen, genetisch nicht wesentlich verändert hat. Im Verlauf unserer Menschheitsgeschichte haben wir uns aber infolge technischer Errungenschaften immer weiter von dem weg bewegt, was uns Jahrmillionen lang begleitete: Bewegung, Bewegung, Bewegung. Ohne Bewegung "lief" nicht viel. Unübersehbarer Ausdruck dessen ist, dass die Natur einen Organismus mit viel Muskulatur favorisiert. Zudem sind viele Organe dem reibungslosen Funktionieren der Kraft und Ausdauer erzeugenden Muskulatur untergeordnet. Energiegewinnung und Energienachschub sicherten einst das Überleben und standen daher biologisch im Vordergrund. Mit der industriellen Revolution, der folgenden Automatisierung und der weiteren Fortschritte in der Computer- und Informationstechnologie wurde Bewegung zum existenziellen Erhalt des Lebens immer unbedeutsamer:
Vom Bett ins Bad. Vom Bad zum Frühstückstisch. Von dort ins Auto. Vom Auto in den Lift. Vom Lift...