3 Die Lebenswelt der Kinder heute
Viele Autoren haben bereits zum Thema der Lebenswelt von Kindern Stellung genommen. Ich möchte im Folgenden einige von den Autoren angesprochenen Aspekte der veränderten Lebenswelt von Kindern sammeln, vergleichen und teilweise kurz im Hinblick ihrer Auswirkung auf die Schule verdeutlichen.
3.1 Die Familienkonstellation
Zwei Autoren, die versuchten die Lebenswelt der Kinder darzustellen, sind Stefan und Nikolaus Größing (2002, S. 13 ff.). Sie sprechen als erstes die Veränderungen in der Familienkonstellation an. Die „Herkunftsfamilie“ sei kleiner geworden. Die Rede ist von einer Zunahme von Ein-Kind-Haushalten und Zwei-Generationen-Familien oder einem alleinerziehenden Elternteil (der zumeist die Mutter sei). „Die traditionelle Ehe ist in Auflösung begriffen, Lebensabschnittspartner bilden immer häufiger die Familiengrundlage und ein Drittel aller Kinder in Mitteleuropa wächst als Scheidungskinder auf.“ (Größing & Größing 2002, S. 13).
Risswick (2006, S. 32), welche sich auch mit der Thematik beschäftigte, spricht - wie auch Größing & Größing - von „Veränderungen in der Familienstruktur“. Sie macht dies besonders an den „Einkindfamilien“ fest, die laut ihrer Aussage 50,3% in Deutschland einnehmen. Zusätzlich spricht auch Risswick (vgl. 2006, S. 32 ff.) von einer Zunahme der ehelichen Scheidungen und der neuen Vielfältigkeit anderer Familienformen, wie z. B. Patchworkfamilien.
„Die Ein-Kind-Familie ist mittlerweile der am weitesten verbreitete Familientyp. 53% aller Haushalte mit Kindern haben nur ein Kind.“ lässt Schmidt (2009, S. 374) verlauten und Größing formuliert es mit folgenden Worten: „Die Familie ist zur Klein- und Intimgruppe geworden.“ (Größing 2001, S. 67). Schmidt & Süßenbach erkannten einen Anstieg der Anzahl der alleinerziehenden Eltern. Sie berichten, „dass von ca.14 Millionen Ehepaaren und Alleinerziehenden 51% aller Kinder momentan alleine aufwachsen und 36% mit nur einem Geschwisterkind“ (Schmidt & Süßenbach 2003, S. 8).
Aber es gibt auch Gegner dieser Aussagen. Kretschmer & Giewald (2001, S. 46) untersuchten selbstverantwortlich die Lebens- und Bewegungswelt der Kinder und stellten fest, dass man nicht von einem „Trend zur Einkindfamilie“ sprechen kann. Sie kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass etwa 80% der Grundschulkinder mit Geschwistern aufwachsen. „Ebenfalls weniger dramatisch haben sich die Familienverhältnisse verändert […]. Knapp 40% der Eltern sind Doppelverdiener. […] ein hoher Anteil der ca. 20% Alleinerziehenden ist berufstätig.“ (Kretschmer & Giewald 2001, S. 46).
Welche Aussagen wie stark zu gewichten sind möchte ich an dieser Stelle nicht weiter erläutern. Vielmehr ist es an dieser Stelle wichtig zu erkennen, welche Auswirkungen die unterschiedlichsten Familienkonstellationen haben können. Zusätzlich zu ihren Aussagen, trafen manche Autoren auch Überlegungen in Bezug auf solche möglichen Auswirkungen.
Diese Einzelkinder stünden oft zu stark im Mittelpunkt der Familie und müssten ihre Anforderungen und Wünsche so gut wie nie hinten anstellen, meint Risswick (2006, S. 32).
Durch das vermehrte Fehlen von Geschwistern oder Großeltern im Haushalt käme es zu einer Verminderung der Sozialbindungen, meinen Größing & Größing (2002, S. 13 ff.). Auch bei Schmidt & Süßenbach wird dieser Aspekt angesprochen: „Eine Lockerung der sozialen und kulturellen Beziehungen“ und damit eine „neue Formen psychischer Belastung“ (2003, S. 8) wären mögliche Auswirkungen. Jedoch sehen sie auch einen Vorteil durch diese veränderten Lebensbedingungen. Dadurch, dass Kinder sich gezielter um Spielpartner bemühen müssten bestünde die Chance, dass sie früh lernen auf andere Menschen zuzugehen (vgl. Schmidt & Süßenbach 2003, S. 8).
In der Schule müssen sich manche Kinder erst daran gewöhnen, dass sie nicht die einzigen in der Klasse sind. Außerdem können die Lehrkräfte diesen Kindern nicht die gleiche Menge an Aufmerksamkeit schenken, wie sie es von ihrem gewohnten Elternhaus kennen. Kinder müssen evtl. erst lernen Wünsche und Bedürfnisse hinten anzustellen, was zu Problemen führen könnte, wenn dies nicht erkannt wird.
3.2 Die Wohnsituation
Die Wohnsituation umfasst den Wohnraum und das Wohnumfeld.
Meistens spiele - laut Größing & Größing - im Hinblick auf die verminderten Sozialbeziehungen auch die Wohnsituation und die Freizeitbeschäftigung eine wichtige Rolle. Wird die Freizeit anstatt draußen mit den Nachbarkindern oder in einem (Sport-)Verein verbracht, könnten die Kinder - nicht nur durch eine ungünstige Familienkonstellation - keine sozialen Bindungen zu anderen Personen aufbauen. Größing & Größing meinen, dass dadurch eine vertiefte Bindung nur zu einer Bezugsperson entstünde. Außerdem sei das Wohnumfeld heutzutage oft so verdichtet, dass es den Kindern unmöglich würde auf Straßen, Plätzen oder Grünanlagen sorgenfrei spielen zu können. Diese Verdichtung des Lebensraumes im Wohnbereich erzwinge die alltägliche Bewegungsarmut und verführe geradezu zur Bewegungslosigkeit (vgl. Größing & Größing 2002, S. 11 ff.).
„Kinder, die ihre Umwelt als Bewegungswelt wahrnehmen, auch wenn sie längst verbaut, zubetoniert, asphaltiert und reglementiert, eben für Autos und für Erwachsene gemacht ist, werden immer seltener.“ (Zimmer 1997, S. 20).
Zimmer benennt folgende Merkmale des sozialen Wandels:
„freie Spiel- und Bewegungsräume verschwinden; sie werden durch institutionalisierte, organisierte Spiel- und Sportghettos ersetzt;
die Kinder werden von der Straße in die Häuser verdrängt, enge Wohnungen verlangen platzsparendes, leises, körperloses Spielen […];“ (Zimmer 1997, S. 21)
Die Auswirkungen auf die veränderte Wohnsituation beschreibt Zimmer folgendermaßen: „Bewegungs- und Spieltraditionen gehen verloren, der Rückgang altersübergreifender Spielgruppen bewirkt, daß Spielkultur nicht mehr von älteren Kindern an jüngere Kinder weitergegeben wird.“ (Zimmer 1997, S. 21).
Aufgrund der Wohnsituation versuchen bewegungsfreundliche Eltern diesen Bewegungsmängeln ihrer Kinder manchmal mit zahlreichen Angeboten entgegenzuwirken. „40% aller Kinder im Westen haben drei oder mehr feste Termine in der Woche […].“ (Schmidt 2009, S. 375).
„Im Wohnbereich des Kindes reduzieren sich die Gelegenheiten zum spontanen Spielen und Bewegen in „naturbelassenen Freiräumen“ und vermehren sich die Angebote des Vereins- und Kommerzsports.“ (Größing 2001, S. 68).
„Charakteristisch für die heutige Kindheit ist der Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsgelegenheiten und der Ersatz durch künstlich geschaffene Plätze zum Spielen, die von Kindern oft nicht selbstständig erreicht werden können und wo zudem das Spielen ohne Aufsicht von Erwachsenen kaum möglich ist.“ (Zimmer 2004, S. 21).
Deshalb müssen Eltern oft die Kinder zu den weit entfernten Bewegungs- oder Sportmöglichkeiten bringen. Größing betitelt aus diesem Grund die Sport- oder Freizeitstätte als eine „Sportinsel“. Dadurch, dass diese Ausflüge zumeist geplant sind, wird auch von einem „Freizeitplan“, einer „Terminkultur“ (vgl. Schmidt & Süßenbach 2003), einer „Institutionalisierung der Kindheit“ und „verplanter Kindheit“ (vgl. Kretschmer & Giewald 2001) gesprochen.
Überdies kann es nicht nur zu einer Bewegungseinschränkung durch das Wohnumfeld, sondern auch durch den Wohnraum stattfinden. Damit werden unter anderem die Kinderzimmer gemeint, die das Spielen durch z. B. viel zu viel Spielzeug eher hindern anstatt zu fördern. Bei der Fülle an Spielzeug können sich Kinder kaum entscheiden mit was sie zuerst spielen sollen oder verlieren schnell die Lust sich länger mit nur einem Spielzeug zu befassen. Die Autoren bemängeln außerdem, dass das Spielzeug meist nicht zum Herstellen oder Reparieren anrege, sondern vielmehr zum Alleinspielen und zum reinen Verwenden. Es verleite die Kinder somit zum reinen Konsumieren und unterbinde damit die Selbstgestaltung ihrer Spiele. Es seien nur „Fertigprodukte für fertige Tätigkeiten“ (Größing & Größing 2002, S. 11 ff.).
3.3 Die Konsum- und Medienwelt
Zur Konsumwelt und der Mediennutzung gibt es unter den Autoren eine einheitliche Meinung im Hinblick auf die Lebenswelt der Kinder.
„Wir leben mitten im Medien- und Computerzeitalter.“ (Kiphard 1997, S. 48). Schmidt & Süßenbach sprechen von „einer Vollversorgung bezüglich Fernsehen (74,8%), CD-Player (91%), Videospielen (69,6%) und Computer (58,7%)“ (Schmidt & Süßenbach 2003, S. 15 ff.), dabei machen sie deutlich, dass je niedriger der soziale Status sei, desto eher würde Fernsehen und somit die „passive Nutzung“ im Alltagsleben der Kinder eine Rolle spielen. Ein nicht bewegungsanregender Erziehungsstil der Eltern sei meist mit einem hohen Medienkonsum der Kinder verbunden. Computer, Nintendo, Gameboy, Fernseher...