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Bin ich hier der Depp?

Wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen

AutorMartin Wehrle
VerlagMosaik bei Goldmann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783641109035
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Von der Kunst, nicht ständig zur Verfügung zu stehen
Überlastung, angehäufte Überstunden und keine Chance, sie jemals abzubauen - muss ich mir das wirklich gefallen lassen? Das fragen sich Millionen Mitarbeiter jeden Tag aufs Neue. Der Karriereberater und Bestsellerautor Martin Wehrle kennt den Wahnsinn in deutschen Firmen. Er zeigt auf, mit welchen Tricks Mitarbeiter ausgebeutet werden. Warum gibt es keinen Feierabend mehr? Warum beschleunigt Multitasking die Burnout-Quote, aber nicht die Arbeit? Martin Wehrle weist Wege aus dem Hamsterrad. Der Arbeitnehmer erfährt unter anderem, wie er Grenzen um sein Privatleben ziehen kann. Nie wieder Depp sein und auf in ein selbstbestimmtes, glückliches Berufsleben!

Martin Wehrle ist Deutschlands bekanntester Karriere- und Lebenscoach. Seine Bücher sind in zwölf Sprachen erschienen und haben rund um den Globus begeisterte Leserinnen und Leser gefunden. Mit »Ich arbeite in einem Irrenhaus« und dem Folgeband »Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus« landete er gefeierte Bestseller, zuletzt erschienen die Spiegel-Bestseller »Den Netten beißen die Hunde« und »Wenn jeder dich mag, nimmt keiner dich ernst«. An seiner Hamburger Karriereberater-Akademie bildet er Karrierecoaches aus.

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Leseprobe

In diesem Kapitel erfahren Sie unter anderem …

  • warum immer mehr Firmen sich als Paradies ausgeben, aber die Hölle sind,
  • wie das Märchen der Globalisierung benutzt wird, um Mitarbeiter zu verheizen,
  • wie ein Chef einen Nordkap-Urlauber aufspürte und zurück in die Firma beorderte
  • und wodurch Helmut Kohl zum Vorbild einer irren Arbeitssekte wurde.

Das höllische Arbeitsparadies

Eine süße Melodie erklingt aus den deutschen Firmen, eine Melodie wie die des Rattenfängers von Hameln. Die Firmen flöten von einer modernen Arbeitswelt, in der jeder Mitarbeiter sein eigener Herr ist. Die große Freiheit soll an den Arbeitsplätzen ausgebrochen, die Selbstbestimmung eingekehrt, das Zeitalter der Schufterei beendet sein. Stellenausschreibungen, Broschüren und Vorstandsreden verheißen dem Mitarbeiter hinterm Firmentor ein gelobtes Arbeitsland, ein Paradies.

Die Hierarchien? Flach wie das Wattenmeer! Die Stechuhren? Auf dem Weg ins Museum! Der Chef? Dein Freund und Helfer! So manches Firmengebäude verwandelt sich zur Sofa-Landschaft, die Tischtennisplatte im Konferenzraum lädt ein zum Rundlauf, und wer aus der Obstschale auf dem Flur einen Apfel greift, darf das auf Kosten der Firma tun, statt dafür aus dem Paradies vertrieben zu werden; die Firmen-Götter sind gnädig.

Kein Telefonkabel, lieber Mitarbeiter, kettet Sie mehr an Ihren Schreibtisch, Sie sind frei wie der Wind. Ihre Arbeit ist geschrumpft auf Taschenformat, sie lässt sich bequem per Handy tragen. Und, bitte sehr: Picken Sie sich aus dem Arbeitsmodell-Baukasten einen Arbeitsort Ihrer Wahl, ob Heimbüro oder Südseestrand. Teilen Sie Ihren Job (Job-Sharing) oder schlafen Sie morgens bis 10 Uhr aus (flexible Arbeitszeit) – völlig in Ordnung! Kein Chef sitzt Ihnen mehr im Nacken, Sie verantworten Ihre Ergebnisse selbst.

Die Arbeitswelt ein Paradies und der Mitarbeiter ein dankbarer Bewohner: So hätten sie es gern, die Rattenfänger!

Doch wer der süßen Melodie hinters Firmentor folgt, stolpert in eine Arbeitshölle, wie sie die Welt seit dem Frühkapitalismus nicht mehr gesehen hat. Die Firmen flöten: »Du bist selbst für deinen Erfolg verantwortlich«, gemeint ist: »Der Misserfolg kostet dich den Kopf!« Die Firmen flöten: »Du kannst deine Arbeit frei einteilen«, gemeint ist: »Mach bloß nicht Feierabend, bevor alles fertig ist.« Die Firmen flöten: »Du kannst alles bei uns erreichen«, gemeint ist: »Wenn du auf der Strecke bleibst, liegt es nur an dir!«

Hinterm Firmentor wohnt das Elend. Mitarbeiter ächzen unter Arbeitslasten. Sie schuften, bis der Arzt kommt, und der Arzt kommt oft: Die Burn-out-Kliniken quellen über, sie sind zu den Seelen-Kläranlagen einer zum Himmel stinkenden Arbeitswelt geworden. Zwischen 2005 und 2011 haben sich die Krankheitstage wegen Burn-out verelffacht, auf 2,7 Millionen.[5] Berufsleben statt Leben, Überstunden statt Feierabend, Dauerstress statt Entspannung: Millionen Mitarbeiter strampeln in diesem Hamsterrad. Das Hobby ist nur noch Erinnerung, die beste Freundin eine Adresse im Notizbuch und die Ehe womöglich ein Fall für den Scheidungsanwalt.

Frei ist sie tatsächlich, die moderne Arbeitswelt, aber nur frei von Berechenbarkeit: Wer jahrzehntelang beste Arbeit leistet, kann über Nacht für die Rendite rausgekegelt werden; frei von Gerechtigkeit ist sie: Die Reallöhne der Mitarbeiter sind zwischen 2000 und 2012 um 1,8 Prozent gesunken[6], während die Unternehmensgewinne durch die Decke schießen[7]; und frei ist sie von einer Abgrenzung zum Privatleben: Der Feierabend ist kein Schlusspfiff mehr, nur noch Auftakt zur Verlängerung; Mitarbeiter stehen rund um die Uhr zur Verfügung, Freizeit verkommt zur Rufbereitschaft.

Gesunde Menschen gehen rein in die Firmen, und kranke kommen raus. Die Fließbänder der schönen neuen Arbeitswelt produzieren Volksleiden wie Bluthochdruck, ADHS und Burn-out. Allein 2011 musste die AOK für die Behandlung psychischer Erkrankungen 9,5 Milliarden Euro in die Hand nehmen, eine Milliarde mehr als im Vorjahr.[8]

Der Mitarbeiter ist Gehetzter und Verletzter, Sklave und Einpeitscher zugleich. Beschossen mit Mails, bombardiert mit Projekten, behelligt von Anrufen, überfordert von Zielen – so rotiert er um die eigene Achse.

Das Drehbuch der seelischen Überforderung wird von Managern geschrieben: Wie sollen Mitarbeiter die Qualität ihrer Arbeit erhöhen, wenn zugleich immer weniger Zeit dafür bleibt? Wie sollen sie größere Arbeitsmengen bewältigen, wenn zugleich immer mehr Planstellen ausradiert werden? Und wie sollen sie loyale Diener ihrer Firma sein, wenn diese Firma sich ihrer nur bedient, sie als Zeitarbeiter hinhält, als Überstunden-Sklaven ausbeutet, mit Hungerlöhnen abspeist?

Arbeit ist heutzutage das, was niemals fertig wird. Schon gar nicht vor Feierabend. Fertig sind nur die Arbeitnehmer. Mit ihren Nerven.

Hamsterrad-Regel: Die Firma verspricht viel, wenn der Tag lang ist, aber wahr macht sie nur eines: dass der Tag lang ist.

Eine Schwalbe macht noch keinen Burn-out

Firmen funktionieren in etwa so: Einer schafft Geld ran, man nennt ihn Mitarbeiter, und einer sackt Geld ein, man nennt ihn Unternehmer. Entsprechend begehrt sind Arbeitnehmer, sie werden als »Humankapital« gepriesen, als »Mitunternehmer« umschmeichelt, als »High Potentials« umworben. Im Krieg der Moderne wird nicht mehr um Lebensraum, sondern um die besten Mitarbeiter gekämpft (»War for Talents«).

Dass die Betonung bei »Humankapital« nicht auf »human« liegt, wird spätestens deutlich, wenn ein Mitarbeiter erkrankt. Zwar bekommt man für den Herzinfarkt noch immer einen Tapferkeitsorden, sofern man ihn sich durch eifrigen Arbeitseinsatz verdient hat und den Laptop mit auf die Intensivstation nimmt. Aber Krankheiten, die den Geist betreffen, gelten als Geistererscheinung.

»Burn-out« – dieses Wort hat unter Vorgesetzten eine ähnliche Bedeutung wie »Schwalbe« unter Fußballschiedsrichtern. Das stelle ich immer wieder im Austausch mit Managern fest. Neulich sprach mich nach einem Vortrag der Leiter eines Logistikunternehmens an und fragte, ob Überlastung durch Arbeit nicht doch die große Ausnahme sei.

Ich fragte zurück: »Erzählen Sie mal von Ihrer Firma – gibt es dort Burn-out-Fälle?«

»Wenn es einen gäbe, der unter der Arbeit zusammenbrechen müsste, dann doch ich! Aber Sie sehen ja: Es geht mir gut! Darum kann ich mir nicht vorstellen, dass sich in meiner Firma irgendjemand kaputtarbeitet.«

»Niemand leistet Überstunden bei Ihnen?«

»Ich kann den Leuten doch nicht vorschreiben, wann sie Feierabend machen! Wenn einer länger als acht Stunden arbeiten will, dann steht ihm das frei.«

Ich versuchte es mit Ironie: »Kann es sein, dass auffällig viele Mitarbeiter ›wollen‹?«

»Klar«, antwortete er ernst, »die Motivation ist hoch. Wer bei uns was werden will, der hängt sich rein.«

»Und Ihnen kam wirklich noch kein Burn-out-Fall zu Ohren?«

Er verzog sein Gesicht. »Natürlich gibt es Leute, die sich mit einem Burn-out krankschreiben lassen.«

»Sie halten diese Mitarbeiter für Simulanten?«

Seine Hände machten eine wegwerfende Bewegung. »Kann man nicht jedes psychische Wehwehchen zum Burn-out aufbauschen? Es gibt doch immer ein paar Schlauberger, die sich Urlaub auf Krankenschein gönnen. Der Burn-out ist ja noch nicht mal als Krankheit anerkannt.«

»Die Ärzte nehmen ihn sehr ernst: Er läuft unter Depression. Und die geht manchmal tödlich aus!«

»Na sehen Sie! Für psychische Probleme, die jemand mit sich selber hat, können Sie doch nicht mich als Chef verantwortlich machen.«

Zweierlei ist typisch: Erstens wird die Schuld auf die Mitarbeiter verlagert. Wenn ein Mensch an der Arbeit zerbricht, hat das nicht mit der Arbeit zu tun, nur mit dem Menschen. Und zweitens stilisieren sich gestresste Chefs – gerade solche, die selbst kurz vorm Burn-out stehen – gern zum lebenden Burn-out-Gegenbeweis. Ganz nach dem Motto: Alles halb so schlimm, siehe mich!

Die Führungskräfte halten es mit dem scharfzüngigen Kritiker Karl Kraus: »Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.« Das befreit sie von der moralischen Pflicht, den Druck zu mindern und ihre Mitarbeiter zu schützen.

Solche Gespräche führen dazu, dass ich Fakten auf den Tisch lege: Warum leisten die Deutschen so viele Arbeitsstunden wie seit 20 Jahren nicht mehr?[9] Warum antworten acht von zehn Mitarbeitern laut einer Bitkom-Umfrage auf dienstliche Mails sogar im Urlaub und in der Freizeit?[10] Und welche Erklärung gibt es dafür, dass sich die Zahl der psychischen Erkrankungen seit 1994 um 120 Prozent erhöht hat?[11] Wie der Wasserdampf einen Teekessel zum Pfeifen bringt, so treibt der Arbeitsdruck die Mitarbeiter über...

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