2. Vom Klassenbegriff zum Milieubegriff
In diesem Abschnitt möchte ich versuchen die Begriffe „soziales Milieu“ und „bildungsfernes Milieu“ zu verdeutlichen. Dazu ist eine Darstellung der verschiedenen Ungleichheitstheorien erforderlich, durch welche die Bedeutung der Terminologie „Milieu“ für unsere Gesellschaft ersichtlich wird. Die Darstellung der sozialen Lage einer Gesellschaft ohne eine Einbeziehung der sozialen Milieus ist heute fast undenkbar.
Soziale Ungleichheit spiegelt sich in fast allen Gesellschaftsbereichen auf allen Teilen der Welt wider. Dabei ist mit sozialer Ungleichheit nicht nur der Unterschied zwischen „arm“ und „reich“ und die ungleiche Verteilung des ökonomischen Kapitals und der Ressourcen gemeint, vielmehr können auch ungleiche Bildungs- und Arbeitsmarktchancen, Wohn- und Arbeitsbedingungen, die soziale Herkunft und Hautfarbe, sowie das Geschlecht Ursachen für soziale Benachteiligung sein.[3] Die Faktoren, welche bewirken, dass Menschen zu höhergestellten oder benachteiligten Personenkreisen gehören, haben sich im Laufe der Jahrhunderte durch den Wandel der Gesellschaft ebenfalls verändert. Die Entwicklung von der mittelalterlichen Ständegesellschaft bis hin zu einer postmodernen Dienstleistungsgesellschaft vollzog sich in seinen Phasen mal schneller mal langsamer, stets jedoch mit Veränderungen, die keine Garantie vor dem Verlust des eigenen Status gewähren konnte. Mit der fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft war auch die Gesellschaftsordnung einem zunehmenden Wandel unterworfen. Besonders neue Erfindungen und Entdeckungen, aber auch die Menschen selbst, sorgten im Laufe der Jahrhunderte dafür, dass die bestehende Ordnung demokratischer und das Leben selbstbestimmter wurde.
Im 16. und 17. Jahrhundert bestand die Gesellschaftsordnung aus Ständen. In einen bestimmten Stand wurde man hineingeboren. Der gesellschaftliche Status hing also von der familiären Herkunft ab und in der Regel galt dies für ein ganzes Leben, denn die Aufstiegschancen waren sehr beschränkt.[4] Die Ständegesellschaft folgt einer stark hierarchischen Ordnung und wird in drei Gruppen eingeteilt. Das höchste Ansehen hatten Adel und Klerus, den untersten und gleichzeitig größten Teil der Gesellschaft bildeten die Bauern. Diese feudalistische Gesellschaftsordnung wandelte sich jedoch im späten Mittelalter, insbesondere in den Städten hin zu einer Vier-Ständegesellschaft. Es bildete sich durch Handel, Handwerk und Dienstleistung eine Art Mittelschicht, das Bürgertum, heraus. Die rechtlichen Bedingungen der Menschen untereinander änderten sich und auch ihre Beziehungen zueinander wurden anonymer. Die Gesellschaft modernisierte sich.[5]
Nach und nach wurde die Ständegesellschaft durch die Entwicklung der vorindustriellen Gesellschaft zur frühindustriellen Gesellschaft von einer klassenähnlichen Gesellschaft abgelöst.[6] Hierbei spielten besonders die Befreiung der Bauern, die Einführung des Merkantilismus, sowie die Durchsetzung der Gewerbefreiheit eine wichtige Rolle.[7] Aufgrund dieser Entwicklungen erhielten die Menschen ein höheres Maß an Freiheit und Selbstbestimmung, was bisher durch rechtliche Grundlagen unterdrückt worden war.
In der industriellen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts galten der Besitz und das Kapital als wichtigste Indizien für eine angesehene gesellschaftliche Stellung. Technischer Fortschritt und neue Erfindungen kennzeichnen diese gesellschaftliche Epoche ebenso, wie zunehmende Massenproduktion, Ausbeutung von Arbeitskraft und Gewinnmaximierung. Erst jetzt kann man von einer Klassengesellschaft sprechen, da sich hier Besitzende und Nichtbesitzende, also Menschen mit gegensätzlichen Interessen, gegenüber stehen. In einer Klassengesellschaft stehen sich einerseits die zahlenmäßig kleinere herrschende Gruppe und eine große Gruppe von Menschen, die so genannten Proletarier gegenüber. Die herrschende Klasse verfügt über Macht und unterscheidet sich von den Proletariern durch ihren Besitz an Produktionsmitteln.[8] Nach Max Weber, neben Karl Marx einer der bedeutendsten Begründer der Klassentheorie, teilt sich die Gesellschaft in eine Besitz- und eine Erwerbsklasse auf. Angehörige dieser Klassen befinden sich, ihm zufolge, in etwa der gleichen Ausgangslage, was ein Grund für die Entstehung von Klassen ist. Marx geht weiter, indem er behauptet nicht allein der Besitz und das Einkommen mache die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse aus. Er unterscheidet zwischen einer „Klasse an sich“, die aufgrund des Kapitals und der damit einhergehenden ökonomischen Lebenslage ihrer Mitglieder besteht und einer „Klasse für sich“, die durch das Bewusstsein, die Identifikation mit der Klasse und die Solidarisierung ihrer Mitglieder entsteht.[9] Hierbei wird schon deutlich, dass es nicht nur die äußeren Merkmale sind, die eine Klassenzugehörigkeit ausmachen, auch soziale Faktoren spielen dabei eine Rolle.
Das Gesellschaftsmodell der „Klasse“ ist nie gänzlich von einem anderen abgelöst worden und existierte bis ins neue Jahrtausend hinein neben anderen Modellen weiter. Jedoch ist die klare Einteilung in Klassen, aufgrund von ökonomischen Merkmalen, wie sie bei Marx und Weber vorkommt nicht mehr aktuell.[10] Die gesellschaftlichen Strukturen sind um einiges komplexer, als dass man sie nur nach einem Ordnungsprinzip charakterisieren könnte.[11]
Bourdieu fügte dem Begriff der Klasse, welcher sich aufgrund der Theorien von Marx, insbesondere auf das ökonomische Kapital bezog, weitere Kapitalformen hinzu. Jedoch beruht auch die Theorie Bourdieus auf der marxistischen Grundvorstellung, nach welcher die Gesellschaft in Ober-, Mittel, und Unterklasse, bzw. Proletariat eingeteilt ist. Bourdieu behauptet dagegen aber auch, eine Gesellschaft teile sich nicht nur nach ökonomischen Voraussetzungen in unterschiedliche Klassen auf und ergänzt das ökonomische Kapital durch das soziale, kulturelle und symbolische Kapital. Diese drei Kapitalformen bilden demnach die Grundlage für die Unterscheidung der gesellschaftlichen Klassen. Wobei das ökonomische Kapital bei Bourdieu, im Gegensatz zur Auffassung der Marxisten, nur die Güter umfasst, welche direkt in Geld umgesetz werden können.[12]
Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu die Gesamtheit der tatsächlichen und potentiellen Ressourcen, die sich aus dem Netzwerk sozialer Beziehungen von Menschen ergeben. Es umfasst die Quantität als auch die Qualität dieser Beziehungen, und stellt damit dar in welchem Maße das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt.[13] Bedeutender als das soziale kann jedoch das kulturelle Kapital angesehen werden. Hier unterscheidet Bourdieu zwischen inkorporiertem, objektiviertem und institutionalisiertem Kulturkapital, allerdings kann man nach den Ausführungen von Honneth sagen, dass es sich beim kulturellen Kapital vornehmlich um Bildungskapital, also um die „Menge und Güter der erworbenen Schulabschlüsse“[14] handelt. Schließlich bleibt noch das symbolische Kapital, welches unabdingbar für die Durchsetzung der soeben aufgeführten Kapitalsorten ist. Das symbolische Kapital sorgt dafür, dass die Hierarchie, die sich aus den Kapitalsorten ergibt, erhalten bleibt, indem es die Existenz der Kapitalformen, sowohl gegenüber den Herrschenden als auch gegenüber den Beherrschten legitimiert.
Aufgrund dieser Kapitalformen bilden sich Klassen, die sich, nach Bourdieu, durch das Habituskonzept erhalten. Dieses Konzept besagt, dass die Angehörigen der Klassen stets entsprechend ihrer Klasse handeln, ohne sich dessen bewusst zu sein oder individuellen Nutzen daraus zu ziehen.[15] Sie versuchen sich durch das Prinzip der Distinktion von anderen Klassen abzugrenzen und ihrer Klasse eine Höherwertigkeit zuzuschreiben. Dadurch entsteht ein klassenspezifischer Geschmacks- und Lebensstil, der sich auf alle Bereiche des Lebens erstreckt.[16] Angehörige der „Mittelklasse“ beispielsweise versuchen sich vom Proletariat abzugrenzen und ihren Lebensstil dem der „Oberklasse“ anzupassen, indem sie ihren Mangel an ökonomischem und kulturellem Kapital durch Bildungseifer und Opferbereitschaft kompensieren.[17] Die Oberklasse will ihre Position in dieser gesellschaftlichen Hierarchie natürlich nicht verlieren und bemüht sich daher stets um ein hohes Maß an Exklusivität und Individualität. Die Unterklasse hingegen gibt sich aufgrund ihrer, sowohl in ökonomischer als auch kultureller Hinsicht begrenzten Mittel einem hedonistischen und materialistischen Lebensstil hin, der sich auf die Entscheidung für finanziell erreichbare Vergnügungen und praktische Kulturgüter ausrichtet.[18]
Innerhalb der einzelnen Klassen finden ebenfalls soziale Kämpfe statt, die denen zwischen den Klassen entsprechen. Diese inneren Kämpfe ergeben sich aus der Hierarchie, die sich innerhalb der Klassen gebildet hat. Man könnte also von interklassischen und intraklassischen sozialen Kämpfen sprechen. Nach Bourdieu beruht die Hierarchie innerhalb der Klassen auf den Berufsgruppen, die sich hier angeordnet haben.
In Bezug auf diese Arbeit kann man daraus folgernd sagen, dass Bildungsferne, aufgrund ihres Mangels an kulturellem,...