Erwartungen und Druck
Dass ich diese Entscheidung nicht getroffen habe, lag nicht nur daran, dass ich niemanden enttäuschen wollte, sondern auch daran, dass ich nicht erkannt hatte, wie wichtig es mir bisher war, anerkannt zu werden. Ich wollte nicht nur Menschen, sondern auch die Erwartungen, die an mich gestellt wurden, nicht enttäuschen. Ich wollte verdammt noch mal alles richtig machen. Von klein auf habe ich um Anerkennung gekämpft. Ein Grund dafür war sicherlich auch die Trennung meiner Eltern, als ich fünf Jahre alt war. Plötzlich war mein Vater nicht mehr da. und mir fehlte ein wichtiger Teil meiner Familie und damit das Gefühl, Anerkennung und Sicherheit zu erleben. Eine Anerkennung, die ich aber auch nicht erhalten hätte, wenn er geblieben wäre, denn mein Vater hat lange Zeit meine Entscheidungen nicht akzeptieren können, allen voran, dass ich mich dafür entschied, Sport zu studieren. Als Mathematiker und Physiker war er ein sehr rationaler Mensch, und in seiner Generation war nur derjenige erfolgreich, der etwas Sichtbares oder Messbares schuf. Sport zu machen gehörte definitiv nicht dazu.
Mein ständiger Kampf und mein stetes Streben galten also seiner Anerkennung. Ich bekam sie nicht und fühlte mich in vielem falsch, was ich tat. Als mir mein Vater kurz vor seinem Tod sagte, dass er stolz auf mich sei und ich mir meine Lebensfreude erhalten solle, war es das erste Mal, dass ich mich richtig fühlte. Nach all dem, was ich in den vielen Jahren vermisst hatte, mich doch von ihm akzeptiert zu wissen, war ein sehr wichtiger Moment für mich. Ich musste nicht mehr um Akzeptanz kämpfen. Das Gefühl, alles richtig machen zu wollen, war allerdings in mir verankert.
Durch die Schräglage bei Outdoor Gym wurde mir nun auch noch mein nächstes großes Thema vor den Latz geknallt.
Ich hatte immer das Bestreben, dass es allen gut geht. Ich scheute Auseinandersetzungen und wollte Konflikte, so gut es irgendwie ging, vermeiden. Einfach gesagt wollte ich immer Harmonie. Koste es, was es wolle. Das war das zweite große Ding, das mir als Kind so sehr fehlte, denn meine Eltern gingen nach ihrer Trennung alles andere als harmonisch miteinander um. Ständig stritten sie, und so lebten wir in einem Dauerkonflikt. Als Kind und später als Jugendlicher stand ich immer zwischen ihnen und versuchte zu vermitteln. Auf keinen Fall wollte ich der Auslöser für den nächsten Streit sein. Der größte Wunsch, den ich hatte, war Harmonie. Ich versuchte, immer dafür zu sorgen, dass es allen gut geht.
Und jetzt stand ich vor der Entscheidung, Mitarbeitern zu kündigen. Wahrscheinlich war das eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens, denn es lag auf der Hand, dass das Resultat dieser Entscheidung war – egal, ob ich das Unternehmen aufgab oder weiterführte –, einige Menschen enttäuschen zu müssen. Und das bedeutete im Klartext, dass ich ihnen offen sagen musste, was ich schon längst wusste: »So geht es nicht weiter, wir haben viele Fehler gemacht. Wenn es weitergehen soll, dann gilt es, klare Veränderungen umzusetzen.« Das war die Wahrheit, die ich anerkennen musste und nach der ich nun auch handeln wollte.
Als ich mir eingestand, dass dies der ehrliche und einzige Weg ist, merkte ich, dass ich damit auch bereit war, alles zu verlieren. Ich konnte und wollte mich nicht mehr selbst täuschen, nicht um den Preis, eine vermeintliche Harmonie aufrechtzuerhalten. Mir war bewusst, Gefahr zu laufen, dass sich alle Menschen von mir und meinem Unternehmen abwenden würden. Dass sie nicht nur enttäuscht wären, sondern wütend und sicherlich auch manch einer gegen mich arbeiten würde. Letztendlich gab es von allem etwas. Es tut mir leid, dass sich einige falsch verstanden fühlten, wütend oder enttäuscht waren und heute noch sind. Und trotzdem war diese Entscheidung richtig. Ein Unternehmen, das sich finanziell nicht trägt, kann nicht bestehen.
Ich habe mich also für ein »Raus aus dem Alten« und ein »Rein in etwas Neues« entschieden. Ich habe nicht zugemacht. Ich glaube, dass auch das Wort zumachen ein Wort mit großer Bedeutung ist. Denn zumachen bedeutet auf psycho-emotionaler Ebene, sich vor etwas zu verschließen. Und wer sich verschließt, ist nicht offen, etwas Neues zu erkennen. Sich zu öffnen ist ein elementarer Bestandteil für Veränderungen. Offen sein bedeutet aber auch, bereit zu sein, verletzt zu werden oder gar alles zu verlieren.
Mit der Bereitschaft, ALLES zu verlieren, und der Erkenntnis, dass ich das überleben würde, da ich alles, was mir wichtig war – meine Familie, meine Integrität und meine neu gewonnene Selbstliebe – behalten würde, wurde es plötzlich leichter, und vor mir öffneten sich neue Türen. Die Menschen in meinem Team teilten die neue Vision und waren bereit, den neuen Weg mit mir zu gehen. Mit allen Schwierigkeiten und Tiefen, die es zu durchqueren galt. Diese Erfahrungen, die ich mit meinem Unternehmen machen durfte, habe ich gebraucht, um zu verstehen, dass ich Entscheidungen treffen darf, die andere gegebenenfalls enttäuschen. Aber noch viel wichtiger war, dass ich begriffen habe, dass Ent-Täuschungen nur dann notwendig sind, wenn vorher Täuschungen bestanden haben. Ich habe mir vorgenommen, Täuschungen in Zukunft gar nicht erst entstehen zu lassen und im besten Falle weder mich selbst zu täuschen noch andere. Eine Täuschung findet statt, wenn ich mich vor der Wahrheit verschließe und nicht bereit bin, ihr ins Auge zu sehen.
Wenn ich heute erkenne, dass etwas in die falsche Richtung läuft, warte ich nicht mehr, sondern ändere es sofort. Ich spreche an, was ich als falsch empfinde, und bin bereit, damit einen möglichen Konflikt mit einem anderen Menschen einzugehen. Dieser Konflikt ist aber viel kleiner, als würde ich das Problem aussitzen oder erst viel später ansprechen. Dadurch wächst nur die (spätere Ent-)Täuschung. Wichtig ist nicht, was andere in dir sehen, sondern was du selbst in dir siehst und was daraus wachsen kann. Es ist entscheidend, in sich zu schauen, ehrlich mit sich zu sein und sich vor sich selbst zu öffnen.
Drei Dinge habe ich auf dieser Reise gelernt:
Stoppe direkt, wenn du erkennst, dass sich etwas in die falsche Richtung entwickelt.
Sei immer bereit, dir Unterstützung zu holen.
Unangenehme Entscheidungen sind oft die wichtigsten in unserem Leben. Habe den Mut, sie zu treffen.
Die zwei Seiten von »raus sein«
Raus sein hat für mich zwei Bedeutungen. Raus sein kann bedeuten, dass du dich draußen, also an einem anderen Ort als deinem Zuhause oder dem Büro befindest. Reize und Einfluss einer neuen Umgebung helfen, Distanz zu deinem Alltag und damit häufig auch zu Sorgen und Stressoren zu finden. Ein Tagestrip in eine andere Stadt kann sich anfühlen wie ein Kurzurlaub. Die Probleme bleiben für eine Weile verschwunden. Räumliche Distanz allein reicht aber nicht aus, um dauerhaft raus zu sein. In Kapitel zwei werde ich dir noch einiges dazu sagen.
Die andere Seite des Rausseins erleben wir in unserem Alltag wesentlich häufiger. Wir sind nämlich auch raus, wenn unser Unterbewusstsein die Regie übernimmt. Auf der Basis der Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, und der Glaubenssätze, die daraus entstanden sind, steuert es uns und sorgt dafür, dass wir unsere Glaubenssätze immer wieder bestätigt bekommen. Wir laufen quasi auf Autopilot. So können unangenehme Themen geschickt umschifft werden. Sobald es doch unangenehm wird, nutzen wir Ablenkungsmechanismen, die uns auch rausbringen. Medien, das Internet, aber auch andere Dinge wie Alkohol, Nikotin, Zucker, Fett, Einkaufen und vieles andere sind wirksame Mittel, um uns vom eigentlich Wesentlichen abzulenken. Mit ihrer »Hilfe« sind wir die Sorgen eine Weile los. Das ist übrigens auch das Fatale an Alkohol, Drogen oder auch Junkfood – diese Dinge erwarten nichts von uns.
Eine Klientin sagte mir einmal: »Essen ist immer da, und es nimmt mich so, wie ich bin. Es wertet nicht.« Das ist einer von vielen Gründen, warum übergewichtige Menschen zu maßlosem Essen neigen. Sie wünschen sich eben auch, raus zu sein aus ihren Ängsten und krassen Glaubenssätzen, und solange ihr Belohnungszentrum im Gehirn anspringt, fühlen sie sich auch wirklich (kurz) besser. Na klar wertet das Essen nicht, das tut dann aber spätestens die Gesellschaft, die übergewichtigen Menschen wenig Respekt entgegenbringt. Ihre Nöte sieht keiner.
Es ist nicht verwerflich und wirklich häufig so, dass wir nicht das tun, was gut für uns wäre, sondern uns mit Essen oder anderen Dingen ablenken oder das tun, was andere von uns erwarten und was andere für richtig oder wichtig halten. Wer zu einem großen Teil für andere lebt, lebt fremdbestimmt. In diesem Sinne bringt uns das Raussein davon ab, das Wesentliche zu tun, dich mit dir selbst und deinen innersten Wünschen, Gefühlen, aber auch Ängsten auseinanderzusetzen. Es ist wesentlich einfacher, sich abzulenken und ablenken zu lassen, als sich seinen Ängsten zu stellen. Das klingt jetzt hart, und wenn du auch zu denjenigen gehörst, die sich lieber ablenken, als sich Problemen zu stellen, nimm diese Worte nicht persönlich. Wir entscheiden meist nicht, Konflikte zu vermeiden, dieses Verhalten entsteht oft unterbewusst.
Früher, zu Zeiten Sigmund Freuds, dachte man, das Unterbewusste sei gleichzusetzen mit einer dunklen, bedrohlichen Kraft. Heute weiß man, dass das Unterbewusstsein alle bisherigen Erfahrungen, Sinneseindrücke, die Informationen daraus und die dazugehörigen Gefühle eines Menschen speichert. Das tut es aus einem guten Grund – es sorgt dafür, dass...