Einleitung
Warum braucht es Bildungsberatung im Alter? Die Lebensphase Alter befindet sich in einem fundamentalen Wandel und verlangt nach sozialen Innovationen in ihrer Ausgestaltung. Fundamental ist der Wandel dieser Lebensphase nicht nur in demografischer Hinsicht, sondern auch in seiner sozialen, politischen und kulturellen Dimension. Die Bildungsberatung im Alter, für die in diesem Buch sowohl theoretische als auch praxisorientierte Grundlagen geschaffen werden, ist eine soziale Innovation, um den Wandel zu begleiten und zu gestalten. Der Europäische Rat schuf 2004 für die Bildungsberatung im Alter eine Grundlage durch den Beschluss, besonderes Augenmerk auf den Ausbau der Bildungsberatung für Personen jeden Alters und jedes Lebensabschnitts zu richten. In Österreich findet sich eine entsprechende Empfehlung in der Strategie zum lebensbegleitenden Lernen, LLL 2020, wo in der in der Aktionslinie 9 als drittes Ziel der Zugang von älteren Menschen zu altersgruppenspezifischer Information und Beratung hinsichtlich aller Weiterbildungsmöglichkeiten formuliert ist.
Welche Bedeutung haben nun demografische, soziale, politische und kulturelle Faktoren für die Bildungsberatung im Alter?
In demografischer Hinsicht sehen wir zum einen eine Verlängerung der Lebensphase Alter. Die Spanne zwischen Ende der Erwerbstätigkeit und Tod war in früheren Zeiten relativ kurz. Die fernere Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren ist in Deutschland für Frauen im Zeitraum von 1950 bis 2010 von 17,5 auf 24,9 Jahre gestiegen, für Männer von 16,2 auf 21,2 Jahre. In Österreich sehen wir in diesem Zeitraum bei den Frauen einen Anstieg der Lebenserwartung von 17,3 auf 25,4 Jahre, bei den Männern von 15,1 auf 21,5 Jahre. Das Alter über 60 nimmt somit heute mehr als ein Viertel der Lebenszeit ein. Zum anderen sehen wir einen Wandel der Lebensformen im Alter. Dies zeigt sich einerseits in einem starken Anstieg nicht-ehelicher Partnerschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und andererseits in der deutlichen Zunahme alleinlebender Frauen. Die Altersgesellschaft ist demografisch stark von Frauen geprägt, politisch, sozial und kulturell ist sie das keineswegs.
In sozialer Hinsicht sind einerseits deutliche Zugewinne an Lebensqualität im Alter durch höhere Bildung und gesicherte Altersversorgung sichtbar, andererseits zeigt sich eine Persistenz sozialer Ungleichheit. Hinsichtlich Lebenserwartung gibt es erhebliche Unterschiede nach sozialen Gruppen. Geringer Bildungsstatus und geringes Einkommen wirken sich ungünstig auf die Lebenserwartung aus. Soziale Ungleichheiten zeigen sich auch deutlich nach Geschlechtszugehörigkeit. In den Ländern der Europäischen Union sind ältere Frauen im Durchschnitt ärmer als ältere Männer. Frauen erreichen das Rentenalter mit großer Wahrscheinlichkeit häufiger unter ungünstigen Einkommensbedingungen. Beeinflusst sind die Lebenschancen im Alter zudem vom Wohnort. Lange Wege zu Dienstleistungen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsangeboten haben problematische Auswirkungen.
In politischer Hinsicht vollzog sich hinsichtlich der Gestaltung der Lebensphase Alter vor etwa 15 Jahren ein deutlicher Paradigmenwechsel, und zwar weg von einer Ruhestands- hin zu einer Aktivitätsorientierung. Ausdruck fand dieser Wechsel in einem programmatischen Papier der Weltgesundheitsorganisation, das diese 2002 unter dem Titel »Aktiv Altern« herausgegeben hat. Eine akzentuierte Fortsetzung dieses Ansatzes findet sich in den Aktivitäten der Europäischen Union für das Jahr 2012, das zum Europäischen Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen den Generationen erklärt wurde. Als Rahmen für das aktive Altern ist die Verbesserung der Gesundheit, soziale Teilhabe und Sicherheit festgelegt. Dabei wurde das Ziel formuliert, alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. In den USA wurde der Begriff Aktives Altern bereits in den 1960er-Jahren als Antithese zum Rückzug im Alter formuliert.
Kulturell ist die Lebensphase Alter vielfältiger geworden. Das liegt nicht nur am größeren medialen Angebot und an der Digitalisierung des Alltags, dies liegt auch an den Veränderungen in der persönlichen Lebensführung. Im Rahmen der Bildungsberatung in der nachberuflichen Lebensphase kommt es zu einer angeleiteten subjektiven Auseinandersetzung mit objektiven kulturellen Sachverhalten. Diese Auseinandersetzung erfolgt in drei unterschiedlichen Bereichen, und zwar in einer Veränderung der
• Selbstbeziehung
• Beziehung zu unmittelbar anderen
• Beziehung zur Welt
Diese Perspektiven lassen sich auch als Biografie, Lebenswelt und Gesellschaft bezeichnen. Wenn Veränderungen in der Selbstbeziehung angesprochen werden, bedeutet dies, dass das neue Altern Zeit für eine neue Sinnfindung ermöglicht. Diese Sinnfindung oder auch Sinnentdeckung lässt sich im Beratungskontext durch die Methode der Biografiearbeit unterstützen. Mit der Beziehung zu unmittelbar anderen ist sowohl der intergenerationelle Kontakt innerhalb der Familie, aber auch die Beziehungen zu anderen im außerfamilialen Kontext gemeint. Als mögliches Ziel der Auseinandersetzung in Richtung Beziehung zur Welt nennt der Schweizer Soziologe Peter Gross (2014) die Weltmäßigung. Im Nachlassen und in den Schwächen des Alterns liegt demnach auch eine Chance, der radikalen Ausbeutung der Erde und der rigorosen Auspressung des Menschen entgegenzutreten.
Die Notwendigkeit einer eigenen Bildungsberatung für ältere Menschen ergibt sich aus dem Umstand, dass das neue Altern deutungsoffen ist und diese Offenheit sowohl Chancen eröffnet als auch Unsicherheiten und Irritationen auslöst. Wenn auch das Altern selbst als eine Art natürlicher Reifungsprozess begriffen werden kann, der durch Anpassungsprozesse gekennzeichnet ist und dadurch keiner Intervention bedarf, so bietet Bildungsberatung eine Gelegenheit, die restlichen Lebensjahre reflexiv zu gestalten. Die Bildungsberatung bietet nicht nur eine Gelegenheit zur Selbstreflexion und ist damit selbst ein Bildungsprozess, sie ist darüber hinaus ein Instrument, um innovative Projekte in Gang zu setzen.
Dieses Buch will an jene Tradition anschließen, in der Bildung als ein Mittel galt, den Menschen Selbstbestimmung, Befreiung von Herrschaft und die autonome Gestaltung des eigenen Lebens zu ermöglichen. Die Idee der emanzipatorischen Bildung hat die Arbeit von Anfang an begleitet. Dieses Buch entstand aus dem Bedürfnis, der Frage nachzugehen, wie denn die Idee der emanzipatorischen Bildung in der nachberuflichen Lebensphase weitergeführt werden kann. Es ist nur allzu offensichtlich, dass sie heute im qualifikationsorientierten Bildungshandeln nur wenig Attraktivität genießt. Die bildungspolitischen Diskussionen, ob auf nationaler, regionaler oder globaler Ebene, orientieren sich an ganz anderen normativen Vorgaben und sind vom Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit dominiert. Emanzipatorische Bildung ist ebenfalls hochgradig normativ, aber ihre Norm ist die Vorstellung von Befreiung und Empowerment. Emanzipatorische Bildung ermöglicht ein widerspenstiges und vielleicht sogar rebellisches Altern. Sie ist mit der Hoffnung verknüpft, eine neue politische Kultur des Alters hervorzubringen.
Mit Berücksichtigung der skizzierten Ausgangslage für eine Bildungsberatung im Alter soll dieses Lehrbuch einen Schritt in Richtung der Etablierung dieses Bildungsangebots setzen und gleichzeitig eine Grundlage für professionelles Handeln anbieten. Das Lehrbuch gibt Antworten auf folgende Fragen:
• Warum braucht es eine eigene Bildungsberatung im Alter?
• Welche empirischen Forschungsergebnisse und theoretischen Grundlagen stützen die Entwicklung einer Bildungsberatung im Alter?
• Wie kann geragogisches Wissen für die Bildungsberatung im Alter fruchtbar gemacht werden? (Für dieses Thema konnten wir die Mitherausgeberin des Lehrbuchs Geragogik, Dr.in Renate Schramek, für einen Gastbeitrag gewinnen.)
• Welche Zielgruppen können angesprochen werden und wie lassen sich diese charakterisieren?
• Welche Kompetenzen brauchen Personen, die sich im Bereich der Bildungsberatung im Alter beruflich betätigen wollen? Wie sollte ein Curriculum aussehen?
Das vorliegende Lehrbuch soll für das lebensbegleitende Lernen in der nachberuflichen Lebensphase Unterstützung bieten. Eine eigene Bildungsberatung für diese Lebensphase bietet die Chance, Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben neue Zugänge zu sich selbst und zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu erschließen.
Es ist ein Lehrbuch für Personen, die professionell in der Beratung Älterer tätig sind oder sich betätigen wollen. Sie finden in ihm sowohl Einblicke in die Welt des Alterns als auch Methoden und Werkzeuge für die praktische...