Der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers und die Anmeldung der Insolvenz am 15. September 2008[1] gilt als Auslöser einer weltweiten Finanzkrise, die sich auch auf die realen Warenmärkte ausgebreitet hat. Vor diesem Hintergrund erlitten deutsche Unternehmen einen erheblichen Gewinneinbruch in den Jahren 2008 und 2009, welcher in 2009 auch mit einem Umsatzrückgang einherging. Die Prognostizierbarkeit zukünftiger Gewinne und Geschäftschancen wurde durch die Finanzkrise ebenfalls geschwächt.
Trotzdem mussten die Unternehmen Rechnung legen und benötigten dazu in gewissen Umfang Gewinnprognosen um den Ansatz bestimmter Postionen zu begründen. Dazu zählen auch die aktiven latenten Steuern auf steuerliche Verlustvorträge, die für Unternehmen, empirischen Studien zufolge, eine herausgehobene Stellung einnehmen. So ergab sich, dass im Maximum aus 101 im Jahre 2005 analysierten Unternehmen des DAX, MDAX, SDAX und TecDAX das Eigenkapital zu knapp 74% aus der Aktivierung steuerlicher Verlustvorträge bestanden hat.[2]
Aktive latente Steuern aus steuerlichen Verlustvorträgen werden aktiviert, wenn u.a. in Zukunft mit steuerpflichtigen Gewinnen gerechnet werden kann. Dies hat zur Konsequenz, dass sich das Eigenkapital in der Bilanz erhöht, da die Buchung erfolgswirksam vorzunehmen ist. Sollten sich die Gewinnprognosen in späteren Jahren verschlechtern, muss ein Teil der aktivierten latenten Steuern auf steuerliche Verlustvorträge wertberichtigt werden, wenn eine spätere Realisation nicht mehr wahrscheinlich ist. Die Wertberichtigung führt zu Aufwand, der das Eigenkapital in einer Zeit verringern könnte, in der die Ertrags- und Finanzlage des Unternehmens schon durch z.B. Umsatzrückgang oder Verluste geschwächt sein könnte. Somit ergibt sich eine Situation, die sich mit Schildbachs oft zitierten Worten beschreiben lässt:
„In der Krise werden aktive latente Steuern [...] zum Mühlstein am Halse, der das bedrohte Unternehmen endgültig in den Abgrund reißt“[3]
Die Unternehmen besitzen jedoch gewisse Bilanzierungsspielräume beim Ansatz steuerlicher Verlustvorträge als aktive latente Steuern und können so in Krisensituationen unterschiedlich reagieren. Der zusätzliche Ansatz steuerlicher Verlustvorträge führt über die Buchung von Ertrag c.p. zu höherem Eigenkapital, das besonders in der Krise für die Unternehmen auf Grund der daran gekoppelten Covenants und Kreditratings an Bedeutung gewinnt. Allerdings muss dieser Ansatz fundiert dargelegt und begründet werden können und gibt vor allem bei steigenden Verlustvorträgen Anlass zum Hinterfragen der Überlebenschancen des Unternehmens. Daher könnte ein höherer Bestand an steuerlichen Verlustvorträgen an sich Anlass sein, die bestehenden aktiven latenten Steuern auf steuerliche Verlustvorträge im Wert nach unten zu berichtigen.
Beispielhaft sei hier das Unternehmen Sky Deutschland AG (bis 2008 Premiere AG) erwähnt. Es hatte in 2005 noch 94 Mio. Euro an aktiven latenten Steuern auf steuerliche Verlustvorträge angesetzt. Bei einem Eigenkapital von 798 Mio. Euro machte dies knapp 12% des Eigenkapitals aus.[4] In 2006 wurde der Ansatz mangels positiver Gewinnprognosen fast in vollem Umfang auf knapp 3 Mio. Euro wertberichtigt.[5] Zusammen mit anderen Faktoren führte dies zu einem latenten Steueraufwand von ca. 107 Mio. Euro,[6] der das Eigenkapital c.p. innerhalb eines Jahres um mehr als 13% verringerte. Nach dieser Maßnahme hat die Sky Deutschland AG seit 2007 überhaupt keine steuerlichen Verlustvorträge mehr aktiviert. Die Sky Deutschland AG zeigt damit, welche volatilen Schwankungen die Berücksichtigung steuerlicher Verlustvorträge für den Eigenkapitalausweis in schwierigen Zeiten bedeuten kann.
Die Existenz höherer steuerlicher Verluste führt also c.p. entweder durch die Aktivierung zu einem besseren Ergebnis (Sky Deutschland AG bis 2005) oder zu einem schlechteren Ergebnis (Sky Deutschland AG in 2006) als ohne Berücksichtigung latenter Steuern (Sky Deutschland AG ab 2007). Dies hat unmittelbar Auswirkungen auf das Eigenkapital. Ein Ziel der empirischen Analyse ist es daher, herauszufinden, ob sich eine Tendenz in eine der beiden Richtungen feststellen und sich so der von Schildbach als offen bewertete Nettoeffekt[7] latenter Steuern in Krisenzeiten bestimmen lässt.
Besonderes Augenmerk wird auf die Auswirkung der Bilanzierung von latenten Steuern auf Grund steuerlicher Verlustvorträge auf das Eigenkapital gelegt. Es soll herausgefunden werden, ob es in Krisenzeiten durch die Aktivierung tendenziell erhöht oder durch die Wertberichtigung tendenziell verringert wurde. Im Mittelpunkt steht also die Frage nach den krisenbedingten Effekten steuerlicher Verlustvorträge auf das Eigenkapital. Im Vorfeld soll untersucht werden, ob sich das Ansatzverhalten steuerlicher Verlustvorträge durch die Krise verändert hat, was bereits erste Indizien für den Effekt auf das Eigenkapital liefert kann. In diesem Zusammenhang wird auf die Bilanzierungsspielräume einzugehen sein, um herauszuarbeiten, inwieweit sie existieren und darüber hinaus von den Unternehmen bei der Bilanzaufstellung genutzt wurden.
Vor diesem Hintergrund versucht die vorliegende Arbeit über den Zeitraum der letzten fünf Jahre eine Aussage über die Bilanzierung latenter Steuern auf Verlustvorträge im Trend zu machen. Dazu erfolgt eine Analyse der Geschäftsberichte ab dem Jahr 2005, die nach den internationalen Rechnungslegungsstandards IFRS aufgestellt worden sind. Die IFRS stehen allgemein für die Summe der verpflichtend anzuwendenden Verlautbarungen des IASB und bestehen aus den IFRS, IAS, IFRIC und SIC.[8] Im Folgenden wird der Begriff „IFRS“ ebenso verwandt.
Die Analyse der Geschäftsberichte ab dem Jahr 2005 hat zum einen als Hintergrund, dass ab diesem Jahr die grundsätzliche Anwendung der IAS/IFRS für kapitalmarktorientierte Unternehmen in der EU Pflicht ist, sodass ein einheitliches Regelwerk zu Grunde liegt. Zum anderen ermöglicht es die Analyse von fünf konsekutiven Jahren, einen gewissen Trend abzubilden und etwaige Verzerrungen durch eine punktuelle Betrachtung, wie sie in einigen Untersuchungen bereits vorgenommen wurden,[9] zu vermindern.
Es wird auf die besondere Situation durch die Finanzmarktkrise in der Weise eingegangen, dass Geschäftsberichte analysiert werden, die i.d.R. in 2009 vollständig und in 2008 zumindest im letzten Quartal den Auswirkungen der Finanzkrise unterworfen waren. Mehr Informationen waren aus den offen zugänglichen Rechenwerken noch nicht erhältlich, so dass hier eine gewisse Einschränkung vorzunehmen war. Die Effekte aus der Finanzkrise können also nicht vollumfänglich analysiert werden, da der Betrachtungszeitraum zu kurz ist. Es kann jedoch ein gewisser Trend herausgearbeitet werden.
Im Rahmen des Konvergenz Projekts zwischen den IASB und FASB mit dem Ziel einer möglichst großen Übereinstimmung zwischen IAS 12 und SFAS 109 wurde im März 2009 der Diskussionsentwurf ED/2009/2 veröffentlicht.[10] Nach Angaben des IASB soll das Projekt in 2011 abgeschlossen werden, nachdem es bis zur zweiten Jahreshälfte 2010 verschoben wurde.[11] In der Literatur geht man jedoch eher von einer einstweiligen Nichtverfolgung aus.[12] Da die Jahresabschlüsse der untersuchten Unternehmen sich auf die Jahre 2005 bis 2010 beziehen, standen sie noch nicht unter dem Einfluss der geplanten Neuregelungen. Aus diesen Gründen wird der Diskussionsentwurf nicht näher in der Arbeit erläutert.[13] Es erfolgt eine Beschränkung auf die aktuell anzuwendende IFRS-Vorschrift.
Zinsvorträge nach § 4h EStG, § 8a KStG sind unter die gleichen Regelungen für operative Verlustvorträge zu subsumieren.[14] Sie werden hier jedoch nicht näher betrachtet.[15] Jedoch können sie bei ungenauen Angaben der Unternehmen zu ihren Verlustvorträgen bei der empirischen Analyse miteingeflossen sein.
Die Analyse basiert auf den Konzernabschlüssen der Unternehmen des DAX und MDAX. Aus der Konsolidierung ergeben sich wesentliche latente Steuereffekte aus unterschiedlichen Bilanzansätzen,[16] jedoch in Deutschland bis auf Gestaltungen mittels Organschaftsmodell[17] nicht aus Verlustvorträgen. Die Effekte aus steuerlichen Organschaften auf die Bilanzierung steuerlicher Verlustvorträge konnten jedoch anhand des verfügbaren Datenmaterials selbst bei Offenlegung wie z.B. bei der ProSiebenSatlMedia AG[18] oder der SGL CARBON SE[19] nicht für die Analyse separiert werden. Daher wird auf diese Besonderheit nicht näher eingegangen.
Ausgangspunkt der Arbeit ist die theoretische Darstellung der Bilanzierungskonzeption nach IFRS in Kapitel 2. Dabei wird nur auf die aktiven latenten Steuern auf steuerliche Verlustvorträge eingegangen. Kapitel 2.1 stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen sich die IFRS bewegen. Die wesentlichen Konzepte der Bilanzierung von Steuern enthält Kapitel 2.2, sodass anknüpfend in Kapitel 2.3 auf die Besonderheiten der steuerlichen Verlustvorträge eingegangen wird. Kapitel 2.4 arbeitet die theoretischen wirtschaftlichen Auswirkungen steuerlicher Verlustvorträge heraus. Die...