Lyon. Die Rhone und die Hexe von Avignon
Chalons ist ein hübscher Rastort, wegen seines guten Gasthofes am Ufer des Flusses und der kleinen gar schmuck rot und grün angestrichenen Dampfboote, die auf ihm hin und her fahren; das ist ein angenehmes und erfrischendes Schauspiel nach dem staubigen Weg. Aber außer wenn ihr auf einer ungeheuern Ebene wohnen wollt, mit krummen Reihen von wetterzerrissenen Pappeln, die aus der Ferne wie Kämme mit zerbrochenen Zähnen aussehen, und außer wenn ihr gern euer ganzes Leben zubringen wollt, ohne die Möglichkeit, einmal bergauf zu gehen, oder überhaupt etwas anderes hinaufzusteigen als Treppen, wird euch schwerlich Chalons als Wohnort gefallen.
Wahrscheinlich aber wird es euch noch besser erscheinen als Lyon, welches ihr, wenn es euch sonst gefällt, in einem der vorerwähnten Dampfschiffe in acht Stunden erreichen könnt.
Welch eine Stadt Lyon ist! Ihr sprecht von Leuten, denen es zu gewissen unglücklichen Zeiten ist, als wären sie aus den Wolken gefallen! Hier ist eine ganze Stadt, die wie vom Himmel herabgefallen ist, nachdem sie erst wie andere Steine, die aus jener Region herabkommen, aus Morästen und öden Flecken, unheimlich anzusehen, zusammengelesen wurde! Die zwei großen Straßen, durch welche die zwei großen Ströme stürzen, und alle die kleinen Straßen, deren Name Legion ist, lagen da, kochend und rauchend im Sonnenbrand. Die Häuser hoch und groß, schmutzig über alle Maßen, verrottet wie alter Käse und ebenso dicht bevölkert. Bis zu der Spitze der Hügel hinauf, welche die Stadt eng einschließen, drängen sich diese Häuser, und die Wesen darin lagen faulenzend in den Fenstern und trockneten ihre zerlumpten Kleider auf Stangen und krochen zu den Türen rein und raus und traten heraus, um auf dem Pflaster mühsam kärgliche Luft zu schöpfen, und schlichen zwischen hohen Haufen und Balken verrotteter und stockiger Waren hindurch, und lebten oder starben vielmehr nicht, bis ihre Zeit kommen wird, unter dieser luftleeren Luftpumpen-Glocke. Alle Fabrikstädte, zu einer verschmolzen, würden kaum den Eindruck wiedergeben, den Lyon auf mich machte: denn alle Eigenschaften einer ausländischen Stadt, wo Abzugskanäle und Kehrbesen noch nicht erfunden sind, schienen hier auf das angeborne Elend der Fabrikstadt gepfropft zu sein; und daraus entstehen Früchte, denen ich gern ein paar Meilen aus dem Wege gehen würde, um sie nicht noch einmal zu sehen.
In der Kühle des Abends – oder vielmehr in der erstorbenen Hitze des Tages – gingen wir zum Dom, wo verschiedene alte Weiber und ein paar Hunde beschaulich verweilten. Hinsichtlich der Reinlichkeit war kein Unterschied zwischen dem steinernen Fußboden der Kirche und der Straßen zu bemerken; auch ein wächserner Heiliger war vorhanden, in einem kleinen Kasten, wie eine Schiffskoje mit einer Glastüre davor, eine Figur, mit der Madame Tussaud sich um keinen Preis würde abgeben wollen und deren sich selbst die Westminsterabtei hätte schämen können. Wenn ihr alles von der Architektur dieser Kirche oder einer andern, ihren Erbauern, ihrer Größe, ihrem Reichtum und ihrer Geschichte wissen wollt, so steht es ja geschrieben in Murrays Führer, und ihr könnt es dort lesen und ihm dafür danken, wie ich es tat!
Aus demselben Grunde würde ich auch die merkwürdige Glocke im Lyoner Dom nicht erwähnen, wäre es nicht des kleinen Irrtums wegen, in den ich bei diesem Kunstwerk verfiel. Der Sakristan der Kirche wollte sie mir durchaus zeigen; teils wegen der Berühmtheit des Domes und der Stadt, und vielleicht auch, weil er einen Anteil an dem Führergeld hatte, welches wir dann mehr geben mußten. Wie dem immer sein mag, die Uhr wurde in Bewegung gesetzt, worauf eine Unmasse kleiner Türen aufflog und zahllose kleine Figuren herausstolperten und wieder zurückfuhren mit jener eigentümlichen Ungewißheit, was sie zu tun hätten, und jenem Zucken in ihren Bewegungen, welches Figuren, die durch Uhrwerke bewegt werden, immer anhängt. Unterdessen erklärte der Sakristan diese Wunder und zeigte sie uns nach der Reihe mit seinem Stab. In der Mitte war die Jungfrau Maria, und dicht neben ihr ein Loch, wie in einem Taubenschlag, aus dem eine andere und sehr häßliche Puppe so plötzlich herausfuhr, wie ich es nimmer gesehen, bei dem Anblick der Jungfrau wieder verschwand und ihre kleine Tür heftig hinter sich zuschlug. In der Meinung, dies sei eine symbolische Darstellung des Sieges über Sünde und Tod, und durchaus nicht abgeneigt zu zeigen, daß ich in der Sache vollkommen unterrichtet sei, sagte ich, schnell dem Führer das Wort aus dem Munde nehmend: »Aha! Der böse Geist. Ganz recht. Er ist sehr bald abgetan.« » Pardon, Monsieur«, sagte der Sakristan, mit einer höflichen Handbewegung gegen das Türchen, als ob er jemand vorstellte, »der Engel Gabriel!«
Kurz nach Tagesanbruch am nächsten Morgen fuhren wir mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde die pfeilschnelle Rhone hinab, in einem sehr schmutzigen Dampfschiff voller Waren und mit nur drei oder vier anderen Passagieren als Reisegefährten. Unter ihnen war der merkwürdigste ein lächerlicher, alter, demütig aussehender, knoblauchessender, unendlich höflicher Chevalier, mit einem Stückchen schmutzigen roten Bandes im Knopfloch, als ob er es hineingeknüpft hätte, um sich an etwas zu erinnern: gerade wie Tom Noddy in der Farce Knoten in sein Taschentuch schlingt.
Während der letzten zwei Tage hatten wir große düstere Hügel, die ersten Vorläufer der Alpen, in der Ferne grauen sehen. Jetzt schossen wir neben ihnen hin: zuweilen dicht an ihrer Seite, zuweilen lag noch ein sanfterer Abhang zwischen uns und ihnen, bedeckt mit Weinbergen. Dörfer und kleine Städte hoch droben in der Luft mit großen Olivenwäldern, die man durch die luftigen offenen Türme ihrer Kirchen erblickte, während Wolken langsam über die steile Höhe hinter ihnen strichen; verfallene Burgen auf jeder Höhe und zerstreute Häuser in den Schluchten und Spalten der Hügel machten das Schauspiel sehr schön. Auch ließ ihre große Höhe die Gebäude sehr niedlich erscheinen, daß sie aussahen wie zierliche Modelle. Ihre außerordentliche Weiße auf dem Hintergrund der braunen Felsen oder dem düsteren und gesättigten Grün des Olivenbaumes und das zwerghafte Maß und die kleinen langsamen Schritte der Männer und Frauen an dem Rande gaben ein reizendes Bild ab. Auch Fähren ohne Zahl gab es; Brücken: der berühmte Pont d'Esprit mit ich weiß nicht wie vielen Bögen; Städte, wo bedeutende Weine gemacht werden; Valence, wo Napoleon studierte; und der großartige Fluß, der bei jeder Wendung neue Schönheiten zu Gesicht brachte.
Endlich lag noch an demselben Nachmittag die gebrochene Brücke von Avignon vor uns, und die ganze Stadt buk in der Sonne, allerdings mit einem bezinnten Wall, gelb wie eine schlechtgebackene Pastetenrinde, die niemals braun werden will, und wenn sie auch jahrhundertelang büke.
Die Trauben hingen dicht gedrängt in den Straßen, und der Oleander glänzte überall in voller Blüte. Die Straßen sind alt und sehr schmal, aber leidlich reinlich und beschattet von Markisen, die zwischen den Häusern aufgespannt sind. Grellfarbige Stoffe und Tücher, Kuriositäten, alte holzgeschnitzte Bilderrahmen, alte Stühle, gespenstisch aussehende Gemälde, heilige Jungfrauen, Engel und grell gemalte, plumpe Porträts standen darunter zum Verkauf, so daß die Stadt ganz eigentümlich und heiter aussah. Gehoben wurde dies noch durch zufällige Einblicke durch offenstehende rostige Tore, in schlummerstille Höfe mit stattlichen alten Häusern, still wie Gräber. Das Ganze war wie eine Beschreibung aus Tausendundeiner Nacht. Die drei einäugigen Derwische hätten an jede dieser Türen klopfen können, bis die Straße widerhallte, und der Türsteher, der durchaus nicht aufhören wollte zu fragen – der Mann, der die schönen Sachen am Morgen in seinem Korbe fand –, hätte öffnen können, ohne daß sich jemand darüber gewundert hätte.
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen gingen wir aus, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu betrachten. Ein so köstlicher Wind wehte vom Norden herüber, daß der Spaziergang ganz anmutig war, obgleich die Pflastersteine und die Mauern und die Häuser viel zu heiß waren, als daß man ruhig die Hand hätte daran legen können.
Zuerst gingen wir eine felsige Höhe hinauf zum Dom, wo die Messe zelebriert wurde vor einem Publikum, das dem in Lyon sehr ähnlich war, nämlich verschiedenen alten Weibern, einem kleinen Kind und einem Hund von unzerstörbarem Gleichmut, der sich eine Übungsbahn ausgesucht hatte, die beim Altargitter anfing und bei der Tür endigte und die er während der ganzen Dauer des Gottesdienstes so methodisch ruhig auf und ab trabte, wie es nur ein alter Herr im Freien tun konnte. Der Dom ist eine kahle, alte Kirche, und die Gemälde an der Decke sind von der Zeit und dem feuchten Wetter traurig mitgenommen; aber die Sonne schien herrlich durch die roten Fenstervorhänge und funkelte auf dem Altargerät; und alles sah so hell und freundlich aus, wie es nur zu verlangen war.
Ich ging beiseite, um einige Malereien anzusehen, die ein französischer Maler und sein Schüler in Fresco ausführen sollten, und musterte bei dieser Gelegenheit genauer, als ich sonst getan hätte, eine große Anzahl von Votivtafeln, mit denen die Wände der verschiedenen Kapellen überreichlich bedeckt waren – ich will nicht sagen, verziert, denn sie waren sehr roh und wunderlich ausgeführt, wahrscheinlich von armen Schildermalern, die sich auf diese Weise ein ärmliches Brot verdienen. Es waren lauter kleine Bilder, und jedes stellte eine Krankheit oder einen Unfall dar, aus dem die solches...