I. BOLOGNA: VOM SCHEITERN EINER REFORM
Eine transatlantische Fehlsteuerung
Als Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch den Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet wurde, sprach man von den »drei Säulen« der gemeinsamen Politik. Gemeint waren die Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich der Justiz. Bereits in den Vorverhandlungen zum Maastrichter Vertrag waren die Nationenvertreter Europas sehr schnell darin übereingekommen, das Bildungssystem als Regelungsgegenstand aus dem Vereinigungsprozess herauszuhalten. Die Verhandlungsbeauftragten sahen nämlich sehr schnell, dass die Unterschiede innerhalb Europas nicht nur groß, sondern vor allem auch historisch gewachsen und in der Regel identitätsstiftend verschieden waren. Diese Einsicht ging so weit, dass sogar bestimmte Elemente, die in den Römischen Verträgen im Bereich des Berufsbildungswesens vereinheitlicht worden waren, aus der Einigung wieder herausgenommen wurden. Auf diese Weise entstand ein Entscheidungsvakuum, das von unterschiedlichen Akteuren ausgefüllt wurde. Im Hochschulbereich waren das auf europäischer Ebene neben den politischen Vertretern der Staaten Verbünde und NGOs wie die European University Association oder Interessengruppierungen aus dem Bereich der Wirtschaft.
Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik mit ihrer Sonderkonstruktion der Kultusministerkonferenz (KMK) waren die gestaltenden Personen auf deutscher Seite nicht etwa die gewählten Vertreter der Bundesexekutive, also etwa die Bundesbildungsministerin oder ihre Staatssekretäre, sondern eine Verhandlungsgruppe aus Beamten des Bundes und der KMK. Die deutschen Verhandlungspartner stimmten, oftmals in Unkenntnis oder Unterschätzung der Verhältnisse in den anderen europäischen Staaten, Regelungen und Nomenklaturen zu, die der angloamerikanischen Bildungswelt entstammten. Man einigte sich also darauf, »Credit Points« zu vergeben, die »Workload« zu berechnen und »Bachelor«-Abschlüsse einzuführen, ungeachtet aller kulturellen Differenzen wie der Tatsache, dass in Amerika, aber auch in Großbritannien ein Hochschulstudium – anders als in Deutschland – in erster Linie als Berufsausbildung verstanden wird. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass das atlantische Bildungssystem für Facharbeiter oder Assistentenberufe überhaupt keine duale Ausbildung durch Berufsschulen und durch die Industrie getragenen Ausbildungen kennt, sondern diese Aufgabe den Universitäten anvertraut hat. Wenn also in den Schriftstücken des Bologna-Prozesses von Berufsqualifizierung die Rede ist, dann hatte man dabei das angloamerikanische System im Blick, dessen Qualifizierungscharakter sich vom deutschen fundamental unterscheidet. Darin ist eine der wesentlichen Quellen für die bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses im deutschen Hochschulsystem entstandenen Fehlorientierungen zu sehen.
In Deutschland ging man davon aus, dass das europäische Hochschulsystem nun eine Qualifizierungsstruktur aufweisen müsse, die derjenigen ähnlich sei, die im deutschen Berufsausbildungssystem existierte. Allgemein formuliert: Der für das deutsche Bildungssystem wesentliche Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung wurde verschliffen unter Hinweis auf die angebliche Notwendigkeit, aus der Hochschule heraus direkt für Berufe zu qualifizieren.
Das deutsche Hochschulsystem ist für diese Aufgabe aber gar nicht geeignet. Das wissenschaftliche Personal orientierte sich bis dato primär an Forschung und Lehre, nicht am Ausbildungsgedanken. Es hat in der Regel in den Berufen, für die es nun ausbilden soll, selbst nie gearbeitet. Dominierend ist das aus der deutschen Hochschultradition entstandene Leitbild einer »Bildung durch Wissenschaft« – der Persönlichkeitsbildung durch die Unterwerfung unter die Strenge der wissenschaftlichen Methode, der Erkenntnisorientierung, der Wahrheit, der Neutralität und der Unbestechlichkeit.
Als vor inzwischen fast fünf Jahren, ausgehend von der Universität Wien, eine Protestwelle durch die deutschsprachigen Universitäten ging – während die Länder, die sich schon früh, teilweise direkt nach 1945, anglifiziert hatten, verschont blieben – , war dem aufmerksamen Betrachter klar, dass sich in Europa ein Konflikt der Hochschulkulturen anbahnte. Dieser Konflikt ist in den letzten 15 Jahren in der Substanz nicht gelöst, sondern durch die Schaffung organisatorischer Fakten zugeschüttet worden. Ob dieser Zustand ein vorläufiger ist oder länger andauert, hängt davon ab, ob wir in den Hochschulen die inhaltliche Diskussion darüber in Gang bringen können.
Unnötig zu sagen, dass die Zeit drängt. Dass mittlerweile ein guter Teil der Studierenden und des akademischen Mittelbaus gar keine anderen Verhältnisse mehr kennengelernt und somit den gegenwärtigen Fehlentwicklungen kein positives Bild entgegenzusetzen hat, ist höchst bedenklich. Auch ist fraglich, ob gerade den in der Regel voll ausgelasteten Studierenden noch genügend Kapazitäten für ein hochschulpolitisches Engagement bleibt. Falls nicht, wäre es bereits die eingetretene Zirkularität des Bologna-Prozesses, dass gar keine Zeit mehr verbleibt, um die Richtigkeit des damit verbundenen Bildungs- oder Ausbildungsverständnisses überhaupt zu reflektieren. Das System würde sich dann selbst gegen Veränderungen dauerhaft immunisiert haben. Aus unseren Universitäten würde dann etwas anderes geworden sein. Solange es aber Menschen gibt, die sich noch daran erinnern können, was Universität einmal war, haben diese die Pflicht, die nachwachsende Generation, aber vor allem auch die Politik auf eine fast schon historische Alternative aufmerksam zu machen.
Bevor ich näher auf die mit dem Bologna-Prozess zusammenhängenden Fehlentwicklungen eingehe, seien mir deshalb zwei autobiographische Anmerkungen erlaubt: Ich habe im Wintersemester 1966/67 an einer leidlich guten deutschen Universität ein Sprachstudium aufgenommen. Im zweiten Semester habe ich Philosophie hinzugewählt und zu meinem Hauptfach gemacht. Meine Mutter war besorgt. Es gab keine kommentierten Vorlesungsverzeichnisse. Gott sei Dank, sonst hätte ich mich nicht irren können. Ich startete nämlich mit Wittgenstein.
Im Englischstudium gab es auch kein Vorlesungsverzeichnis, dafür aber obligatorisch im ersten Semester 6000 Verse John Donne zu übersetzen. Schäferlyrik. Dabei geht es immer nur um das eine. Aber so undeutlich, dass wir zum Ausgleich eine Psychologievorlesung über Pornographie hörten und vor allen Dingen sahen.
Wir fanden die Studienbedingungen unmöglich, weil uns die Inhalte für unser Berufsziel unbrauchbar erschienen. Die Professoren schienen ihren Hobbys zu frönen. »Mittelalterfakultät« nannten wir deshalb die Philosophische.
Es gab keine Studienordnungen, Prüfungsordnungen hatten auf zwei Blättern Platz, und eine ungeschriebene Regel besagte, man müsse lange genug studiert haben, um gründlich gewesen zu sein. Als ich nach sieben Semestern eine Magisterprüfung ablegen wollte, benötigte ich eine Sondergenehmigung des Ministers. Wer so kurz studierte, stand im Verdacht, das Akademische nicht ernst zu nehmen.
Heute bemühen sich Hochschullehrer in Modulbeschreibungen redlich, dem Studienverlauf eine innere Logik zu geben. (Wer sich in Neuropsychologie auskennt und in Systemforschung, weiß allerdings, dass das Unfug ist. Es ist das lernende Gehirn, welches den Dingen die Logik verpasst, und das ist niemals die Logik derjenigen, die sich im Beibringen von etwas bemühen.) Ich bin mir des historisch-exzeptionellen Charakters meiner Studiensozialisation durchaus bewusst und verkläre nichts, auch dann nicht, wenn ich zusammenfassend den Satz formuliere: Wir waren orientierungslos, aber frei.
Heute betrachte ich den Bologna-Prozess nicht nur professionell in Hinblick auf seine bildungshistorischen und systematischen Folgen für das deutsche Hochschulsystem, sondern auch aus der alltäglichen Erfahrung der Begegnung konkreter Studierender mit dem System, allen voran der meiner eigenen Kinder. Und welches Bild ergibt sich hier? Etliche Rechtsanwälte verdienen gutes Geld damit, gegen Entscheidungen von Prüfungsämtern, Studienbüros und Dekanaten an einzelnen deutschen Universitäten vorzugehen, die sich benehmen wie bewaffnete Vertreter amerikanischer Einwanderungsbehörden. Mit dem Argument der Gleichbehandlung aller werden jungen Menschen nicht etwa gleiche Freiräume, sondern gleiche Restriktionen aufgebürdet, weil diese sich einfacher administrieren lassen. Und was ich besonders bedauerlich finde: Fachvertreter an den Universitäten fallen der Administration nicht etwa in den Arm, sondern unterstützen sie nicht selten mit immer neuen Ideen, wie sie ihre eigenen Fachgebiete über restriktive Prüfungs- und Studienregelungen absichern können. Das ist nicht Schuld der Administration, sondern ein selbstgemachtes Problem, das daraus resultiert, dass wir als Hochschullehrer nicht wachsam genug gewesen sind. Traurige Beispiele finden sich in großer Zahl. Wenn etwa ein Prüfungsamt die Anerkennung eines Praktikums bei einer Brüsseler Behörde verweigert, die nicht in dem Praktikumskatalog der Politikwissenschaft steht, vermutlich weil den Herrschaften die erforderliche Kenntnis über die Brüsseler Behörden fehlte, und eine junge Frau deswegen zwei weitere Semester anhängen muss, die sie mit der Suche nach neuen Praktikumsplätzen und der Durchführung eines weiteren Praktikums verbringt; wenn einem behinderten Studierenden alternative Prüfungsformen, abweichend vom für die Fachvertreter...