|13|2 Biografisches Arbeiten – Theoretische und praktische Entwicklungen
2.1 Biografisches Arbeiten nach Fred Kanfer
Der Mitbegründer der kognitiven, verhaltenstherapeutischen Arbeit Frederic Kanfer ist derjenige, der das noch heute gültige Grundmodell biografischen Arbeitens entwickelt hat (Kanfer et al., 1991). Seine Mikro- (S-O-R-K-C-Modell) und Makroanalyse sind seit über 50 Jahren weltweit die Basisverfahren für die Planung und Zielerarbeitung in der kognitiv-emotionalen Verhaltenstherapie. Im Rahmen seiner Selbstmanagement-Therapie hat er Modelle entwickelt, welche ermöglichen, dass der Patient und der Therapeut gemeinsam die Zusammenhänge von Biografie, lebensgeschichtlicher Entwicklung und Problemverhalten transparent erarbeiten können. Damit erhält der Patient sozusagen „Hilfe zur Selbsthilfe“ und kann sich so aus pathologischen Verhaltensmustern lösen. Im Grundmodell der Verhaltensanalyse, nämlich der Mikro- und Makroanalyse, soll die lebensgeschichtliche Entwicklung und Krankheitsanamnese der Patienten so dargestellt werden, wie sie für die geplante Therapie relevant sind. Dies erfolgt unter anderem unter dem Aspekt der klassischen Lerngesetze in der Makroanalyse. Hier wird auf frühere Verstärkungsbedingungen, Modelllernen, Bewältigungsfertigkeiten und spezifisch behindernde Entwicklungsbedingungen eingegangen, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit wesentlich sind. Schwarz (in Rabaioli-Fischer & Kraemer, 2002) führt dazu aus:
Die Makroanalyse bzw. Bedingungs- und Funktionsanalyse soll aus der Lebensgeschichte ableitbare Dispositionen für die aktuelle Störung enthalten (z. B. Modelllernen bei überängstlicher Mutter, mangelnde Entwicklung von Copingfertigkeiten durch fehlende Modelle der Eltern). Es soll deutlich werden, weshalb dieses Verhalten jetzt aktualisiert und durch welche Bedingungen (positive und negative Verstärkungsprozesse) es aufrechterhalten wird. (S. 22)
Somit wird deutlich, dass wir bereits in den Anamnesesitzungen die Planung der Psychotherapie stets aufgrund biografischer Informationen spezifisch im Hinblick auf Problemverhalten analysieren, vernetzen und für die Therapieplanung und für den Patienten transparent erklärbar machen wollen.
Kanfer et al. (1991) beschreiben die Entwicklung von „Verhaltensstörungen“ durch eine Fülle von zusammenwirkenden Einzelfaktoren und Zuständen, welche nur durch ein multifaktorielles Modell adäquat repräsentiert werden können. Problematisch werden diese Faktoren dadurch, dass ursprünglich funktionale Verhaltensmuster im Laufe der Zeit dysfunktional werden. Kanfer macht dies anhand des Beispiels deutlich, dass es Patienten z. B. nicht gelingt, ihre rigiden, |14|stereotypen Gewohnheiten zu ändern. Und dies angesichts der Tatsache, dass ihre Lebenssituation zwischenzeitlich gravierend anders ist als früher und somit ihre alten Verhaltensmuster nicht mehr passen (Kanfer et al., 1991):
Wenn zum Beispiel ein Kleinkind bei Problemen die Mutter um Hilfe bittet, so kann dies durchaus als „kindgemäßes“ Verhalten gelten. Wenn aber dieses Kleinkind mittlerweile 50 Jahre alt geworden ist, sich aber immer noch bei persönlichen Entscheidungen von der Mutter lenken lässt, sind dysfunktionale Konsequenzen hochwahrscheinlich. Ein fehlendes Anpassen eigener Schemata an neue Entwicklungsstufen im Leben ist ein potentieller Risikofaktor für spätere Störungen. (S. 77)
Des Weiteren betonen die Autoren, dass persönliche Erlebnisse in der Kindheit mit traumatischem Charakter von vielen Therapieschulen als Entstehungsbedingung für bleibende Verhaltensstörungen anerkannt werden. Im Rahmen der Verhaltensanalyse und des funktionalen Bedingungsmodells werden somit die unmittelbar störungserhaltenden Variablen und die im Makromodell ermittelten, lebensgeschichtlichen Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung eines Problemverhaltens führen, erfasst. Für die Analyse und Entwicklung des problematischen Verhaltens schlagen Kanfer et al. (1991, S. 257) folgende Fragen vor:
Fragen zur Analyse und Entwicklung problematischen Verhaltens nach Kanfer et al. (1991):
Unter welchen Umständen hat sich das problematische Verhalten ursprünglich entwickelt?
Lassen sich die zum Zeitpunkt der Problementstehung relevanten Bedingungen noch eruieren?
Ist es im vorliegenden Fall notwendig, Informationen über die ursprüngliche Problementstehung zu kennen?
Welche damaligen Umstände/Bedingungen sind heute noch vorhanden und funktional relevant/welche nicht?
Gibt es im Verlauf über die Zeit deutlich kovariierende Bedingungen?
Gibt es Hinweise auf ein „Lernen am Modell“?
Ist das problematische Verhalten „V“ möglicherweise als missglückter, subjektiver Lösungsversuch für andere Probleme zu interpretieren?
Wie erklärt sich der Patient die Entstehung seiner Schwierigkeiten?
Zur Erfassung lebensgeschichtlich relevanter Bedingungen für die Planung einer Verhaltenstherapie dienen die klassischen Lerngesetze sowie sozialpsychologischen Paradigmata, die die späteren Verhaltensweisen beeinflussen. Handlungsbestimmende Einstellungen werden im Rahmen der Sozialisation über den Prozess des klassischen und instrumentellen Konditionierens sowie über Prozesse des Modelllernens erworben. Das klassische Konditionieren ist z. B.: in Leistungs-/Exponierungssituationen (CS) → CR– tritt Scham als Gefühl auf.
|15|Das operante Konditionieren kann dazu führen, dass sich beim Erwachsenen inadäquate Minderwertigkeits- oder Schamgefühle erhalten, wenn der Patient in seiner Kindheit fortlaufend Abwertung und Missachtung seitens seiner Eltern erlebt hat. Das heißt, dass ein Kind in einer einfachen S-R-Verbindung erlebt, dass es beim Zeigen von bestimmten Reaktionen (wie z. B. dem Stolz auf ein selbst gemaltes Bild) verlacht und mit Missachtung behandelt wird. Um angenehmere Reaktionen durch die Eltern zu erzielen (was stets das Ziel eines Kindes ist: nämlich Anerkennung, Liebe und Zuwendung zu erhalten), lernt dieses dann, dass es besser ist, sich zurückzunehmen oder devot zu zeigen. Die Entwicklung von Schamgefühlen ist somit ein typisches Beispiel für die Entstehung von Problemverhalten durch den Prozess der klassischen und operanten Konditionierung. Besonders manifest bleibt diese Reaktion später in Situationen als Erwachsener, wenn das Kind diese Strafreaktion von Verachtung und Abwertung vor anderen Menschen (z. B. Geschwistern, Verwandten) erlebt hat.
Das Lernen von handlungsleitenden Kognitionen und Verhaltensweisen kann andererseits auch über instrumentelles Konditionieren erworben werden. Instrumentelles Konditionieren tritt dann auf, wenn wir erlernen, dass ein bestimmtes Verhalten eine angenehme oder unangenehme Konsequenz zur Folge hat. Wird ein Kind beispielsweise für negative Äußerungen gegenüber Ausländern bestärkt und gelobt, so kann es diese Einstellung als stabiles Vorurteil handlungsleitend erwerben.
Der Hauptunterschied zwischen dem klassischen und dem instrumentellen Konditionieren besteht darin, dass der Einstellungserwerb beim klassischen Konditionieren eher unbewusst vor sich geht und auf Gefühlen und psychischen Prozessen beruht (so dass eine einfache Reaktionsverbindung quasi reflexhaft wird), während beim instrumentellen Konditionieren eine Verhaltensweise oder Einstellung über Verstärkungsprozesse geformt wird (Nawratil & Rabaioli-Fischer, 2010). Manche Menschen entwickeln jedoch auch ein „Gegenmodell“ in ihrem Verhalten, um eine eigene Identität und Abgrenzung zu den Eltern zu etablieren. So werden etwa Gefahrensituationen bewusst ignoriert, um eine Abgrenzung gegenüber vorgegebenen...