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E-Book

Bilder im Kopf

Die Geschichte meines Lebens

AutorClaudius Seidl, Michael Ballhaus
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641088231
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Mann der mit der Kamera malt
Michael Ballhaus ist einer der bedeutendsten Bildregisseure und Kameramänner der Welt. In Bilder im Kopf erzählt Ballhaus erstmals die Geschichte seines Lebens. Von der Flucht vor den Bombenangriffen auf Berlin, von seiner Kindheit auf Schloss Wetzhausen, wo seine Eltern, beide Schauspieler, das »Fränkische Theater« leiteten, eine Künstlerkommune, die eine ganze Dynastie an kreativen Menschen hervorbrachte. Als er als junger Mann dem Regisseur Max Ophüls bei seinem Film »Lola Montez« assistieren darf, beschließt Ballhaus Kameramann zu werden. Der Beginn einer großen Karriere, die ihn in engen Kontakt zu den ganz Großen des Filmgeschäfts bringen sollte.
Michael Ballhaus war stets darauf bedacht, seine Unabhängigkeit zu erhalten. Er hat Distanz bewahrt, wie es ein Kameramann tut, und sich dadurch die Möglichkeit geschaffen, sehr genau hinzusehen. Was er gesehen hat, erzählt er hier. Ein aufmerksamer Beobachter, der in diesem Buch die Kamera aber auch wendet, um sie auf sich selbst zu richten.

Michael Ballhaus, geboren 1935, ist einer der berühmtesten Vertreter seines Fachs. In Deutschland werden Künstler wie er immer noch leicht despektierlich »Kameramänner« genannt, obwohl sie eigentlich »Bildregisseure« heißen müssten. Ballhaus stand vierzig Jahre hinter der Kamera und hat achtzig Kinofilme gedreht, davon allein fünfzehn mit Rainer Werner Fassbinder. Später hat er die Visionen von Martin Scorsese, Mike Nichols, Francis Ford Coppola, Peter Lilienthal, Wolfgang Petersen und Robert Redford in Kinobilder umgesetzt.

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Leseprobe

1
Kindheit und Jugend

Krieg, Nachkrieg und Leben
in einer Künstlerkommune

Es waren gute Jahre in Berlin, das Glück des Kindes hing nicht davon ab, ob die Erwachsenen von Adolf Hitler nur leise und mit Abscheu sprachen. Und wenn es hieß: Halt die Klappe, wenn der Nachbar in der Nähe ist, er ist bei der Gestapo, dann machte mir das keine Angst. Es klang nach Spannung und Abenteuer.

Sie lebten, als ich geboren wurde, in Dahlem, haben später die Eltern erzählt. Aber das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist eine Wohnung in der Meerscheidtstraße, Berlin-Charlottenburg, gleich um die Ecke vom Kaiserdamm. Fünf Zimmer im vierten oder fünften Stock. Meine Mutter Lena war dunkelhaarig, ein Meter sechsundsechzig groß, eine resolute Person, die das Kommando übernahm, wann immer das Kommando übernommen werden musste. Sie war Schauspielerin und hatte doch mit uns Kindern, mit mir und meiner Schwester Nele, die drei Jahre nach mir geboren wurde, zu viel zu tun, als dass ihr die Zeit und die Kraft für eine große Karriere geblieben wären.

Mein Vater Oskar war Schauspieler und liebte das leichte Leben. Er hatte die Folkwangschule in Essen besucht und ernährte die Familie vor allem mit Engagements beim Radio, das Haus des Rundfunks lag nur ein paar Minuten entfernt. Er sah gut aus, die Frauen mochten ihn, und wenn er ein wenig neidisch auf seinen großen Bruder war, dann konnte er das gut verbergen. Carl Ballhaus hatte im »Blauen Engel« eine kleine Rolle gespielt und größere Rollen in kleineren Filmen, und in »M«, Fritz Langs berühmtem Film über eine Verbrecherjagd, war er der Mann, der Peter Lorre das »M« auf den Mantel zeichnete. Es waren solche Menschen, die in die Wohnung meiner Eltern kamen, Schauspieler, Künstler, Bohemiens, und dass die Eltern mit den Kommunisten sympathisierten, haben sie mir später erzählt, damals hätte ich das nicht verstanden.

Sie schickten mich, als ich alt genug war, zur deutsch-russischen Schule am Nollendorfplatz, wo ich Russisch als erste Fremdsprache lernte. Zwei, drei Sätze, mehr habe ich mir nicht gemerkt; man hat wenig Gelegenheit, sein Russisch aufzufrischen, wenn man in Westdeutschland und Amerika als Kameramann arbeitet.

Im Sommer mieteten sie ein Haus auf Valentinswerder, der hübschen kleinen Insel in der Havel, die nur mit dem Boot erreichbar ist. Man konnte dort gut schwimmen gehen, das Wasser war sauber, weil die Spree, die den ganzen Dreck der großen Stadt Berlin transportierte, erst weiter unten, in Spandau, in die Havel mündet. Ich kann mich erstaunlicherweise noch an die Adresse erinnern, Valentinswerder 85, so wie ich mich an unsere Berliner Telefonnummer erinnern kann, 933677, ich hatte immer einen Groschen dabei, damit ich meine Mutter anrufen konnte, falls irgendetwas passierte. Es ist erstaunlich, dass man sich eine sechsstellige Telefonnummer mehr als siebzig Jahre lang merken kann, während man viel wichtigere Dinge vergisst.

Ich erinnere mich zum Beispiel nicht mehr, wie genau das schöne langgestreckte Haus an der Ostsee mit der Familie meiner Mutter zusammenhing; die Großmutter, eine Pianistin, war gestorben, als meine Mutter noch ein Kind war. Der Großvater war Opernsänger, und irgendetwas hatte die Familie mit diesem Landhotel in Henkenhagen zu tun, dem Kurort in Westpommern, in der Nähe von Kolberg, wo wir manchmal hinfuhren in den endlosen Sommerferien meiner Kindheit. Jedes Zimmer hatte einen Balkon, und wenn man aus der Tür ging, stand man am Strand, und ich sprang jeden Morgen als Erstes ins Wasser, und das Kindermädchen wanderte manchmal am Meer entlang und sammelte den Bernstein, von dem es sehr viel gab, wie ich mich zu erinnern glaube.

Michael Ballhaus im Alter von vier Jahren

© privat

Ich weiß auch nicht mehr, wie der Film hieß, in dem mein Vater dann doch mal eine kleine Rolle hatte. Ich weiß nur noch, dass ich zu jung dafür war. Und dass mein Vater heftig einreden musste auf die Kassiererin, bis die mich dann doch hineinließ in den Kinosaal. Ich war gerade vier geworden, als der Krieg begann, und bald wurde mein Vater eingezogen. Wir sind ihn besuchen gefahren, erst in Fallingbostel, dann in Innsbruck, wo er bei der Flak seinen Dienst tun musste. Er war Obergefreiter, höher wollte er nicht kommen in der Wehrmacht, deren Krieg nicht seiner war, aber mit seinen Kameraden und den Vorgesetzten schien er ganz gut auszukommen, und irgendwann haben sie wohl gemerkt, dass er vom Theaterspielen und der Unterhaltung eindeutig mehr verstand als vom Schießen. Und so wurde er nach Frankreich abkommandiert, zur Betreuung und Unterhaltung der Truppe, wie es hieß, und nach allem, was er später erzählte, muss das eine herrliche Zeit gewesen sein. Der Krieg war weit weg, er konnte Theater spielen und Unterhaltungsprogramme gestalten, und wie so viele deutsche Soldaten, die als Besatzer nach Frankreich kamen, fand er keinen einzigen Grund, in den Franzosen die Gegner zu sehen und in deren Land das Feindesland. Er hat sich, ganz im Gegenteil, in dieses Land verliebt und anscheinend auch in die eine oder andere Französin, und als er zurückkam aus dem Krieg, merkten selbst wir Kinder, dass die Ehe unserer Eltern nicht mehr so gut funktionierte. Sie schliefen in getrennten Schlafzimmern.

Wenn es an der Tür klingelte in der Meerscheidtstraße, wurden wir sofort in unser Kinderzimmer geschickt; danach erst öffnete jemand die Tür. Denn eine Weile wohnte Herr Nebhut bei uns, der ein Freund der Eltern war, Schauspieler, Schriftsteller, Drehbuchautor, Jude. Ernst Nebhut musste sich verstecken vor den Nazis, meine Eltern stellten ihm ein Zimmer zur Verfügung, und wenn es Fliegeralarm gab und wir hinunter in den Keller gingen, musste er oben in der Wohnung bleiben. Irgendwann wollte er unsere Familie nicht länger in Gefahr bringen, er floh aus Berlin und konnte sich ins Ausland retten, in die Schweiz, nach Amerika, das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass er, als er nach dem Krieg zurück nach Deutschland kam, sehr erfolgreich war. Er schrieb Drehbücher fürs deutsche Kino, Theaterstücke, die gut liefen, und Liedtexte, ausgerechnet für Zarah Leander.

Einmal sah ich aus dem Fenster zum Hinterhof, wie zerlumpte Menschen in den Mülltonnen wühlten. Was tun die Leute?, fragte ich meine Mutter, und sie drückte mir eine Tüte mit Äpfeln und ein Stück Brot in die Hand und sagte: Gib das den Leuten, das sind russische Zwangsarbeiter, die brauchen etwas zu essen. Aber pass auf, dass dich der Hausmeister nicht dabei erwischt. Es ist nämlich verboten, denen etwas zu geben.

Ich schlief gut in den Nächten des Weltkriegs, ich fürchtete mich, wie so viele Kinder, vor der Dunkelheit, aber je länger der Krieg ging, desto heller wurden die Nächte. Es brannte ja immer irgendwo, und weil wir weit oben wohnten, drang auch der Schein entfernter Feuer in unser Kinderzimmer. Ich war zu jung, als dass ich verstanden hätte, welches Leid diese Brände für die bedeuteten, die in diesen Nächten ihr Zuhause verloren. Ich freute mich nur, dass es niemals absolut dunkel wurde. Und wenn Fliegeralarm war, freute ich mich auf das Abenteuer. Meine Mutter war nachtblind, ich nahm sie also bei der Hand und war stolz, dass ich auf sie aufpassen konnte, und unten im Keller spielten wir mit den Kindern des Gestapomannes. Der Junge hatte einen Sprachfehler, den fand ich sehr lustig, er nannte mich Misael, und zu meiner Schwester sagte er Niedel. Einmal wurden wir verschüttet im Luftschutzbunker, da hat uns dann doch die Angst gepackt. Die Tür war unerreichbar, Staub war überall, das Licht ging aus. Dass wir ziemlich bald befreit wurden, lag wohl daran, dass dieser Bunker dem Oberkommando der Kriegsmarine unterstand.

Ein andermal traf eine Brandbombe unser Haus. Sie explodierte nicht, der Schrecken war trotzdem groß, und je heftiger die Wut der Mutter wurde, auf Hitler, die Nazis, die diesen Krieg begonnen hatten, desto dringlicher wurden aber auch die Ermahnungen, da draußen gefälligst die Klappe zu halten. Der Hauswart war ein Nazi, kein bedeutender Funktionär, nur ein kleiner, ganz normaler Denunziant, und als er bekanntgab, dass der Führer sprechen würde, auf dem Adolf-Hitler-Platz, wie der heutige Theodor-Heuss-Platz damals hieß, war schon klar, dass das auch für uns ein Pflichttermin war. Ich war fünf oder sechs, ich kann mich an Adolf Hitler nicht erinnern. Vielleicht war er zu weit entfernt, vermutlich verstand ich einfach nicht, worum es ging. Woran ich mich aber genau erinnern kann, das ist die große Menschenmasse, die vor der Rede ganz still zu sein schien, gespenstisch schweigsam, der große Platz war voller Menschen, und keiner sagte ein Wort, und dieses Bild, diese gewaltige Stille, das fand ich gruselig und beängstigend. Und dann, in diese Stille hinein, brüllte die Stimme Hitlers, an die ich mich dann doch zu erinnern glaube. Aber wer weiß schon, siebzig Jahre später, ob er damals wirklich diese Stimme gehört hat. Oder ob er sie nur aus dem Radio kannte oder aus all den Dokumentationen, die später, als der Spuk vorbei war, den Schrecken zu erklären versuchten.

Im Sommer 1943 kündigte meine Mutter die Wohnung, löste unseren Haushalt auf, die Möbel wurden abgeholt, und dann sind wir weggefahren aus Berlin, es war ihr zu gefährlich geworden. Wenn sie schon nichts zu schaffen hatte mit diesem Krieg, dann wollte sie ihn wenigstens überleben, und ihre Kinder, fand sie, hatten auch etwas Besseres verdient als ein Leben zwischen Trümmern und Ruinen und Nächte im Luftschutzkeller. In Coburg wohnte Tante Änne, ihre Schwester, und wir zogen in eine kleine Wohnung, und wie es aussah, gab es dort, in der kleinen Stadt im Norden Frankens, nicht viel zu bombardieren. Nazis gab es aber auch...

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