1 Einleitung
Im Zuge der demographischen Veränderungen in den Industrieländern hat die Versorgung älterer Menschen in Altenpflegeheimen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Während die klassischen Altenheime nach Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung aus der Versorgungslandschaft nahezu verschwunden sind, stieg die Zahl von Pflegeheimen in Deutschland stark an, allein zwischen 2001 und 2003 von 9.165 auf 9.700 (Statistisches Bundesamt 2005). Die Zahl der Pflegeheimbewohner erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 604.000 auf 640.000. Zwischen 2003 und 2005 war ein weiterer Anstieg der Anzahl von Pflegeheimen zu verzeichnen, die Bewohnerzahlen erreichten parallel dazu den bisherigen Höchststand von 677.000 (Statistisches Bundesamt 2007).
Allein aufgrund der Bevölkerungsentwicklung, die einerseits durch steigende Lebenserwartung und andererseits durch rückläufige Geburtenraten, also durch eine doppelte Alterung charakterisiert ist (Weyerer und Bickel 2007), ist mit einer weiteren Zunahme der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Altenhilfe zu rechnen. Dass hiervon vorrangig die Einrichtungen der stationären Altenhilfe betroffen sein werden, ist in erster Linie wegen des überproportional anwachsenden Anteils von Hoch- und Höchstbetagten wahrscheinlich, der Bevölkerungsgruppe, die das größte Risiko für Multimorbidität, schwere Pflegebedürftigkeit und intramurale Versorgung trägt. Einer Untersuchung von Bickel (1996) zufolge, betrug das kumulative Risiko eines Heimeintritts in der Altenbevölkerung bis zum Alter von 75 Jahren weniger als 7 %, bis zum Alter von 80 Jahren mehr als 15 % und bis zum Alter von 90 Jahren nahezu 60 %.
Da sich in Deutschland die Zahl der über 80-Jährigen zwischen 2000 und 2050 von 3,1 Mio. auf 9,1 Mio. und die Zahl der über 90-Jährigen von 525.600 auf 1,9 Mio. erhöhen wird (Weyerer und Bickel 2007), werden große Anforderungen auf die Versorgungssysteme zukommen. Es gibt empirische Befunde, die auf positive Kohorteneffekte hoffen lassen, d. h. auf eine Abflachung des Anstiegs der Pflegebedürftigkeitsraten im höheren Alter (Schneekloth und Wahl 2006). Da es sich dabei aber lediglich um eine Reduktion des Anstiegs handelt, ist mit weiterhin steigenden Zahlen von Pflegebedürftigen zu rechnen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Entwicklung in einer wachsenden Inanspruchnahme von Pflegeheimen niederschlagen wird oder ob der im Gang befindliche Ausbau ambulanter Einrichtungen und Versorgungsformen für hilfs- und pflegebedürftige ältere Menschen, wie z. B. Hausgemeinschaften, die Nachfrage nach stationärer Pflege bremsen wird. Mit einem drastischen Rückgang der Nachfrage ist allerdings angesichts der jüngsten Entwicklung der Bewohnerzahlen auch künftig nicht zu rechnen.
Ausgehend von zahlreichen Befunden aus verschiedenen Industrieländern ist es mittlerweile unumstritten, dass Demenzerkrankungen zu den wichtigsten Ursachen für den Verlust der Selbstständigkeit und schwerer Pflegebedürftigkeit im Alter zählen (Bickel 2003). Eine repräsentative deutschlandweite Studie, die jüngst bei hilfs- und pflegebedürftigen Menschen in Privathaushalten durchgeführt wurde, unterstreicht diese Erkenntnis (Schäufele et al. 2006). Die Ergebnisse dieser Studie weisen darauf hin, dass Einschränkungen im Alltag mit steigendem Demenzschweregrad erheblich zunehmen. Bereits bei leichter Demenz war eine deutlich erhöhte Versorgungsbedürftigkeit festzustellen. Während von den hilfs- und pflegebedürftigen Befragten ohne Demenz rund 50 % nicht mehr in der Lage waren, sich selbstständig zu baden, stieg dieser Anteil bei den leicht Demenzkranken auf 66,7 %, bei den mittelschwer Erkrankten auf 82,4 % und bei den schwer Demenzkranken auf 100 % an. Hilfe beim An- und Ausziehen war bei insgesamt 39,4 % der kognitiv Unbeeinträchtigten, bei 69,6 % der leicht demenziell Erkrankten, bei 88,3 % der mittelschwer und bei fast allen schwer Demenzkranken erforderlich. Die Kontrolle über die Blasenfunktion hatten 7,1 % der nicht demenziell Erkrankten, 15,2 % der leicht Demenzkranken und 36 % bzw. 60,6 % der mittelschwer und schwer demenziell Erkrankten vollständig verloren. Kein einziger schwer demenzkranker Mensch war in der Lage sich außerhalb der eigenen Wohnung zurecht zu finden, einzukaufen, seine finanziellen Angelegenheiten zu regeln, seine Medikamente zu richten, selbstständig zu telefonieren oder die Wohnung sauber zu machen. Auch den Demenzkranken im mittleren Stadium waren diese Tätigkeiten nur in Ausnahmefällen möglich. Die erhebliche Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit im Verlauf demenzieller Prozesse kam auch darin zum Ausdruck, dass nur 12 % der schwer und knapp 30 % der mittelschwer Demenzkranken ohne Schwierigkeiten mehrere Stunden alleine gelassen werden konnten. Auch bei den leicht Demenzkranken war dieser Anteil mit rund 60 % bereits deutlich geringer als bei den Probanden mit Hilfs- und Pflegebedarf ohne Demenz, von denen rund 84 % tagsüber längere Zeit alleine bleiben konnten (Schäufele et al. 2006).
Die häusliche Pflege von Menschen mit Demenz ist nicht nur aufwändiger und zeitintensiver, sondern auch belastender als die Pflege von körperlich beeinträchtigten Menschen ohne Demenz. (z. B. Gräßel 1998, Pinquart und Sörensen 2003). Da die pflegenden Angehörigen mit zunehmender Demenzschwere oft nicht mehr zur häuslichen Versorgung in der Lage sind, wird in fortgeschrittenen Krankheitsstadien eine Heimübersiedelung immer wahrscheinlicher. Ergebnisse aus einer Mannheimer Studie weisen darauf hin, dass bis zu 80 % aller Betroffenen im Verlauf der Demenz in ein Pflegeheim eintreten (Bickel 2001). Dieselbe Studie erbrachte, dass querschnittlich betrachtet ein weitaus größerer Anteil als bisher angenommen, nämlich etwa 40 % der mittelschwer bis schwer Demenzkranken, in Institutionen leben und ›nur‹ 60 % in Privathaushalten betreut und versorgt werden.
Solange in näherer Zukunft keine bahnbrechenden Erfolge in der Prävention und der ursächlichen Behandlung der häufigsten Demenzformen im Alter erzielt werden, müssen die Einrichtungen der stationären Altenhilfe mit einer weiteren Zunahme der Inanspruchnahme durch demenziell erkrankte Menschen rechnen. Einer Hochrechnung von Bickel (2001) zufolge, wird – wegen des engen Zusammenhangs zwischen zunehmendem Lebensalter und Demenzrisiko – unter den gegebenen Voraussetzungen die Zahl von mittelschwer bis schwer Demenzkranken bis zum Jahr 2020 auf nahezu 1,4 Millionen anwachsen. Bis zum Jahre 2050 sind in Deutschland sogar über zwei Millionen Demenzkranke zu erwarten.
Die Versorgung und Betreuung von hochaltrigen Menschen mit Demenz unter humanen Bedingungen wird damit zu einer der wichtigsten medizinischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft.
1.1 Die stationäre Pflege Demenzkranker in Baden-Württemberg: Ergebnisse aus vorangegangenen Studien
Im Land Baden-Württemberg gab es im Jahr 2001 (Stand: 15.12.2001) 944 Pflegeheime mit 66.975 pflegebedürftigen Bewohnern. Davon waren 22.032 in Pflegestufe 1, 30.806 in Pflegestufe 2 und 11.867 in Pflegestufe 3 eingestuft. Es überwogen die Frauen mit einem Anteil von 77,8 % (Pristl und Weber 2004).
Für die Stadt Mannheim liegen nach unserem Wissen bislang die umfangreichsten und belastbarsten Daten zur Inanspruchnahme von stationärer Langzeitpflege in Baden-Württemberg vor. Die Mannheimer Datenbasis kam unter anderem durch zwei aufeinander folgende Untersuchungen zustande, in die alle Bewohner von 15 Altenpflegeheimen, die die stationäre Versorgung der Stadt recht gut abbildeten, einbezogen waren. Eine Untersuchung wurde vor (1995/96) und die andere unmittelbar nach (1997/98) Einführung der Pflegeversicherung im stationären Bereich (1.7.1996) durchgeführt. Die Ergebnisse belegten, dass innerhalb von zwei Jahren der Anteil von mittelschwer oder schwer demenzkranken Bewohnern von 53,8 % auf 58,6 % anstieg (Sozialministerium Baden-Württemberg 2000a, Weyerer und Schäufele 2004), trotz des massiven Ausbaus und der Weiterentwicklung ambulanter Pflegedienste seit Ende der 80er Jahre. Diese Entwicklung weist indirekt auf den erheblichen Bedarf an Versorgungseinrichtungen hin, die rund um die Uhr Pflege und Betreuung gewährleisten können.
Eine Studie in Tagespflegeeinrichtungen in acht badischen Städten unterstreicht den Bedarf an umfassend betreuenden Einrichtungen. Vergleicht man die Nutzer der Tagespflegeeinrichtungen mit den Heimbewohnern, so stellt man fest: In beiden Versorgungsformen weisen etwas mehr als die Hälfte der Klientel Demenzen auf. Bei den Heimbewohnern war jedoch der Anteil von Personen, die in den Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Mobilität, Kontrolle der Ausscheidungen) erheblich von der Hilfe anderer Personen abhängig waren, mit 58,6 % deutlich höher als unter den Tagesgästen mit 27,1 %. Die Unterschiede waren besonders ausgeprägt in den Bereichen Mobilität und Fähigkeit zur Kontrolle der Ausscheidungen. Während von den Tagesgästen niemand bettlägerig war, traf dies auf rund 21 % der Heimbewohner zu. Regelmäßig urin- und stuhlinkontinent waren 10 % und 4 % der Tagesgäste, bei den Heimbewohnern betrugen die Anteile 46 % und 38 % (Weyerer et al. 2004). Unterstrichen werden diese indirekten Hinweise auf die Grenzen der häuslichen Versorgung von Demenzkranken auch durch Untersuchungen aus dem Ausland: Die »Canadian Study of Health and Aging«, eine der wenigen landesweit durchgeführten Repräsentativstudien, ergab, dass sich rund 20 % der leicht, 45 % der mittelschwer und 85 % der schwer Demenzkranken in stationärer Versorgung befanden (Graham et al. 1997). Bickel (2001) nimmt an, dass in Deutschland der Anteil derer, die von Anbeginn der Demenzerkrankung bis zum Lebensende im häuslichen...