|13|1 Geschichte, Grundlagen und Forschungsmethoden der biologischen Psychiatrie
1.1 Geschichte der biologischen Psychiatrie
Die Auffassung, psychische Störungen über Veränderungen im Körper zu erklären, ist sehr alt. Man kann sie mit der Säftetheorie des Hippokrates beginnen lassen, der zufolge ein bestimmtes Mengenverhältnis von Flüssigkeiten das Temperament bestimmt, der Überschuss eines der Säfte einen psychopathologischen Zustand begründet, etwa der von schwarzer Galle die Melancholie (griechisch: melas = schwarz).
Direkteren Bezug zur heutigen biologischen Psychiatrie haben Arbeiten etwa aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beispielsweise jene, in denen die Beziehung zwischen Progressiver Paralyse und Syphilis diskutiert wurde. Der von Krafft-Ebing 1897 geführte Nachweis, dass Inokulation von Eiter aus syphilitischen Geschwüren bei Paralysepatienten nicht zur Infektion führte, sie also bereits zuvor mit dem Erreger konfrontiert gewesen sein mussten, lässt sich mit Recht als Geburtsstunde der modernen biologischen Psychiatrie betrachten.
Bereits zuvor finden sich modern anmutende, heute weitgehend in Vergessenheit geratene biologische Auffassungen, so die neurochemischen Theorien psychopathologischer Zustände von Theodor Meynert oder Freuds neurophysiologisches Modell der Neurosenbildung, wie im erst posthum veröffentlichten „Entwurf einer Psychologie“ niedergelegt (siehe Köhler, 2014b, S. 24 f.). Weitere Beiträge zur biologischen Psychiatrie stellen etwa die Versuche kortikaler Lokalisation von Sprachstörungen (und damit von Sprachzentren) durch P. Broca und C. Wernicke dar.
Als biologisch-psychiatrisch relevante Entdeckungen des frühen 20. Jahrhunderts lassen sich die Erkenntnisse zur Neurotransmission, die Einsichten in Struktur und Funktion des limbischen Systems, die Entwicklung der Elektroenzephalografie durch Berger, daneben die aus psychochirurgischen Eingriffen abgeleiteten Modellvorstellungen zu morphologischen Korrelaten psychischer Auffälligkeiten nennen. Auch die Entwicklung wirkungsvoller, wenngleich damals in ihren Wirk|14|mechanismen schlecht verstandener biologischer Therapien, insbesondere Insulinschock und Elektrokrampftherapie, kann hier nicht unerwähnt bleiben.
Moderne biologische Theorien psychischer Störungen bauen insbesondere auf den mittlerweile weit fortgeschrittenen Kenntnissen über die Neurotransmission und ihre pathologischen Veränderungen auf; somit wird man sinnvollerweise den Anfang der biologischen Psychiatrie in heutiger Gestalt in jene Zeit legen, wo einerseits eine deutlich verbesserte pharmakologische Beeinflussung psychischer Zustände möglich wurde, andererseits zusehends Anstrengungen unternommen wurden, diese Beeinflussung auf dem Hintergrund biochemischer Modelle zu verstehen. Als Zeitpunkt ließe sich deshalb die Entdeckung der antipsychotischen Eigenschaften des Chlorpromazin 1951 und die Formulierung der aus den Nebenwirkungen der Neuroleptikabehandlung abgeleiteten Dopaminhypothese der Schizophrenie ungefähr ein Jahrzehnt später angeben. In etwa den gleichen Zeitraum, die späten 1950er-Jahre, fällt die Entdeckung der antidepressiven Eigenschaften des Imipramin durch R. Kuhn und die Entwicklung der Katecholaminmangelhypothese der Depression durch J. Schildkraut.
1.2 Biologische Grundlagen
1.2.1 Vorbemerkungen
Das biologische Wissen, das zum Verständnis der Grundlagen psychischer Störungen nötig ist, umfasst v. a. Kenntnisse von Genetik, Anatomie, Hormonregulation und Neurotransmission. Sie werden – da größtenteils elementar – als gegeben vorausgesetzt bzw. in den einzelnen Kapiteln nachgetragen. Lediglich die synaptische Übertragung zwischen Neuronen, die Lage gewisser Bahnen, schließlich die Struktur und Funktion des „Belohnungssystems“ sollen als detailliert benötigtes Grundlagenwissen bereits vorab genauer besprochen werden. Gewisse Auslassungen, Vereinfachungen und Ungenauigkeiten im knappen hier gesetzten Rahmen mögen mit Nachsicht betrachtet werden.
1.2.2 Synaptische Übertragung
Bekanntermaßen breitet sich in einer Nervenzelle die Erregung elektrisch durch kurzzeitige Änderung des Membranpotenzials aus; im typischen Fall (des hier betrachteten multipolaren Neurons) läuft sie vom Zellkörper weg längs eines langen und dünnen Fortsatzes (des Axons), der sich an seinem Ende in Kollateralen verzweigt und mit den sogenannten Endknöpfchen nahe den Membranen anderer Neuronen (oder von Effektororganen) zu liegen kommt (vgl. Abb. 1). Die Stellen, |15|an denen Membranen verschiedener Neuronen so engen Kontakt haben, dass Übertragung der Erregung möglich ist, heißen Synapsen (von griechisch: synaptein = sich vereinigen). Typischerweise endet ein Axon mit seinen Verzweigungen an vielen verschiedenen Nervenzellen; jedes Neuron des Zentralnervensystems wird umgekehrt von einer Vielzahl anderer Neurone erreicht. Die häufigsten Synapsen sind die axo-dendritischen, bei denen die Endknöpfe des ersten (präsynaptischen) Neurons an Ausbuchtungen nahe des Zellkörpers der postsynaptischen Nervenzelle ansetzen (den Dendriten). Dort findet Übertragung von Information statt, die sich in Form einer Depolarisation (Verminderung der Negativierung der postsynaptischen Membran) oder Hyperpolarisation (weiterer Negativierung und damit Herabsetzung der Erregbarkeit) äußert. Die von den vielen präsynaptischen Neuronen induzierten Veränderungen der postsynaptischen Membran addieren sich; resultiert eine genügend große Depolarisation, kommt es zur Ausbildung eines Aktionspotenzials, welches sich im Axon der postsynaptischen Zelle ausbreitet.
Nach der Art der Übertragung unterscheidet man elektrische und chemische Synapsen. Bei den ersteren fließt direkt Strom über verbindende Ionenkanäle vom prä- ins postsynaptische Neuron. Sie sind im ZNS seltener als die chemischen Synapsen, und nach bisherigen Erkenntnissen spielen deren Veränderungen als Korrelat psychischer Störungen keine Rolle.
|16|Bei chemischen Synapsen befindet sich zwischen prä- und postsynaptischem Neuron ein Zwischenraum, der nicht elektrisch überbrückt werden kann (synaptischer Spalt). Zur Weiterleitung der Information werden daher in der präsynaptischen Zelle Stoffe freigesetzt (Transmitter oder Neurotransmitter), die den Spalt überqueren und sich am postsynaptischen Neuron anlagern können.
Die Transmittermoleküle sind (im Regelfall) in den Endknöpfchen innerhalb sogenannter Vesikel (lateinisch: vesicula = Bläschen) gespeichert. Die Zahl der Moleküle in diesen wird mit mehreren Tausend angegeben. Innerhalb der Vesikel sind die Moleküle vor Abbau geschützt. Dies ist u. a. bei Monoamintransmittern von Bedeutung, da sich im Zellplasma das diese Stoffe inaktivierende Enzym Monoaminoxidase befindet; mit Zerstörung der Vesikel (wie durch Reserpin) setzt rascher Abbau ein.
Die Freisetzung der Transmitter in den synaptischen Spalt erfolgt, indem die Vesikel mit der Zellmembran verschmelzen und ihren Inhalt ins Zelläußere entleeren (sogenannte Emeiocytose = „Zellerbrechen“). Dieser Vorgang wird durch ankommende Aktionspotenziale ausgelöst, wobei der vermittelnde Mechanismus das Einströmen von Calciumionen aus dem Extrazellulärraum ist.
Mittlerweile kennt man an die 100 Neurotransmitter, die (wie Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotonin oder Cholecystokinin) häufig weitere Funktionen erfüllen. Eine gängige Einteilung der wichtigsten Transmitter ist die in Aminosäuren (etwa Glycin, Glutamat, Gamma-Aminobuttersäure = GABA), Monoamine oder biogene Amine (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin), Acetylcholin (das eine eigene Gruppe bildet) und Peptidtransmitter. Zur letzten Gruppe zählen endogene Opioide mit Transmitterfunktion, weiter die in den Schmerzbahnen bedeutsame Substanz P; die Peptidtransmitter werden als hochmolekulare Stoffe den niedermolekularen Neurotransmittern wie Aminosäuren, Monoaminen und Acetylcholin gegenübergestellt (vgl. Tab. 1).