Vorwort
Fröstelnd wachte ich vor Anbruch der Morgendämmerung auf. Mit den Beinen angelte ich nach dem Bettzeug, das ich vorher weggestrampelt hatte, als die tropische Nacht am schwülsten war. Irgendwo draußen sangen afrikanische Stimmen zu einem Trommelrhythmus, doch meine Sicht war durchs Moskitonetz getrübt, und um mich herum nahm ich nur formlose Schatten wahr. Um sie nicht gegen mich aufzubringen, tastete ich langsam und vorsichtig nach dem um meine Knie zerknüllten Laken. Es roch nach meinem Nachtschweiß und nach Antiinsektenmittel, als ich es mir um die Schultern zog. Mir ging es eigentlich nicht um Wärme – ich brauchte Schutz. Draußen war der Kongo, und der jagte mir Angst ein.
Auf dem schmuddeligen Boden neben dem Bett lagen meine Sachen im Dunkeln bereit. Da waren meine Stiefel mit ihren klobigen Sohlen und dem sandfarbenen Wildlederschaft. In jedem waren 2000 Dollar versteckt, am Vortag sorgfältig gezählt, in Plastik eingewickelt und unter die Einlegesohlen gesteckt. Da war mein Rucksack, x-mal neu gepackt, damit auch alles seine Richtigkeit hatte, mit meinen Ersatzklamotten, einer schweren Fleecejacke, der Überlebensration und acht Flaschen gefiltertem Wasser. Die ersten Wagemutigen, die im 19. Jahrhundert in den Kongo aufbrachen, rückten mit einer kleinen Armee an, ausgerüstet mit den neuesten europäischen Feuerwaffen und der besten verfügbaren Medizin gegen Malaria, Schlafkrankheit, Lepra, Pocken und andere tödliche Krankheiten der Region. Der einzige Schutz, den ich dabeihatte, war ein Taschenmesser und eine Packung Feuchttücher.
Ich befand mich in einer großen Stadt namens Kalemie, doch draußen war alles dunkel. Kalemie liegt im Ostteil des Kongo, eine Hafenstadt am Rand des Tanganjikasees, von wo aus es früher per Boot nach Tansania, Sambia und in die weite Welt ging. 40 Jahre Verfall haben Kalemie zu einem von Krankheiten heimgesuchten Trümmerhaufen gemacht, wo das schrottreife Wasserkraftwerk kaum mehr einen Funken Elektrizität zu erzeugen vermag. Wie im übrigen Land haben die Einwohner schon lange gelernt, dass Strom ein seltener Segen und kein angestammtes Recht ist.
An Schlaf war nicht mehr zu denken, also stand ich auf und zog mich an. Ich achtete besonders darauf, die Dollars nicht zu zerknittern, als ich in meine Stiefel stieg. Im Holzkohleöfchen, mit dem ich den zähen Klumpen Reis, den ich letzten Abend gegessen hatte, aufgewärmt hatte, lag noch ein Rest Glut, als ich das doppelte Vorhängeschloss an der hinteren Tür aufsperrte und das grob zusammengeschweißte Sicherheitsgitter öffnete. Ich befand mich in einem kahlen Gebäude voller Stechmücken und ohne fließendes Wasser, doch als Standort einer amerikanischen Hilfsorganisation stellte es ein Ziel dar in einem Land, wo drängende Armut die Gesetzlosigkeit zur Routine macht. Vor dem sich im Osten aufhellenden Himmel konnte ich grob die gezackten Umrisse der Flaschenhälse sehen, die oben in die hohe Umfriedungsmauer einzementiert waren.
»Ist da wer?« Meine Stimme brachte draußen auf dem Hof einen Hund zum Bellen. Der Nachtwächter trat geräuschlos aus dem Schatten.
»Zur Stelle, Patron.« Er klang wie ein Soldat beim Appell, gehorsam, militärisch und ehrerbietig. Das war der Ton des Kongo, den Leuten zuerst eingedrillt von flintenschwingenden Weißen und dann von grausamen lokalen Milizen.
Als ich die Motorräder überprüfte, die zu meiner Reise aufgereiht dastanden, spürte ich, dass der Wächter darauf bedacht war, mir ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. »Keine Sorge, Patron, alles ist okay«, redete er auf meinen krummen Rücken ein, als ich mich über ein Hinterrad beugte. »Ich war die ganze Nacht auf, und niemand ist über die Mauer gestiegen.« Er war von Beruf Lehrer, doch der Zusammenbruch des kongolesischen Staates hatte dafür gesorgt, dass mit Unterricht kein Geld zu verdienen war. Die 30 Dollar im Monat, die er auf dem Gelände damit verdiente, sich die Moskitos vom Leibe zu halten, genügten, um seine Schüler ihrem Schicksal zu überlassen.
Der Himmel im Osten wurde langsam fahl, ich aber drehte mich nach Westen. Dort war noch vollständige Dunkelheit. Etwas legte sich auf mich. Zwischen mir und dem Atlantik lag ein urzeitlicher Teppich von Regenwald, Wasser, Flachland und Bergen, der sich über Tausende von Kilometern erstreckte. Jahrelang hatte ich auf Karten geblickt, die vom Kongofluss beherrscht wurden, einer silberglänzenden Sichel, deren Griff in der Küste steckte und deren Spitze tief im äquatorialen Wald vergraben war, doch nun spürte ich seine bedrohliche Unermesslichkeit. Das jagte mir Angst ein.
Die Symptome meiner Angst habe ich schon sehr gut kennen gelernt. Nach zehn Jahren als Kriegskorrespondent habe ich genügend heiße Frontlinien überquert und auf genügend in der Luft geschwenkte Gewehrläufe gestarrt, um zu wissen, wie mein Unterbewusstsein reagiert. Für mich macht sich Schrecken in körperlichen Symptomen bemerkbar, einem Ziehen, das die Kniekehlen hochkriecht, und einer einschnürenden Trockenheit in der Kehle.
Drei Jahre lang hatte ich mit den Vorbereitungen für diesen Augenblick zugebracht, mit Planungen und Recherchen, und ich hatte schon eine Woche mit Verzögerungen und Schikanen hinter mir, als ich hier anlangte. Der gefährlichste Teil meiner Reise fing jetzt aber erst an. Ich hatte das Gefühl, meine Beine würden nachgeben, und krächzte einen unterdrückten Fluch gegen die Obsession heraus, die mich in das schreckensvollste, rückständigste Land der Erde gezogen hatte.
Meine Finger tasteten nach einem gefalteten Stück Papier in meiner Tasche. Es war eine Genehmigung mit den fleckigen Tintenstempeln des örtlichen Bezirkschefs, die »Butcher, Timothi« die Erlaubnis erteilte, eine Überlandreise zum 500 Kilometer entfernten Kongofluss zu unternehmen. Auch die für diese Fahrt gestatteten Transportmittel waren aufgeführt: Fahrrad, Motorrad und Einbaum. Zum Fluss musste ich nach Westen reisen, durch Katanga, eine Provinz, die seit mehr als 40 Jahren im Zustand beinahe permanenter Rebellion gewesen ist, und durch Maniema, eine Provinz, in der die Furcht vor Kannibalismus heute wieder so real ist wie im 19. Jahrhundert, als Träger sich aus Angst, ihm zum Opfer zu fallen, weigerten, die Forscher in die Gegend zu begleiten. Auch wenn ich es bis zum Kongo schaffte, blieben mir noch 2500 Kilometer flussabwärts bis zum Endziel kurz vor der Stelle, wo der Fluss sich in den Atlantik ergießt.
Ich sehe noch vor mir, wie der Sekretär des Bezirkschefs in Kalemie reagierte, als ich ein paar Tage zuvor den Passierschein abgeholt hatte. Als er meinen Reiseplan las, hielt er im Schreiben inne, legte den Stift ostentativ hin, hob den Kopf und starrte mich an. Die Gläser seiner dicken Hornbrille waren vor lauter Kratzern schon milchig, doch ich konnte seine Pupillen ungläubig flackern sehen.
»Sie wollen wohin?«
»Ich möchte zum Kongofluss.«
»Sie wollen auf dem Landweg dorthin?«
»Ja.«
»Meine Angehörigen stammen aus einem Dorf am Weg zum Fluss, aber es ist uns seit mehr als zehn Jahren unmöglich, hinzukommen. Wie glauben Sie, es zu schaffen?«
»Mit einem Motorrad und etwas Glück.«
»Sie sind ein Weißer, Sie brauchen mehr als etwas Glück.«
Er schüttelte langsam den Kopf und senkte den Blick wieder auf den Passierschein, den er mit dem Amtssiegel des Bezirkschefs von Nordkatanga abstempelte. Bevor ich ging, schaute ich mich im Büro um. In einer Wand war ein so breiter Riss, dass ich den blauen Himmel sehen konnte. Ein altes Bakelittelefon hatte keinerlei Anschluss, und die schmuddelige Atmosphäre ließ regelmäßige Plünderungen erahnen.
Bezirkschef Pierre Kamulete hatte seine Überraschung etwas besser verborgen, als ich ihn wegen einer Reisegenehmigung aufsuchte. Er hörte sich mein Anliegen höflich an, dann winkte er mich zu sich her, wo an der rissigen Wand eine große Karte hing. Sie war mit feuchten Flecken gesprenkelt und wies Ortsnamen auf, die seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet wurden. Er deutete auf die Lücke zwischen Kalemie und dem Quellgebiet des Kongo.
»Sehen Sie die hier eingezeichnete Straße?« Er fuhr mit dem Finger über eine vom See geradewegs nach Westen führende Linie, die als Nationalstraße ausgewiesen war. »Die existiert nicht mehr. Und die Eisenbahn hier, die funktioniert auch nicht mehr. Ein Gewitter hat die Brücke weggespült. Ich weiß nicht, welcher Route Sie folgen wollen, doch es kostet Sie in jedem Fall viel Zeit.«
Mir aber machten nicht die fehlenden Verkehrswege Sorgen, sondern die Rebellen, besonders die Maji-Maji.
Maji-Maji ist eine Abwandlung von »Wasser-Wasser« in Swahili, der Verkehrssprache Ostafrikas, und bezieht sich auf das Zauberwasser, mit dem sich die Rebellen übergießen, nachdem Zauberer es mit besonderen Eigenschaften ausgestattet haben. Gläubige werden sagen, dass Kugeln, die auf jemanden gefeuert werden, der mit dem speziellen Wasser besprenkelt wurde, harmlos zu Boden fallen. Nichtgläubige werden sagen, dass die Maji-Maji gut bewaffnete, gefährliche Killer sind, die sich nur sich selbst verantwortlich fühlen.
Ich hatte früher an dem Tag meinen ersten Maji-Maji-Soldaten gesehen. Er schritt die mit Schlaglöchern übersäte Hauptstraße von Kalemie entlang und hatte das großspurige Auftreten, das in ganz Afrika zu beobachten ist, wenn der Besitz einer Waffe aus einem Jungen einen Mann gemacht hat. Seine Uniform war typisch zusammengestückelt, sein Käppi saß modisch schief, und seine Augen verbargen sich hinter einer dunklen Brille. Als Maji-Maji war er dadurch kenntlich, dass er Pfeil...