2 Methoden zur Untersuchung von Struktur und Funktion des Gehirns
2.1 Einführung
Der Einblick in die Funktion des Gehirns beim lebenden Menschen war bis vor einigen Jahren etwas Unvorstellbares. Umso mehr haben die Möglichkeiten der detaillierten, nicht-invasiven Darstellung unsere Vorstellungen von Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns grundsätzlich revolutioniert. Die bildgebenden Technologien stellen uns ungeahnte Möglichkeiten bereit, verschiedenste hirnphysiologische Prozesse wie z. B. Durchblutung, Sauerstoffverbrauch, elektrische Aktivität und Neurotransmittersysteme zu untersuchen. Diese Untersuchungen beleuchten sowohl die normale Funktion des gesunden Gehirns als auch die Veränderungen, die bei Patienten mit neuropsychiatrischen Störungen auftreten. Dabei können verschiedene Aspekte der physiologischen Prozesse im Gehirn mit unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Auflösung (→ Abb. 2.1) erfasst werden. Dies hat für die wissenschaftliche Untersuchung psychiatrischer Störungen Bedeutung. Wir unterscheiden dabei dauerhafte Veränderungen, die für eine bestimmte Störung charakteristisch sind (sog. Traits) von vorübergehenden Systemzuständen unterschiedlicher Dauer (sog. States). Letztere können sich im Sekundenbereich verändern, wie z.B. bei Halluzinationen. Aus diesem Grund hängen die Wahl der Technologie und die Interpretation der Messergebnisse vom zeitlichen Verlauf der Störung, der Art der Erkrankung bzw. vom untersuchten Symptom ab.
Des Weiteren werden die Technologien durch praktische Unterschiede charakterisiert (→ Tab. 2.1). Einige sind mit wenig Aufwand und niedrigen Kosten verbunden (z. B. EEG), andere sind sowohl in Bezug auf Betriebskosten als auch auf Infrastruktur (z. B. PET mit Zyklotron) extrem aufwendig. Für psychiatrische Patienten ist die Untersuchungsumgebung von besonderer Bedeutung. MRT-Untersuchungen mit der engen Röhre, der großen Lautstärke und unbequemen Lagerung können für die Patienten belastend sein; Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS)- und EEG-Untersuchungen werden meist ohne Probleme akzeptiert und durchgeführt.
Abb. 2.1: Räumliche und zeitliche Auflösung von einigen Bildgebungs-Technologien
Tab. 2.1: Charakteristika einiger verschiedenen bildgebenden Verfahren
| Investitions- kosten | Invasivität | Zugang/Verbreitung | Aufwand Infrastruktur | Vielseitigkeit | Patienten- freundlichkeit |
EEG | Niedrig | Niedrig | Hoch | Niedrig | Niedrig | Hoch |
MEG | Hoch | Niedrig | Niedrig | Moderat | Niedrig | Moderat |
NIRS | Hoch | Niedrig | Niedrig | Niedrig | Niedrig | Hoch |
SPECT | Moderat | Hoch | Moderat | Moderat | Moderat | Moderat |
PET | Hoch | Hoch | Niedrig | Hoch | Hoch | Moderat |
CT | Moderat | Hoch | Hoch | Moderat | Niedrig | Moderat |
MRT | Hoch | Niedrig | Moderat | Moderat | Moderat | Niedrig |
CT = Computertomografie; EEG = Elektroenzephalogramm; MEG = Magnetenzephalografie; MRT = Kernspintomografie; NIRS = Nah-Infrarot-Spektroskopie; PET = Positronen-Emissions-Tomografie; SPECT = Einzelphotonen-Emissions-Tomografie |
Untersuchungen physiologischer Netzwerke finden bei Patienten und Probanden oft unter Versuchsbedingungen mit kognitiven Aufgaben statt. Der Aufbau der Versuchsanordnung beinhaltet dabei sehr unterschiedliche Herausforderungen: Während die Techniken zur Stimulationspräsentation und zur Erfassung der Antworten im MRT unter der Bedingung des starken magnetischen Feldes sehr aufwendig sind, können die Aufgaben bei NIRS- und EEG-Messungen unter weitgehend naturalistischen Bedingungen erfolgen.
Im Folgenden werden die wichtigsten bildgebenden Technologien, die bei der Untersuchung von Struktur und Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen zur Anwendung kommen, vorgestellt. Bei einer Suche in medizinischen Online-Datenbanken findet man mehr als 10000 Veröffentlichungen, die diese Technologien bei der Untersuchung von psychiatrischen Störungen eingesetzt haben. Dies zeigt die immense und weiterhin wachsende Bedeutung, die diese Methoden bei der Suche nach der Pathogenese psychiatrischer Erkrankungen erhalten haben.
2.2 Die Systemphysiologie als Schnittstelle zwischen Hirnfunktion und Psychopathologie
Die Erforschung der Ätiopathogenese psychischer Erkrankungen findet auf vielen Ebenen und mit sehr unterschiedlichen Methoden statt. Neben der Epidemiologie, Soziologie und deskriptiven Psychologie finden sich im Bereich der biologischen Forschung wesentliche Beiträge aus der Genetik und Molekularbiologie, Immunologie, Neuroendokrinologie und vielen anderen Forschungsrichtungen. Alle mit den genannten Methoden zugänglichen Forschungsobjekte sind allerdings – in die eine oder andere Richtung – durch mehrere Komplexitätsstufen von den zerebralen Vorgängen bei menschlichem Fühlen, Denken, Verhalten sowie deren Störungen getrennt. So kann man zwar bei bestimmten psychischen Erkrankungen Linkage-Untersuchungen mit Genmutationen durchführen und, im Ansatz des Imaging Genetics, bestimmte genetische Varianten mit Befunden aus der funktionellen Bildgebung in Zusammenhang bringen (Meyer-Lindenberg und Weinberger 2006). Umgekehrt ist es bis heute jedoch noch nicht möglich, über die möglicherweise fehlerhaften genetischen Kodierungen die Kausalkette zu einem spezifischen Verhaltens- oder Symptommuster herzustellen. Die Metapher der Multikausalität, die in diesem Zusammenhang häufig verwendet wird, stellt auch keine wirkliche Erklärung dar, sondern letztlich nur das Zugeständnis, dass unser Wissen lückenhaft ist. Neben den einzelnen, zum Teil spekulativen, einfachen Kausalitäten muss somit noch eine höhere, bisher wenig verstandene Ordnung von Interaktionen zwischen den Ursachen berücksichtigt werden.
Die höchste bekannte und messbare Funktionsebene der Hirnfunktionen, die in einen direkten Zusammenhang mit Verhalten und psychischen Vorgängen gebracht werden kann, sind die elektrochemischen Erregungsmuster, die durch die elektrischen Ereignisse in den Nervenbahnen und die Transmitterausschüttungen an den Synapsen entstehen. Diese Vorgänge finden im ganzen Nervensystem statt, sind durch dessen anatomische Strukturen vorgebahnt und spielen sich in zeitlichen Dimensionen ab, die mit psychischen Vorgängen vereinbar sind, nämlich im Millisekundenbereich. Man kann heute mit gutem Recht annehmen, dass es sich bei der raumzeitlichen Dynamik dieser Erregungsmuster um den Informationsträger und das biologische Äquivalent der höchsten Hirnfunktionen wie Wahrnehmungen, Vorstellungen und Verhalten handelt (Lehmann et al. 2006).
Unter „Systemphysiologie“ verstehen wir einen Oberbegriff für die wissenschaftlichen Experimente und Methoden, die sich mit den messbaren Äquivalenten und Begleiterscheinungen (Epiphänomenen) dieser elektrochemischen Erregungsmuster beschäftigen. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die Messung der elektrischen Summenaktivitäten, der funktionellen Epiphänomene von Neuronenaktivität wie Veränderungen des Blutflusses, der Blutoxygenierung, des Glukoseverbrauchs oder von Transmitterbesetzungen von Bedeutung sind, sondern auch die neuroanatomischen Gegebenheiten, die bestimmte Vernetzungen und Interaktionen erst ermöglichen. Weiterhin gehören zu diesem Gebiet...