I.
Die Letzte
Wie wir in Paris den Mauerfall feierten und meine Freunde sich als unfassbar klischeehaft herausstellten. Wie Léa zur Schnapsleiche des Abends wurde und warum wir in den Genuss von Polizeischutz kamen.
Orgastisches Stöhnen. Ich glaube, sie kommt!
»Je t’aime, oh ouiii, je t’aime …« Der letzte Song. Der Rausschmeißer! Ein Seufzer von Serge Gainsbourg.
Wie könnte ich einer Party in Paris stilvoller ein Ende setzen? Ich will doch bloß die letzten Widerständler aus meiner Wohnung werfen. Diese trotzigen Franzosen, die selbst im desolatesten Zustand nicht schnallen, dass wir den Höhepunkt dieser Party längst hinter uns gelassen haben. Allez, Serge, bring meinetwegen Jane Birkin mit deinem Chanson noch mal zum Höhepunkt, aber dann ist echt fini!
Zu meiner Erleichterung ist gerade von einer anderen Soiree nebenan die Rede. Mit Spirituosenvorräten und extrem toleranten Nachbarn. Das löst zum Glück eine kollektive Aufbruchsstimmung aus. Für meinen Geschmack haben wir den Fall der Berliner Mauer absolut zur Genüge gefeiert!
Ja, diese Party hatte ein Motto. Das gebe ich schamlos zu, selbst wenn es bei meinen Berliner Hipster-Freunden Gelächter hervorruft. Wann genau diese grässliche Mode begann, jeder Party in Paris ein Thema zu verpassen, kann ich nicht sagen. Ich finde, das hat sich die Stadt selbst zuzuschreiben. In Clubs musst du für ein Bier acht Euro hinblättern. Man kann sich nicht mal besaufen, wenn die Musik scheiße ist. Zum Rauchen wirst du in ein verdrecktes Loch ohne Luftzirkulation gesteckt, in dem man sich selbst ohne Zigarette umgehend Lungenkrebs einfängt. Um zwei Uhr nachts wird erbarmungslos das Licht angeschaltet. Meine Berliner Freunde wähnen sich in einem Albtraum, meine französischen fragen seit zehn Jahren: Wieso kehrst du der coolsten Stadt des Universums den Rücken zu und tust dir Paris an?
Solche privaten Themenabende in meiner Wahlheimat wecken häufig Erinnerungen an Kindergeburtstage. Als würden wir Topfschlagen oder Reise nach Jerusalem spielen. Dabei erstaunt die detailversessene Kreativität, mit der manch Gastgeber zu Werke geht. Als ich eines Abends unvorhergesehen auf einer »König-der-Löwen-Party« landete, lagen am Eingang Papiermasken von wilden Tieren aus, die man bemalen und zuschneiden musste. Das ist ab einem gewissen Alkoholpegel kein Kinderspiel mehr. Es gab Theaterschminke, Blätter und Zweige schmückten die Wände und wurden dir ins Haar gesteckt. Die selbst gemixten Drinks trugen Namen wie »Hakuna Matata« oder »Mufasa-Mule«.
Das Großartige an meinem Partymotto ist der Erfolg auf französischer und deutscher Seite. Die einen finden den Mauerfall und die DDR très chic und authentique. Bei den anderen schwingt Heimatduselei mit. Das ergibt eine nette Mischung. Die Franzmänner stellen sich die DDR so vor wie in Good Bye, Lenin!, die Landsmänner diskutieren wahlweise über das innerdeutsche Zusammenwachsen oder Auseinanderdriften. Sie tauschen sich über regionale Spezialitäten aus und lachen über das ein oder andere Dialektspezifische oder darüber, dass die meisten Ossi-Witze eins zu eins als Wessi-Witze existieren. Für die Deko der DDR-Sause reichen ein paar verblasste Fotos von FFK-Stränden, Trabbis und ein Honecker-Konterfei an der Wand. Der hatte ein drolliges Lächeln, für den Diktatorlook fehlte ihm eindeutig das Diabolische im Blick. Vielleicht hat ihm das mal jemand geraten: stets semi-debil lächeln! Was meine Musikauswahl angeht, liegen die Puhdys und Nina Hagen weit vorn, nicht zu vergessen die Schullieder aus Zeiten des Klassenkampfes à la »Der kleine Trompeter« oder ganz klassisch »Die Internationale«. Ein weißes Hemd und ein Halstuch in Blau oder Rot sorgen für den originalen Pionierstil. Die ganz Professionellen schlagen mit einer Schapka aus Sowjetzeiten auf, Hauptsache, es sieht nach Volksarmee und Kommunismus aus. Was die Bewirtung der Gäste angeht, hatte ich Buletten und einen Topf Soljanka zubereitet, der zu achtzig Prozent aus Ketchup besteht. Die Ausgaben dafür belaufen sich auf einen Bruchteil dessen, was eine Etagere mit Austern oder erlesenen Häppchen kosten würde. Sozialistische Kochschule in einem Land, dessen Haute Cuisine zum Weltkulturerbe gehört, das ist quasi subversive Verpflegung seiner Gäste, ein Statement linken Bewusstseins. Gerade jetzt zählt jede symbolische Geste, wo Macron Schluss gemacht hat mit der Spaltung zwischen links und rechts! Mit seinem Motto hat er uns das Diktum des extremen Zentrums aufgezwungen. Politik sei nur noch jenseits der traditionellen politischen Lager zu machen. Das Zentrum, die Mitte träfe die einzig richtigen, nötigen und unvermeidlichen Entscheidungen. Umso wichtiger ist es mir und meinen Freunden geworden, bei jeder Gelegenheit über Freiheit und Überzeugungen zu streiten, selbst mit der Soljanka-Kelle in der Hand und musikalisch untermalt von Hasselhoffs »I’ve been looking for freedom«.
Mitzubringen sind zur Party nur eine Packung Haribo und eine Banane. Darum bitte ich in der Einladung, weil ich als Kind furchtbar unter der Mangelwirtschaft leiden musste. Zu diesen Luxusprodukten habe ich seitdem eine traumatische Beziehung. Solche Legenden geben dem Abend eine historische Komponente und ein politisches Understatement. Zugegeben, es war eine beschissene Idee: Mein Dielenfußboden ist mit Haribos verklebt. Und auf meinem Holztisch gammeln Dutzende Bananen in einer Bierlache.
Ich hasse Bananen.
Zwei unbekannte Typen plündern enthusiastisch die Alkoholreste. Im Hosenbund des einen verschwindet eine Flasche Gin. Der andere sammelt die Reste einer Tiefkühlpizza vom Boden auf, die ein Mensch mit Dreadlocks (wer trägt heute noch Dreadlocks?!) in einer Pfanne auf meinem Gasherd zubereitet hat. Der Klassiker, wir kennen das: Hungeranfälle in den Morgenstunden. Kleinste Baguette-Reste, Gurkenstückchen und Chipskrümel verschwinden. Mir kommt das gelegen. So ist morgen weniger aufzuräumen. Was mich wirklich beschäftigt, ist die Frage, wie ich Léa von meiner Couch ins Schlafzimmer transportiere. Trotz der geringen Distanzen in meiner Wohnung von pariserischen dreißig Quadratmetern erscheint mir der Flur verdammt lang. Léa hat definitiv den Titel cadavre des Abends gewonnen. Ich habe mir angewöhnt, diesen Titel an die obligatorische Schnapsleiche, an das geschundenste Überbleibsel meiner Feiern zu verleihen. Irgendwann begann Léa mit einem Typen rumzuknutschen, dann mit einem anderen. Schließlich mixte ihr irgendwer dieses perverse Zeugs aus Red Bull und Jägermeister (liebevoll mit schwimmenden Haribo-Erdbeeren dekoriert!). Zweifellos wird sie sich morgen früh nicht an ihr Delirium erinnern. Am Montag wird sie im Kittel am Labortisch stehen, mit einer Pipette Flüssigkeiten in Reagenzgläser tröpfeln und lustlos Ergebnisse in Excel-Tabellen eintragen. Sollten wir irgendwann auf die Party zu sprechen kommen, würde sie sagen: »Fuck. Tut mir leid. Ist mir total peinlich! Jedes Mal, wenn ich in letzter Zeit anfange zu trinken, endet das mit einem Filmriss.« Genau vor diesem Problem stehen wir jetzt. Oder besser gesagt, ich stehe, Léa liegt. Ich bin überraschend klarsichtig. Die Rolle der Gastgeberin setzt ein Minimum an Restnüchternheit voraus.
Léa gehört nicht gerade zu den Französinnen der Sorte 1,60 m‑45 kg-grazil-subtil-erotisch. Solche, die Männer in den Wahnsinn treiben, die uns in knapper Unterwäsche an Bushaltestellen anschmachten und deren Schlafzimmerblick sagt: »Ich will dich!« Das heißt nicht, dass Léa keine Freunde hat. Die männlichen vermeiden es nur, einen Abend mit ihr allein zu verbringen. Bloß keine falschen Hoffnungen wecken! Nicht in eine zweideutige Situation geraten.
Léa geht zum Aqua-Fitness und zum Volleyball, ins Kino, in Ausstellungen. Sie kauft sich nette Klamotten, ein bisschen größer als der Durchschnitt. Sie liebt gutes Essen, sündigt ab und an mit einem Glas Nutella, das sie vor einer amerikanischen Serie auslöffelt. Seit einigen Monaten hat sie ihre Partnersuche ins Internet verlegt, doch ihre Tinder-Geschichten sind bislang erfolglos geblieben und klingen wenig erbaulich. Rumgemache im Suff und Restaurantbesuche, bei denen auf das Dessert verzichtet wird, damit der Abend schneller zu Ende geht. Konversationen nach dem Motto: »Und was hörst du so für Musik?«, »Spannend, was deine Eltern beruflich machen!«, »Der letzte Woody Allen war echt ziemlich reaktionär in seiner Bildsprache.« Erschwerend hinzu kommt Léas Angewohnheit, nach dem dritten Bier zu viel, zu schnell und zu laut zu reden. Vor Kurzem erzählte sie, wie sie auf einer Party einem Freund in den Schoß kotzen musste. »Ein langjähriger Freund aus Studienzeiten«, fügte sie lachend hinzu. »Wenn es auf einer Party einen gab, bei dem das problemlos möglich war, dann war er es!« Ich fühlte mich verpflichtet, mitzulachen, stellte mir insgeheim die Frage, wen es treffen würde, wenn ich mich übergeben müsste. Man sollte sich die Frage stellen, bevor die Situation eintritt.
Meine scharfsinnige Freundin Dunja besitzt die Gabe, die aktuelle Gemütslage unserer Altersgenossen auf den...