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Bildung

Ein pädagogischer Grundbegriff

AutorChristian Rittelmeyer
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783170228528
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Der Bildungsbegriff wird nicht nur in der Erziehungswissenschaft seit einiger Zeit heftig diskutiert: Ist er noch aussagefähig oder ersetzt man ihn besser durch präziser erscheinende Begriffe wie 'Kompetenz', 'Lernen' oder 'Sozialisation'? Tatsächlich zählt der Bildungsbegriff jedoch gerade wegen seines Facettenreichtums zu den unverzichtbaren Grundbegriffen der Pädagogik. Das Buch beschäftigt sich mit der Geschichte und der Aktualität des Bildungsbegriffs. Dabei wird gefragt, wie sich elementare Erziehungsfragen und pädagogische Problemstellungen im Lichte des Bildungsbegriffs bestimmen lassen. Ins Blickfeld rückt dabei u.a. der klassische Konflikt zwischen den Erziehungsintentionen Erwachsener und den Eigeninteressen der Heranwachsenden oder das grundlegende Problem von Freiheit und Fremdbestimmung in der Erziehung. Das Buch richtet sich in seiner praxisorientierten Gestaltung insbesondere auch an Studierende der Pädagogik, denen eine problemorientierte Einführung in erziehungswissenschaftliches Wahrnehmen und Denken geboten wird.

Professor Dr. Christian Rittelmeyer lehrte an der Universität Göttingen mit den Schwerpunkten Theorie und Geschichte der Pädagogik, Pädagogische Anthropologie und Entwicklungspsychologie des Kindesalters.

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Leseprobe

Einführung


Was sind pädagogische Grundbegriffe? Mit diesem Terminus werden Begriffe bezeichnet, die in allen pädagogischen Disziplinen – z.B. der Schul- und Heilpädagogik, der außerschulischen Jugendarbeit oder der Erwachsenenbildung, der elterlichen Erziehung oder der Sozialpädagogik – von Bedeutung sind. So bezeichnet der Begriff Erziehung die mehr oder minder bewusste und gezielte Einflussnahme der älteren Generation auf die jüngere mit der Absicht, sie für die aktive Teilhabe an einer bestimmten Kultur und Gesellschaft zu befähigen. Diese pädagogische Aktivität kann sich gleichermaßen, wenn auch in jeweils spezifischer Ausprägung, in der Familien-, Vorschul- und Schulerziehung, in Erziehungsheimen oder in Bildungsveranstaltungen der Gewerkschaften und Kirchen ereignen. Auch die gezielte Bemühung um eine Veränderung der eigenen Person kann mit diesem Begriff bezeichnet werden – es geht dann um Prozesse der sogenannten Selbsterziehung. Man spricht darüber hinaus auch von den geheimen Erziehern und meint damit beispielsweise den unbemerkten prägenden Einfluss der modernen Massenmedien auf Heranwachsende – der allerdings auch mit dem Begriff Sozialisation bezeichnet wird. Hier wie in anderen Fällen sind die pädagogischen Grundbegriffe nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen. Das in vielen klassischen Erziehungstheorien bis in die 1920er Jahre hinein favorisierte und wie eine pädagogische Enklave beschriebene Erzieher-Zögling-Verhältnis ist nicht nur durch eine theoretische Ausblendung der so wichtigen gesellschaftlichen Einflüsse auf Heranwachsende gekennzeichnet, sondern enthält schon im Begriff „Zögling“ ein Konstrukt, dem gerade – und zwar auch schon in klassischen Theorien – durch den Bildungsbegriff widersprochen wird.

Der Begriff Bildung ist weiter gefasst als der Erziehungsbegriff, da er Vorgänge der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung (zumeist im Sinne einer Höherentwicklung oder Vervollkommnung) bezeichnet, unabhängig davon, ob es hierbei um Resultate der Eigenaktivität, der äußeren Einflussnahme oder um biografische Konstellationen geht, mit denen sich ein Individuum produktiv und lernend auseinander setzt. Der Bildungsbegriff wird allerdings, wie manche Kritiker aus der Erziehungswissenschaft meinen, so inflationär gebraucht (mit Worten wie Bildungsprivileg, Bildungsphilister, Bildungspolitik, Bildungstechnologie, Scheinbildung, bildungsferne Schichten, Bildungsgebaren), dass er kaum noch zur präzisen Bezeichnung pädagogischer Sachverhalte herangezogen werden kann. In der Erziehungswissenschaft dürfte aber dennoch die Position vorherrschen, dass es sich bei diesem Terminus gerade wegen seines Facettenreichtums um einen grundlegenden, vielleicht um den elementaren Begriff der Pädagogik handelt, gleichviel, ob es um die Theorie oder Praxis dieser Disziplin geht.1 Ihm wird daher in diesem Buch eine prominente Position eingeräumt. Ich möchte versuchen, seinen Bedeutungsgehalt an zahlreichen Beispielen herauszuarbeiten. Dieser vielen exemplarischen Geschichten, biografischen Berichte, Praxisbeispiele und Alltagsbeobachtungen wegen spreche ich von Lehrstücken: Es geht um Beispiele, die man selber – vielleicht in ganz andere Richtungen, als sie hier aufgezeigt werden – auslegen kann.2 Ich möchte zeigen, dass Bildung ein empirisches wie begriffliches Phänomen ist, das die eigentliche Substanz pädagogischer Theorie und Praxis ist und daher auch dem Erziehungswie dem Sozialisationsbegriff erst die orientierende Grundlage verschafft.

Dem umfangreichen ersten Kapitel, das in den Bildungsbegriff einführt, werden zwei Kapitel folgen, in denen auch elementare Erziehungsfragen eine wesentliche Rolle spielen. Mein eigentliches Anliegen ist dabei jedoch, die Möglichkeit einer Aufklärung dieser erziehungstheoretischen Problemstellungen durch den Bildungsbegriff zu exemplifizieren. Ich möchte auch zeigen, dass es bei dem sogenannten Bildungsbegriff nicht eigentlich um einen Begriff geht, sondern um die Benennung eines komplexen kognitiven wie emotionalen, ethischen und auch leiblichen Orientierungsmusters, das aus Erzählungen, Episoden, biografischen Berichten, historischen Definitionen und bildungstheoretischen Reflexionen rekonstruierbar ist. Es bewahrt einen in der Geschichte entwickelten Kern von Bildungsmaximen (wie den Gedanken einer Gestaltwerdung der eigenen Ideen und Ideale, der „inneren Formierung“ bzw. Charakterbildung, der Toleranz und Konzilianz gegen andere Ansichten und Kulturen), ist aber ebenso in stetiger Entwicklung begriffen: Der „Bildungsbegriff“ ist zukunftsoffen und dynamisch, aber nicht beliebig auslegbar.

Dieses Buch soll jedoch keinen umfassenden Einblick in die bildungstheoretische Diskussion geben, sondern exemplarisch in Gestalt anschaulicher „Lehrstücke“ zeigen, wie man den Bildungsbegriff erziehungswissenschaftlich aufklären und für die pädagogische Praxis fruchtbar machen kann – sie stellt gleichsam Instrumentarien der Reflexion, Analyse und pädagogisch en Praxis vor, die als Muster auch für eine Auseinandersetzung mit anderen wegleitenden Grundbegriffen dienen können.3

Die erwähnte Kontroverse um den Sinn oder Unsinn des Bildungsbegriffs lenkt unsere Aufmerksamkeit jedoch auch darauf, dass mit diesem Begriff eine elementare Problemstellung verbunden ist: Welchen Sinn hat der Bildungsbegriff für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs und für die pädagogische Praxis? Wenn man ihn schon verwenden möchte: muss das dann nicht in einer modernisierten und präziseren Form geschehen? Ich gehe davon aus, dass mit jedem grundlegenden Begriff der Pädagogik – wie Bildung, Didaktik, Begabung, Sozialisation, Lernen – auch elementare Problemstellungen verbunden sind, deren Lösung entscheidend für eine aufgeklärte, erfolgreiche und wissenschaftlich fundierte Praxis ist. In der Regel artikulieren sich solche Problemstellungen in der Form wissenschaftlicher Kontroversen oder praktischer Orientierungsprobleme. So entsteht und vergeht z.B. immer wieder ein Streit darüber, ob „Begabungen“ bzw. bestimmte Fähigkeiten angeboren oder erlernt sind.4 Von sogenannten Verhaltensgenetikern wird häufig die Vererbungsthese betont – meist in Gestalt von Prozentschätzungen des Erb- und Umweltanteils etwa beim Zustandekommen bestimmter Intelligenzleistungen. Popularisierte Darstellungen können dann wie ein Titelbild des Focus-Magazins aussehen, auf dem die Gesichtsportraits von Vater und Sohn zu sehen sind – kommentiert mit der Titelzeile „Ganz der Papa. Intelligenz, Charakter, Talente. Neue Erkenntnisse über die Vererbung“.5 In Pädagogenkreisen wird dagegen eher die Gegenthese des „Begabens“ durch Erziehung favorisiert. Wie artikuliert sich eine solche Problemstellung in der pädagogischen Praxis?

Ein Beispiel: Der Mathematiklehrer eines Gymnasiums hat in seiner Klasse einige sehr fähige Schülerinnen und Schüler, andere haben auch bei gutem Willen große Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Aber was heißen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Fähigkeit oder Leistungsschwäche? Der Lehrer gibt sich Mühe, den letztgenannten Klassenmitgliedern im Unterricht zu helfen, er ermutigt Mitschüler, sie zu unterstützen, gibt selber zusätzliche Hilfen vor oder nach der Stunde – bei einigen mit, bei anderen ohne bemerkbaren Erfolg. „Offensichtlich haben einige Schülerinnen und Schüler für die Mathematik keine Begabung“, resümiert er schließlich seine vergeblichen Bemühungen. Er spricht mit einer Kollegin, die das Fach Musik unterrichtet, über die „Problemschüler“. Die Lehrerin kommentiert: „Wenn diese Kinder auch mathematisch unbegabt sein mögen, so bringen doch mindestens zwei der Genannten im Orchesterspiel Höchstleistungen – diese haben also offenbar eine hervorragende musikalische Begabung. So ist es eben: Der eine ist für dieses, der andere für jenes begabt.“

Aber sind es wirklich angeborene oder konstitutionelle „Begabungen“, die Schülerinnen und Schüler gleichsam als Grundausstattung mit in die Schule bringen – oder scheitern einige an einer für sie unzureichenden Unterrichtsdidaktik des Lehrers? Versteht es die Musiklehrerin besser, diese Menschen durch ihren Unterrichtsstil, ihr vielleicht sympathisches Auftreten, ihre Begeisterungsfähigkeit zu motivieren?

Werden die „schwächeren“ wie auch die besonders „leistungsstarken“ Schüler nicht zu früh als „begabt“ oder „unbegabt“ eingestuft? Gibt es überhaupt so etwas wie „angeborene Begabungen“ – oder wird man eher durch seine Umwelt, durch Eltern, durch Gleichaltrige, durch bestimmte Lehrer, „begabt“? Hat z.B. der Sonderschullehrer Jürg Jegge in seinem Buch „Dummheit ist lernbar“ nicht gezeigt, dass scheinbar unbegabte Schüler oft erst nach jahrelangen Bemühungen plötzlich Leistungen zeigen, die man zuvor nicht für möglich hielt?6 Und zeigen die Biografien berühmter und wissenschaftlich wie künstlerisch produktiver Persönlichkeiten nicht häufig genug, dass ihre Leistungen in der Schule eher mangelhaft waren (wie das unter anderem Gerhard Prause in seinem Buch „Genies in der Schule“ dokumentierte)?7

Andererseits: Übernimmt sich der Mathematiklehrer nicht, wenn er immerfort weiter nach Wegen sucht, leistungsschwache Schüler vielleicht doch noch fördern zu können, nicht zuletzt auch angesichts eines vorgegebenen Stoffkanons, der in einer bestimmten Zeit und von 25 bis 30 Schülern angeeignet werden muss? Legt er mit einem derartig...

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