Ausbrechen aus der Enge
Bismarck fuhr im Frühsommer 1836 erstaunlich unbekümmert nach Aachen, wo ihn immerhin die mündliche Prüfung erwartete. Seine Reise ging keineswegs direkten Weges dorthin, sondern auf dem genussreichen Umweg über Leipzig, Frankfurt, Wiesbaden, Rüdesheim und Binger Loch, auf dem Rhein »mit Dampf und a very strong english party« nach Köln und dann schließlich zum neuen Ort seiner Tätigkeiten und – Abenteuer. Dort angekommen empfing ihn der Aachener Regierungspräsident Graf Arnim-Boitzenburg, der ihm die nötigen juristischen Bücher gab, aus denen der Examenskandidat »in den 8 Tagen vor dem Examen noch büffelmäßig geochst« hat. Im preußischen und französischen Recht sei er scharf examiniert worden, berichtete er seinem Bruder. Er musste unvorbereitet lateinische und griechische Texte übersetzen, lateinisch sprechen und sich über Geschichte und philosophische Systeme auslassen. Das alles schaffte er mit glänzendem Erfolg; das Prüfungsprotokoll stellte seine vorzügliche Urteilskraft, Schnelligkeit der Auffassung und Gewandtheit im Ausdruck fest.
Im selben Brief an den Bruder schlug der junge Bismarck eines der Generalthemen der nächsten Jahre an: Sein exorbitanter Lebensstil zwingt ihn zum Schuldenmachen und zu Geldbetteleien. Mit einer ans Naive grenzenden Offenheit teilt er seinem Bruder mit: »Die Reise hat mir viel Vergnügen gemacht, aber auch viel Geld gekostet«; er rechnet ihm vor, was alles ihm zusätzliche und natürlich unerwartete Kosten verursacht habe, und kommt zu dem unabweislichen Schluss: »Wenn man sich zu Hause nicht erweichen läßt, mir eine Gratification zukommen zu lassen, so sehe ich noch gar nicht ein, wie dies vernünftig ablaufen kann; denn ohne bares Geld hier zu leben, ist schlechthin unmöglich, und hier etwas zu erhalten, undenkbar: nous verrons.« Im Übrigen würde er sich langweilen »wie der Satan im Himmel«.
Vorerst mochte alles gut gehen. Den Eltern gegenüber konnte er die Geldforderung mit dem Hinweis auf ein überaus gutes Prüfungsergebnis verbinden, das den jungen Bismarck auch ins beste Licht bei seinem neuen Chef rückte – eben beim Grafen von Arnim-Boitzenburg, der als einer der reichsten Majoratsherren in der Mark zu den Spitzen der preußischen Aristokratie und Bürokratie gehörte. Er, der in seinem Aussehen und Auftreten mehr einem englischen Lord als einem märkischen Junker glich und als unnahbar galt, begünstigte den Regierungsreferendar Bismarck durch fördernde Aufmerksamkeit. »Ich mußte es schon im Sommer für eine Auszeichnung halten, daß ich der Einzige war, dem er zuweilen tête à tête seine Sünden vorhielt (er ist immer sehr gut unterrichtet, aber sehr vorurteilsfrei) und gute Ratschläge gab.« Darüber hinaus wurde Bismarck mit den verschiedenen Sparten der Verwaltung in racher Folge bekannt gemacht. Er wurde im Juli der Domänen- und Forstabteilung, im August dem Militär- und Kommunaldepartement gleichzeitig überwiesen, und zwar mit der Begründung, er werde »wegen Verfolgung der diplomatischen Laufbahn nicht wie die anderen Regierungsreferendarien die ganze Dauer der Referendariatszeit hier zubringen«. Der Wunsch Bismarcks, Diplomat zu werden, war nicht mehr allein Gegenstand von Gesprächen mit Studienfreunden oder auf höherer Ebene mit dem Außenminister selbst, sondern auch in der Verwaltung bekannt, von ihr akzeptiert und in einer Art Ausbildungsplan berücksichtigt.
Bernhard von Bismarck (rechts, 1810–1893) half seinem jüngeren Bruder Otto (links) mehr als einmal, so als dieser sich durch seinen gefährlichen Hang, mehr auszugeben, als er einnahm, arg verschuldet hatte. Nach großspurigen Champagner-Diners im Mondschein war Otto »arm am Beutel, krank am Herzen«.
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Der Start ließ nichts zu wünschen übrig, und alles war dergestalt vorgegeben, dass nichts hätte schieflaufen müssen und Bismarck wie sein befreundeter Altersgenosse von Savigny, der Sohn des großen Berliner Gelehrten und gleichfalls in Aachen ausgebildet, auf vorgezeichneter Bahn das diplomatische Examen ansteuern und erfolgreich hinter sich hätte bringen können. Doch Bismarcks Naturell gestattete keine solche friktionsfreie Laufbahn; erstaunlich rasch geriet er in Konnexionen, die ihn zunächst einen gesellschaftlichen und persönlichen Höhenflug erträumen ließen, tatsächlich aber in neue Bedrängnisse brachten. Bereits am 10. August, fünf Wochen nach seiner Vereidigung, bekannte Otto seinem Bruder Bernhard, dass er in einem Grade verliebt sei, »zu dessen Bezeichnung die kühnste Hyperbel des Orients ein unzulängliches Maaß bleiben würde«. Es sind zwei Engländerinnen, »mit denen ich täglich diniere und denen es täglich mehr gelingt, meine Aufmerksamkeit mit den chef d’œuvres eines ausgezeichneten Koches zu teilen.« Seine jetzige Tischgesellschaft bestünde aus 17 Engländern, 2 Franzosen und »meiner Wenigkeit; oben am aristokratischen Ende sitzen wir, d. h. duke and duchess of Cleveland, dessen Nichte Miss Russel (hinreißend liebenswürdig), … dann ein Schwanz von echten Britten, die mich sämtlich auf Commando lorgnettirten, als His grace of Cleveland zum ersten Mal um die Ehre bat, ein Glas Wein mit mir zu nehmen und ich mit der mir eigentümlichen Würde und Eleganz eine halbe Gallone Sherry hinter meiner Binde verschwinden ließ.«
In diesem Aachen, damals noch Bäderstadt von europäischem Rang, genoss der aristokratische Referendarius aus den altpreußischen Regionen vieles in einem: exquisites Essen und Getränk; Flirt mit Engländerinnen, der zur Schwärmerei, ja Leidenschaft wurde; eine Tischgesellschaft, die ihm das Gefühl vermitteln mochte, aus der landjunkerlichen Enge in die Weite der hocharistokratischen Insel- und Weltmacht getreten zu sein. In diesem Gemütszustand hatte er nur Verachtung für die ihn umgebenden Rheinländer übrig: »Mit der eingeborenen Canaille gebe ich mich durchaus nicht ab, denn die Männer sind filzig und roh, ohne Erziehung und élévation d’âme, und die Weiber sind fett und kleinstädtisch und durchgängig mit … étouffantem Geruch behaftet.« Diesem abschätzigen Urteil fügte er, in den Stil studentischer Renommiersucht verfallend, die Bemerkung hinzu: »Ich lebe daher lediglich mit Engländern und Franzosen, und ich finde durchschnittlich, daß die Natur den Weibern jener beiden Nationen ein treffenderes Urteil über die mir eigentümlichen Vorzüge verliehen hat als unsern Landsmänninnen.« Von Aachen ließ er nur »eine recht gute Oper« gelten, zumal er für eine Vorstellung ein Billett von »my friend the durchess« erhielt. Der Dom mit seinen mittelalterlich-kaiserlichen Reminiszenzen wird in den Briefen nicht ein einziges Mal erwähnt.
Was Bismarck über die »eingeborene Canaille« – ein Kraftwort, das Bruder Bernhard in seinem Antwortbrief beifällig aufnahm – mit bösem Blick und scharfer Zunge schrieb, enthüllte nur einen Teil seiner Abwehrhaltung. Es kam ihm nicht in den Sinn, weder zu Beginn seines Aachener Aufenthalts noch nachher, sich für das zu interessieren, was sich in der rheinischen Bourgeoisie regte – auch nicht für jene schon damals aktiv werdenden Industriellen und Bankiers um David Hansemann, die mit einem konstitutionellen, monarchischen Preußen eine Reform des Deutschen Bundes anstrebten. Für den angehenden Diplomaten war unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Normen die Welt der englischen Hocharistokratie, nicht aber die des rheinischen Industriebürgertums Vergleichsmaßstab. Der junge Bismarck erhielt zwar äußerlich Einblick in die Fabrikwelt, aber innerlich machte sie keinen Eindruck auf ihn.
War der Brief von Anfang August 1836 noch im Ton des verliebten Lebemanns gehalten, so wurde Ottos nächstes Schreiben vom 30. September an Bruder Bernhard zu einer Beichte und einer Offenbarung. Er bekennt, dass er Lady Russel, angeblich die Nichte des Duke (Herzogs) von Cleveland, »so gut wie versprochen« sei. Doch bei aller leidenschaftlichen Neigung zu der schönen Engländerin und bei allem Hoffen auf Erfüllung seiner Lebenssehnsucht nach Weite der gesellschaftlichen Welt, die er in der »haute volée von London« sieht, fühlt er sich recht bedrückt. Der »Umgang mit reichen Leuten«, so bekennt er dem Bruder, hat ihn veranlasst, »mehr auszugeben als gut war«. Die Bedürfnisse, die er nicht befriedigen konnte, verführten ihn dann zum Roulettespiel, auf das er sich mit verzweifelter Leidenschaft stürzte, hoffend, vielleicht damit seine Finanzen aufbessern zu können. Vergebens – seine Spielverluste, Reue, Verdruss und die Notwendigkeit, dem Vater dieses »factum von so betrübender Natur« mitteilen zu müssen, bringen ihn an jenen gefährlichen Punkt, an dem er sogar mit dem Gedanken des Selbstmordes spielt: »… ich … setzte mich zu diesem Behuf in den Besitz eines Stranges von gelber Seide, den ich mir pour la rareté du fait aufheben werde«; aus dieser Lebenskrise rettete ihn ein Sturz mit dem Pferde, die dadurch gegebene Nötigung zur Ruhe und schließlich die Lektüre von Ciceros »De officiis« und Spinozas »Ethik«.
Bei verschiedenen Gelegenheiten erwähnt Bismarck Spinoza. Man kann ihm glauben, wenn er in einem Friedrichsruher Tischgespräch des Jahres 1890 sagt, er habe sich von Hegel nur das angeeignet, was er für das Examen brauchte, während er Spinoza mit deutschen Hilfsbüchern im lateinischen Text studiert habe. Studieren hieß aber bei Bismarck kaum gründliches Auseinandersetzen mit einem System, sondern Aufnehmen solcher Grundgedanken, die seinem Naturell und seinen jeweiligen inneren Bedürfnissen entsprachen – etwa der Spinozistische Gedanke, dass Handeln gemäß der eigenen Natur als Freiheit erscheint und ein solches nur dann möglich sei, wenn sich der Mensch als Geschöpf...