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Vor einer riesigen Anzeigetafel auf dem Flughafen London Heathrow versuche ich herauszufinden, von welchem Gate mein Flug nach Miami geht. Ich muss zur Art Basel Miami Beach. Die Kunstmesse am sonnigen Strand der Ostküste Floridas findet jedes Jahr Anfang Dezember statt. Wobei man als Galerist von Sonne und Sand wenig mitbekommt, stattdessen viel von Neonlicht und Betonböden. Sie stellt nicht nur den Abschluss des Jahres für die internationale Kunstkarawane dar, sie ist auch eine der wichtigsten und umsatzstärksten Messen der Welt. Wenn man sich auf dem globalen Kunstmarkt behaupten will, ist die Anwesenheit in Miami Pflicht – zumindest wird das einem suggeriert. Seit siebzehn Jahren gibt es die Messe, seit fünfzehn Jahren bin ich mit meiner Galerie dabei.
Allein zu reisen ist anstrengend. Ich brauche einfach viel länger, um mich zu orientieren. Die Ansagen des Flughafens, Warnungen, das Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen zu lassen, die Stimmen der Menschenmassen um mich herum, in vielen Sprachen. Einige der Leute rempeln mich an, während ich nach meinem Handy greife, um ein Foto von der Anzeigetafel zu machen. Manchmal gelingt es mir, mit meinem einen, noch sehenden Auge die Tafel systematisch abzusuchen und Abflugzeit, Flugsteig und etwaige Veränderungen des nächsten Flugs so zu erkennen. Ich muss dann nur ganz nah herantreten und mich anstrengen. Da ich auch in diesem Auge keine Pupille mehr habe, ist es möglich, meine Brille ganz weit nach vorne auf die Nase zu schieben und sie als eine Art Lupenglas zu benutzen. Abflugzeit, Airline, Gate. Ich kann sehen: Das ist diese Information, das diese, und dann auch, links, rechts, wo muss ich lang.
Heute muss ich die Anzeigetafel abfotografieren und das Foto auf meinem Smartphone großzoomen, um mich zurechtzufinden. Oft liege ich beim Abfotografieren auch daneben. Es gelingt mir nur selten beim ersten Versuch. Meistens fotografiere ich eine der falschen Spalten ab, bin zu weit oben oder zu weit unten gelandet. Das hängt auch stark von den Lichtverhältnissen und vom Abstand zur Anzeigetafel ab. Manchmal ist das Foto unscharf, das bringt dann auch wieder nichts. Auch das Zoomen selbst ist nicht einfach, oft sorgt die kleinste Handbewegung dafür, dass ich den Fokus verliere.
Wenn ich dann weiß, dass ich zu Terminal A, B oder C muss, – muss ich das erst einmal finden. Das geht schon alles irgendwie, aber ich brauche einfach länger, und das liegt mir überhaupt nicht. Die Situation wird dadurch erschwert, dass die meisten Menschen nicht erkennen können, dass ich schlecht sehe. Manchmal bitte ich um Hilfe. Nur kann man sich nicht immer auf die Hinweise anderer Leute verlassen, oft vertun sie sich auch, was in Situationen wie dieser katastrophale Auswirkungen hätte. Den Flug zu verpassen hieße, die Messeeröffnung und die Preview für die Sammler zu verpassen, auf der man für gewöhnlich den Großteil seines Umsatzes macht. Ich muss manchmal daran denken, wie ich eine Zeit lang Touristen in Berlin konsequent in die falsche Richtung geschickt habe. Das fand ich damals sehr lustig. Wenn man auf der anderen Seite steht, ändert sich die Perspektive darauf natürlich.
Irgendwann weiß ich, wo es langgeht. Das kann eine Weile dauern, deswegen nehme ich mir immer wieder vor, für jede Reise mehr Zeit einzuplanen – mehr Zeit zwischen den Flügen, mehr Zeit am Flughafen. In der Regel gelingt es mir nicht, dann ist es ein großes Gehetze. Beim Einsteigen weise ich mit einem Fingerzeig auf meine Augen und bitte darum, vorgelassen zu werden. Meist ist es dann nicht nötig, meinen Behindertenausweis vorzuzeigen, der mir oft das Anstehen erspart, was mir ebenfalls nicht liegt. Auf Mitmenschen, die in solchen Momenten nicht gleich sehen, dass ich eine Behinderung habe, wirkt es daher bisweilen so, als würde ich mich rüpelhaft vordrängeln und ohne Not eine Extrabehandlung einfordern. Dieser Eindruck wird dabei noch einmal ausgesprochen negativ verstärkt, da ich wegen meines eingeschränkten Blickfeldes und des fehlenden räumlichen Sehens schon mehr Leute angerempelt habe oder ihnen auf den Fuß gestiegen bin als der allergrößte Teil der übrigen Menschheit. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Dingen, die schon zu Bruch gegangen sind, da ich sie fallen gelassen oder ungeschickt benutzt habe oder da ich einfach gegen sie gelaufen bin – von dem antiken Billardtisch eines großen deutschen Verlegers bis hin zu der mehrere zehntausend Euro teuren Armbanduhr eines Bekannten. Dass mich überhaupt noch eine Haftpflichtversicherung unter die Fittiche nimmt, kann ich nur mit Dankbarkeit quittieren.
Es ist mühsam, meinen Sitzplatz im Flugzeug zu finden. Die Flugbegleiter schicken einen freundlich in die richtige Richtung, aber das ist alles, und die Beschriftung über den Sitzen ist so klein, dass ich so dicht an die Konsole herantreten muss, dass ich sie fast mit der Nase berühre.
Irgendwann sitze ich auf meinem Platz und stelle mich auf die zehnstündige Flugzeit ein. Einige Leute sehen und grüßen mich, als müsste ich sie kennen. Allerdings weiß ich bei einigen nicht, wer sie sind, weil ich Leute schlechter erkennen kann, sobald ich ihnen nicht in ihrem eigenen Umfeld begegne. Mir ist bewusst, dass sie auch auf die Messe wollen, schließlich sitzen wir im selben Flieger, deshalb grüße ich mit großer Geste jeden zurück.
Wenn ich auf meinem Platz sitze, schaue ich sofort die E‑Mails durch, die reingekommen sind, seit ich aus dem Taxi gestiegen bin. Viele Menschen können ja im Flugzeug meditieren, das bewundere ich, aber ich schaffe das nie. Dann beginne ich, mich auf die Messe vorzubereiten und noch einmal die Fotos und Beschreibungen aller Werke durchzuschauen, die wir sechs Wochen zuvor per Seefracht verschickt haben. Galeriemitarbeiter sollten sie mithilfe in Miami ansässiger Speditionen schon in unserem Messestand installiert haben. Darunter befinden sich Werke von Künstlern, die teilweise schon seit der Gründung der Galerie im Jahr 2002 dabei sind. Sie sind zu Weggefährten und zu international bekannten Künstlern geworden. Die zwei Meter große und drei Meter lange Parallel Sine Curve des Dänen Jeppe Hein ist unter den Arbeiten, die wir auf der Messe zeigen – ein raumgreifender Parcours aus polierten Edelstahlstreben, der die Betrachter wie magisch anzieht und zur Interaktion anregt. Ein philosophisch untermauertes Gold-und-Silber-Bild von Jorinde Voigt, konzeptuelle Abstraktion voller Poesie. Eine Installation aus der Serie Hemmungsloser Widerstand der in Polen geborenen Künstlerin Alicja Kwade, eine Komposition aus Steinen und Glas, die trotz ihrer Zartheit und Stille das Gefühl vermittelt, dass sie jeden Augenblick zerbrechen könnte. Wir zeigen aber auch die Werke des Fotografen Andreas Mühe, Skulpturen der Schweizerin Claudia Comte sowie großformatige Zeichnungen des Belgiers Rinus van de Velde, die ich erst kürzlich für die Galerie entdeckt habe. Es gibt wahrscheinlich Schlimmeres, als aus dem Berliner Winter ins warme Florida zu fliegen, denke ich. Messehalle hin oder her.
Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Sehenden. Alles um uns herum ist auf das Sehen aufgebaut. Das versteht man erst, wenn man nicht mehr oder schlecht sieht. Unser ganzes Leben hängt vom Sehen ab. In diesem Sinne sind Blindheit und Sehbehinderung – wie jede andere Behinderung auch – zunächst eine Kategorie sozialer Ungleichheit. Um ein gleichberechtigtes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein, muss man konkrete physische Voraussetzungen erfüllen – das Sehen ist eine Hauptvoraussetzung dafür. Es ist kein Zufall, dass die Denker der Aufklärung ihre Ideen von Erkenntnis und Rationalität mit Licht- und Sehmetaphern illuminierten, ihre Gedanken zur Unmündigkeit des Menschen aber mit Bildern von Blindheit und Dunkelheit beschrieben. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Wie auch. Über Blindheit wird selten gesprochen, sie wird von den meisten Menschen nicht reflektiert, schlicht weil sie davon nicht betroffen sind. Schon seit Jahrhunderten werden Blinde entweder mit negativen Stereotypen des Mitleids oder gar der Bedrohung beschrieben oder aber mit Stereotypen der Bewunderung, wenn es um die besonders selbstständigen, besonders brillanten Blinden geht, die trotz ihrer Behinderung über sich hinausgewachsen sind und viel erreicht haben. Arme Figur oder Superheld, andere kulturelle Bilder gibt es nicht. Für den normalen Blinden oder Sehbehinderten, für seinen Alltag und sein Leben, gibt es kein gesellschaftliches Bild.
Natürlich ist Blindheit nicht gleich Blindheit und Sehbehinderung nicht gleich Sehbehinderung. Ich war zwölf Jahre alt, als ich bei einem Unfall – dazu später mehr – mein Augenlicht verlor. Lange Zeit sah es so aus, als würde ich nie wieder etwas sehen können. Gesetzlich wird Blindheit als eine Sehfähigkeit von unter zwei Prozent oder als ein Gesichtsfeld von unter fünf Grad definiert – diese Grenze klingt erst einmal theoretisch, aber sie markiert einen entscheidenden Unterschied. Den Unterschied, ob man sich in seiner Umgebung wenigstens ansatzweise noch visuell orientieren kann, ob man in der Lage ist, zwischen Licht und Schatten zu unterscheiden, zwischen Tag und Nacht, ob man überhaupt noch einen Zugang zur Welt der Sehenden hat, egal wie eingeschränkt dieser Zugang auch ist.
Es...