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Go Tinder!
Ich kann super allein sein. Wirklich. Es stört mich gar nicht, das Bad so lange zu benutzen, wie ich will, und keine Angst haben zu müssen, dass mein Freund irgendwelche dubiosen Geräusche aus der Toilette hört. Noch viel besser finde ich, dass mein Kühlschrank voll mit leckerem Schrott ist und ich mir theoretisch jeden Tag Nutella auf mein Toastbrot schmieren kann, ohne dass mich irgendwer schräg anguckt. Ist doch toll.
Obwohl: Zählt man eigentlich überhaupt als Single, wenn der Exfreund direkt vom nächsten Lückenbüßer abgelöst wird? So war es nämlich bei mir, um ganz ehrlich zu sein.
Nach über vier Jahren Beziehung haben mein Exfreund Ben und ich festgestellt, dass wir außer gegenseitiger Abneigung keinerlei Gefühle mehr füreinander hatten, und endlich Schluss gemacht. »Ich glaube, wir sind nur noch aus Angst vor dem Alleinsein zusammen«, hatte ich zu Max gesagt und Nägeln mit Köpfen gemacht. Den Schritt hätte ich allerdings ganz sicher nicht gewagt, hätte es nicht Lorenz, eine Art Affäre aus München, gegeben, der mir zu diesem Zeitpunkt schon fleißig WhatsApp-Nachrichten schrieb und um ein Treffen bat.
Nach drei Dates hatte es sich mit dem aber auch schon wieder erledigt. Nicht kompatibel. Er fand mich nach zwei Gläsern Sekt einfach zu peinlich und ich war zu ehrlich: »Wie, du spielst Golf? Ich habe dich gefragt, ob du Sport machst …« Auch beim zweiten Date lief es nicht besser, was möglicherweise ein ganz kleines bisschen daran lag, dass Lorenz, wie gesagt, für mich den Ausschlag gab, mit meinem Exfreund Schluss zu machen. Als er mich dann zum ersten Mal in meiner Wohnung besuchen kam, fand er es vielleicht doch etwas merkwürdig, dass an meiner Klingel noch ein zweiter Name stand. Vielleicht haben ihn aber auch Max’ Möbel, die Fifa-Spiele und das gemeinsame Bild von uns im Flur gestört. Keine Ahnung. Auf jeden Fall war die Sache mit Lorenz danach durch.
Jetzt aber, wo ich nicht einmal mehr Lorenz als Lückenbüßer habe, merke ich, dass Alleinsein doch nicht so richtig mein Ding ist. Nutellatoast hin oder her, mir fehlt einfach jemand, den ich mit den kleinen und großen Katastrophen des Alltags zuspammen kann. Dafür müssen dann jetzt halt meine Freunde herhalten. Wofür hat man die auch sonst? Was mir am Singledasein fehlt, ist eigentlich auch nicht der Sex (nicht umsonst hatte ich in meiner Teeniezeit die Cosmopolitan abonniert), sondern eher die Aufmerksamkeit, die man in einer Beziehung bekommt.
»Aber Hasi, du bist doch nicht allein«, hat Timmi, mein Nachbar und bester Freund, gesagt, als ich mich neulich bei ihm darüber ausheulte, und mir dann geraten, ich solle es doch mal bei einem dieser Onlinedating-Portale versuchen. »Also ich habe über diese ganzen Flirt-Apps, Grindr und wie sie alle heißen, immer jemanden am Start, mit dem ich flirten kann. Sind zwar meistens die Falschen, aber wenigstens wünscht dir jemand abends eine gute Nacht mit Kuss-Emoji. Das braucht man halt manchmal fürs Ego.«
Da gehe ich absolut d’accord mit ihm.
»Probier es doch mal mit Tinder. Das ist echt ganz gut«, sagt dann auch Kathi, meine beste Freundin. »Eine Kollegin von mir ist da auch und die hat ständig irgendwelche Dates.«
Kathi ist gewissermaßen Dauer-Single und seit ein paar Wochen bei Tinder. Wobei ich mich frage, was sie da überhaupt möchte. Für mich gehören Internet und Flirten einfach nicht zusammen und ich habe da eine richtige Abscheu dagegen. Liegt vielleicht daran, dass ich noch zur »Generation studiVZ« gehöre – da gab es früher diese Gruppe: »Wer mich gruschelt, will Sex mit mir.« Das wäre bei mir einmal fast schiefgegangen. Da hatte mich Nicki, ein Typ, der mit mir zur Schule gegangen war, gegruschelt. Ich also zurückgegruschelt, woraufhin er gleich ganz ambitioniert fragte, ob wir am Wochenende was trinken gehen wollten. Damals dachte ich mir: Klar, warum nicht? Ich ging also zu Nicki, der sturmfrei hatte. Großer Fehler! Es sei denn, man steht darauf, von halbnackten Männern mit der rechten Hand im Schritt begrüßt zu werden. Auf jeden Fall hat meine Einstellung gegenüber allem, was mit Flirten und sozialen Netzwerken zu tun hat, seitdem erheblich gelitten. Kathi dagegen hat schon früher bevorzugt die Typen gegruschelt, die in besagter Sex-Gruppe waren, und es dann auch knallhart durchgezogen. »Warum soll ich mich erst fünfmal treffen, wenn ich einfach nur Sex will?«, meinte sie.
Das ist so gar nicht mein Ding. Andererseits, die Männer, die man im echten Leben kennenlernt, sind auch nicht gerade besser. Entweder sie zeigen dir, bevor ihr überhaupt richtig miteinander gesprochen habt, ihre Visitenkarte. Da frage ich mich dann immer, ob das auch so eine Art Ersatz-Penis ist, so von wegen: »Er ist sehr schmal, dafür auch sehr dünn, aber: Ich bin Banker.« Oder aber man gerät an Typen, die einem ohne Vorwarnung plötzlich beim Tanzen zwischen die Beine greifen. Stelle ich mir auch etwas schwierig vor, so ein erstes Date. Peinlich wird’s, wenn man dann später gefragt wird, wie man sich kennengelernt hat, und so was wie »Damals, als der Papa die Mama auf der Tanzfläche angegrapscht hat …« erzählen muss. Schwierige Kiste.
»Ehrlich, Maus. So geht’s mit dir auf jeden Fall nicht weiter«, sagt Kathi, die mir gegenüber am Küchentisch sitzt und erzählt, dass ich mir endlich mal wieder Ablenkung suchen muss. »Ich schaffe es sonst nicht mehr, deinen WhatsApp-Newsticker zu beantworten.«
»Und du meinst, die Kerle bei Tinder sind so wild darauf, mit mir eine Brieffreundschaft zu führen?«, frage ich.
»Ja klar«, sagt meine beste Freundin überzeugt. »Wann bekommt man denn bitte sonst so viel Aufmerksamkeit wie beim Kennenlernen?«
Kann sein, dass sie recht hat. Meistens ist es ja wirklich so, dass man vor allem am Anfang so richtig an einer Person interessiert ist. Da gibt es ja auch noch so vieles, das man noch nicht kennt und erst erfassen muss. Deshalb schläft man am Anfang einer Beziehung auch so wenig; man muss sich noch so viel mitteilen und wann könnte man besser aus der Kindheit und von den Lieblingsfilmen erzählen als direkt nach dem Sex? Eben. Später zieht man eine Stunde Schlaf so einem Gespräch (und dem Sex) vor, keine Chance, da muss man sich nichts vormachen. Und so aufgeregt wie bei den ersten Nachrichten, die man bekommt, ist man nach ein paar Jahren Beziehung leider auch nicht mehr. Wäre wahrscheinlich auch ungesund, wenn einem jedes Mal, wenn das Handy ein Geräusch von sich gibt, das Herz fast durchgeht und man mit einem Freudenschrei erst mal schnell das Display umdrehen muss, wenn er dann tatsächlich geschrieben hat. So was geht in einer Beziehung irgendwann verloren und man registriert neue Liebesbekundungen per WhatsApp am Ende nur noch mit den zwei blauen Häkchen. Zur Kenntnis genommen, danke.
Vielleicht ist da Tinder doch die bessere Alternative. Um ehrlich zu sein, ist es nämlich auch so: Ich kann absolut nicht allein sein. Mich nervt es, jeden Morgen allein aufzuwachen, durch meine leere Wohnung, die immer noch nicht fertig eingerichtet ist, zu wanken und mir dann im Stehen kurz mein Frühstück reinzudrücken. Das Ganze meistens auch noch wortlos, denn der Einzige, mit dem ich reden könnte, ist Poldi, mein Hund. Nur antwortet der eher selten.
Also, was soll’s? Was habe ich denn auch großartig zu verlieren? Ist ja nicht so, als sei Dating sonst auch nur annähernd unkompliziert. Da klingt der Spruch »It’s like real life, only better«, den sich Tinder groß auf die Fahne schreibt, ja eigentlich ganz nett. Im echten Leben bringt es mir momentan nämlich so gar keinen Spaß, Leute kennenzulernen. Erst Lorenz, der Reinfall, und dann habe ich neulich Abend auch noch versehentlich mit einem Typen rumgeknutscht, der, wie sich später herausstellte, gerade seinen Junggesellenabschied feierte. Da ist es dann doch gar nicht mal so unglaubwürdig, dass eine Flirt-App besser sein soll als das echte Leben.
Wahrscheinlich war ich bisher ohnehin nur noch nicht bei Tinder, weil ich es nicht so mit Passwörtern habe und sämtliche meiner Sicherheitsschlüssel immer wieder mal wild miteinander kombiniere, die Handy-PIN in den Bankautomaten eintippe oder – wie es mir mit meinem iPhone passiert ist – so lange mein E-Mail-Passwort im App Store eingebe, bis ich gesperrt werde.
»Bei Tinder meldet man sich doch über Facebook an und das Passwort kriegt man ganz einfach wieder raus«, sagt Kathi. »Gib mal dein Handy her.«
Ich hasse es, wenn sie so die Regie übernimmt. Das macht sie immer, seit wir in der fünften Klasse nebeneinandergesetzt wurden und uns vom ersten Augenblick an absolut nicht leiden konnten. Ich fand ihre grüne Latzhose gewöhnungsbedürftig, sie gruselte sich vor meinen dunklen Augen und dem Psychoblick, den ich draufhabe, wenn ich mich konzentriere. Dann wurden wir von unserer Englischlehrerin aufgefordert, unsere Federtaschen herauszuholen, und, oh Wunder, wir hatten beide die gleiche Scout-Tasche mit den bunten Schmetterlingen. Natürlich wurden wir beste Freundinnen. Seitdem übernimmt Kathi die Führung bei Nachtwanderungen, beim Autofahren und bei der Wahl des richtigen Getränks. Wenn wir zusammen in den Urlaub fahren, ist klar, dass sie vom Flug bis zum Hotel die Buchung übernimmt, und auch jetzt wäre ich ohne meine beste Freundin wohl wieder mal verloren. Sofern man denn ohne eine Dating-App wie Tinder »verloren« ist.
»Bitte, geht doch«, sagt Kathi nach knapp drei Minuten und drückt mir mein iPhone zurück in die Hand.
Im App Store wird mir eine rote Flamme – Tinder – angezeigt. Jetzt installieren? Okay. Mögen die Tinder-Spiele...