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Bildungsideologien

Ein zeitdiagnostischer Essay an der Schwelle zur Wissensgesellschaft

AutorManfred Prisching
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783531910192
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
An der Schwelle zur Wissensgesellschaft intensiviert sich die Diskussion darüber, was Bildung, Ausbildung, Qualifikation oder Wissen überhaupt sei. Einzelne Aspekte der Bildung werden in aller Einseitigkeit als Heilslehren angeboten, und in ihrer Borniertheit und Verzerrtheit werden sie zur Bildungsideologien. Die Studie analysiert diese Modelle vor dem Hintergrund zeitdiagnostischer Interpretationen der Zweiten Moderne.

Dr. Manfred Prisching ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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Leseprobe
8 Das Zertifikatsmodell (S. 143-144)

Wie erkennt man Bildung? Gebildete Menschen verfügen über ein symbolisches Kapital, welches gewährleistet, dass jene Signale ausgesendet werden, an denen man einander erkennt. Diese Signale richten sich gegen Trivialität, Impertinenz, Kitsch, Sensation, Geschmacklosigkeit, Oberflächlichkeit, Zeitgeistigkeit. Aber das sind die subtilen Ebenen (und natürlich haben wir hier auf den traditionellen Bildungsbegriff zurückgegriffen), weniger subtil sind Zertifikate, die in der Sicht vieler als zuverlässige Indikatoren für Bildung gelten: Bildungsabschlüsse, die zu weitergehenden Bildungsgängen, zur Einreihung in feste Posten- oder Einkommenskategorien oder zur Ausübung bestimmter Berufe berechtigen. In obrigkeitlichen Gesellschaften wie in Österreich oder Deutschland stellt das traditionelle Beamtenschema auch ein Bewertungsschema bereit, welches Zertifikate mit Positionen, Titel und Karrieren koppelt. Wenn einer einen „Doktor" hat, dann weiß man, woran man ist oder glaubt es jedenfalls zu wissen.

In einer zur Zweckorientiertheit zurechtgestutzten Bildung ist der Erwerb von „Zertifikaten" essentiell, und es gibt tatsächlich eine entsprechende Korrelation. Auf diese Welt von zertifikatsvermittelten Optionen zielt auch die Bildungsnachfrage jener, die, ungebildet, wie sie sind, mit einem „Berechtigungsschein" alles erlangt zu haben glauben, worum es im Bildungsgeschehen geht. Ein „Schein" muss her: etwa ein Abitur- oder Maturazeugnis irgendeiner Art. Tatsächlich werden diese Abschlüsse in den empirischen Untersuchungen als Indikatoren verwendet, und die Daten belegen, dass man sich mit höheren Abschlüssen allemal besser stellt.

Das haben die Eltern begriffen: Was die hoffnungsvolle Nachkommenschaft tatsächlich kann, ist weitgehend irrelevant, der „Schein" verleiht die wesentlichen Berechtigungen. Deshalb intervenieren sie, um die Schwelle von der Grundschule zum Gymnasium zu überschreiten, sie üben Druck aus, um die Barrieren der einzelnen Schulklassen zu überwinden, sie zahlen Nachhilfestunden, um die Unfähigkeit von LehrerInnen oder den Widerwillen der Kinder zu kompensieren, und sie tun alles, um das Abitur oder die Matura zu bewältigen. Aber der „Schein" ist oft nur Schein. Einzelne Hürden mögen überwunden werden, das Scheitern kommt hinterdrein. Zertifikate mögen in einer gewissen losen Korrelation zum Bildungsniveau stehen, sehr viel mehr ist es nicht. Somit gehört zur Durchsetzung der Zertifikatsberechtigung für alle auch ein gehöriges Repertoire an Heuchelei.

8.1 Das Spiel um die Verschönerung der Statistik

In einer Gesellschaft, die nur auf Quantitäten und Steigerungen orientiert ist, sind äußere Indikatoren wie jene von den Bildungsabschlüssen angeblich Indiz für das Gelingen einer „Wissensgesellschaft". Je mehr Abschlüsse, desto mehr Wissen. Je mehr Wissen, desto besser für das Sozialprodukt. In der Wissensgesellschaft ist Zertifikatslosigkeit eine Anomalie. Anomalien können nicht geduldet werden. Fortgeschrittene Länder wie Deutschland und Österreich sind Anomalien, denn sie produzieren eine qualifizierte Arbeitskraft zu schnell, ohne quasi-akademischen Abschluss. Die Arbeitskräfte dürften nicht so gut sein, wie sie sind: gelingender Output mit zu wenig Input. Die Kritik der OECD richtet sich auf den Mangel an Input. Um bildungspolitisches Lob einzuheimsen, gilt es deshalb, fürderhin denselben beruflichen Output mit wesentlich steigendem akademischen Input zu erzielen. „Bologna" heißt deshalb auch: konsequente Akademisierung in allen Lebensbereichen, auch in Nischen wie etwa den mit einem Bachelor-Abschluss ausgestatteten „Outdoor-Trainer und –Manager".
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
1 Einleitung7
1.1 Bildungsparadigmen, Zeitdiagnostik und Ideologie8
1.2 Die obsoleten Bildungs-Bilder11
2 Das Lagerhausmodell15
2.1 Die Enzyklopädie und das Wissen18
2.2 Hirnbewirtschaftung und Neugierweckung20
2.3 Das Repertoire der Qualifikationen22
2.4 Von den Qualifikationen zur Bildung29
2.5 Von der Informationssammlung zum Denkprozess30
3 Das Datenbankmanagement-Modell35
3.1 Die Geschichte der Übertreibungen36
3.2 Algorithmen der Informationsbeschaffung38
3.3 Die Welt an den Fingerspitzen40
3.4 Unmöglichkeit des Lernens ohne Lernen44
3.5 Bildung als Veränderung des Menschen45
3.6 Die Fülle der Wissenskompetenzen46
3.7 Wissensqualitäten48
3.8 Die Industrialisierung der Bildung51
3.9 Maschinelle Bildungsbeschleunigung53
4 Das alltagspragmatische Modell56
4.1 Schule als universale Sozialisationsinstanz57
4.2 Schule als Identitätsbildungsinstanz65
4.3 Die Vielfalt der Intelligenzen67
4.4 Alltag, Praxis, Technik70
4.5 Der Hang zum Therapeutischen74
4.6 Der Kampf gegen die schulische Normalität77
4.7 Die Praxis des Projektismus79
5 Das Erlebnismodell82
5.1 Individualisierungs-Übertreibungen83
5.2 Der sensationalistische Bildungsprozess85
5.3 Das Steigerungsspiel der Sensationen89
5.4 Didaktik als Erlebnislehre93
5.5 Das Aufmerksamkeitsdesaster96
6 Das Geschwindigkeitsmodell101
6.1 Zeitlichkeit, Zeitverlust und Zeitmanagement103
6.2 Fraktale Zeit und Entschleunigungsideologien107
6.3 Dromologische Theorie der Bildung109
6.4 Turbo-Studien für den Arbeitsmarkt113
7 Das Arbeitsmarktmodell117
7.1 Pädagogische Ideologie der wissensbasierten Gesellschaft118
7.2 Bildungsexpansionismus und Karriere123
7.3 Die Identifizierung von Bildung und Nützlichkeit125
7.4 Konformismus unter dem Etikett der Individualisierung134
7.5 Die Rentabilität von Bildung137
8 Das Zertifikatsmodell140
8.1 Das Spiel um die Verschönerung der Statistik141
8.2 Die Falle der positionellen Güter144
8.3 Bildung als Wettbewerb der Signale146
9 Das Managementmodell149
9.1 Industrialisierung der Wissensproduktion150
9.2 Neue Wissensinterpretationen155
9.3 Der Code Geld und seine Wirkungen159
9.4 Die Neuerung der institutionellen Arrangements164
9.5 Das Evaluierungsspiel170
10 Das bürgerlich-abendländische Modell181
10.1 Zwischen Abendland-Nostalgie und Fortschritts-Enthusiasmus182
10.2 Bildungsinstitutionen und ihre Schleusenfunktionen184
10.3 Bildung als individualisiertes Patchwork186
10.4 Fast food und die Veränderung des Menschen188
10.5 Von der Toleranz zur Indifferenz193
10.6 Die Breite der Bildung195
10.7 Multidimensionale Bildung199
10.8 Naturwissenschaft als Bildung202
11 Schlussbemerkungen208
11.1 Kurzer Rückblick auf die Bildungsideologien der letzten Jahre209
11.2 Das Bildungssystem an der Jahrhundertwende214
11.3 Semantische Weltgestaltung218
11.4 Eine Synthese220
11.5 Eine Definition222

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