Vorwort: „Nichts ist für die Ewigkeit.“
Die Böhsen Onkelz sind zurück. Obwohl sie sich selbst schon mit Songs und in diversen Interviews von ihren Fans verabschiedet hatten, die Auflösung der Band 2005 konfliktträchtig und nicht einvernehmlich stattfand, alle vier längst mehr oder weniger erfolgreiche Solo-Projekte am Start hatten, verkündeten sie im Januar 2014 zunächst mysteriös auf ihrer Homepage und via YouTube „Nichts ist für die Ewigkeit“ und, als die Gerüchte hoch genug gekocht waren: „Wir gehen zurück auf Los! Abschied wird Aufbruch! Wir hauchen den Onkelz 2014 wieder Leben ein!“ Innerhalb einer Woche registrieren sich 400.000 Fans auf der neuerweckten Homepage. In einer strategisch perfekten Kampagne wird zunächst ein einziges Comeback-Konzert für den 20. Juni angekündigt, als das innerhalb von 45 Minuten ausverkauft ist, ein zweites für den Tag darauf, als auch das ebenso sofort ausverkauft ist und die Tickets bereits (illegal) für bis zu 1.000 Euro gehandelt werden, weitere Auftritte in naher Zukunft. Heute, im April 2017, haben rund eine halbe Million Menschen die neuen Onkelz live erlebt und ihr aktuelles Album Memento, das erste seit zwölf Jahren, katapultierte sie innerhalb von 48 Stunden an die Spitze der Verkaufscharts in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Zeiten, in denen man als Onkelz-Fan nur wenige Freunde hatte und die Band sich nichts sehnlicher wünschte, als wenigstens in ihrem Heimatsender HR3 gespielt zu werden, sind definitiv vorbei.
Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe ich die Böhsen Onkelz Ende der 1980er Jahre. Ich recherchierte gerade gemeinsam mit Eberhard Seidel für ein Buch über Skinheads. Dabei fiel immer wieder ihr Name: Die Böhsen Onkelz schienen eine sehr wichtige Rolle für die Skins jener Jahre zu spielen, nicht nur für die der rechten Fraktion, sondern auch für explizit antifaschistisch eingestellte Kurzhaarige. Bis dahin wusste ich zugegebenermaßen nicht viel über die Onkelz; sie hatten einen üblen Ruf als Schläger- und Nazi-Band. Man hörte sie einfach nicht – zumindest nicht als subkultureller Linker, wenn man wie ich mit der Antifa- und Anti-AKW-Bewegung sozialisiert worden war und unter anderem wegen der lebendigen Punk- und Hausbesetzer-Szene 1980 aus dem Ruhrgebiet nach Berlin „ausgewandert“ war.
Im Ruhrgebiet hatte ich einen Großteil meiner Freizeit in einem Jugendzentrum mit sehr multikultureller Kundschaft verbracht: Neben den Kids türkischer, jugoslawischer, italienischer und anderer Eltern trafen sich dort Punks und Jazzer, Schülerzeitungsredaktionen und Tanzgruppen; der Flying Wheels MC hatte dort ebenso seinen Raum wie die Jusos. Bei Punk-Konzerten tauchten auch immer wieder vereinzelt Skinheads auf, ein paar „Rechte“ darunter, aber meist eher schon berufstätige junge Männer, die harte Jungs sein wollten, durchweg Fußballfans waren, dem Alkohol und einer kleinen Prügelei nicht abgeneigt schienen, aber mit den Gleichaltrigen aus Migrationsfamilien keine Probleme hatten, zumindest nicht mehr als mit allen anderen auch. Zumal ihre eigenen Namen oft darauf hindeuteten, dass sie selbst oder zumindest ihre Eltern auch nicht unbedingt in Deutschland geboren wurden.
Erst in Berlin traf man häufiger auf Skinheads. Im Herbst 1980 hatte mir ein Thekennachbar in einer Kreuzberger Kneipe seine Wohnung zur Nachmiete angeboten. Die Miete sollte 127 DM kosten – also knapp 70 Euro. Ich sagte sofort zu, ohne mir die Wohnung auch nur anzusehen, und zog so in den nächsten Wochen von Gelsenkirchen-Buer nach Berlin-Neukölln.
Ich lebte davon, dass ich regelmäßig für verschiedene Zeitschriften, Zeitungen und Radiosender Kulturbeiträge verfasste; nebenbei jobbte ich einige Zeit als Security bei Konzerten. Meine freie Zeit verbrachte ich ebenfalls auf Konzerten und in entsprechenden Klubs. Da mich aufgrund meiner beiden Jobs – als Journalist und Security – die meisten Veranstalter und Türsteher kannten, kam ich fast überall kostenfrei rein. Ich muss in dieser Zeit Hunderte von Punkbands live gesehen haben, aber auch fast alle Rockgrößen und viele andere Bands, auch wenn ich mich heute nur noch an vielleicht zehn Prozent davon erinnere. Die 1980er Jahre waren in vieler Hinsicht exzessiv, und ich kam selten vor fünf oder sechs Uhr morgens nach Hause. Ich bemühte mich meist, gerade noch im Dunkeln einzutreffen, da ich schlecht einschlief, wenn mir dabei in meinem Hochbett in der Neuköllner Lahnstraße die Sonne ins Gesicht schien.
Dann fiel die Berliner Mauer – und alles wurde anders. Plötzlich sah man an jeder Ecke „Skinheads“ und „Hooligans“ – made in DDR. Der Dicke versprach den gelernten DDR-„Mitbürgern“ ein Paradies auf Erden, wenn sie nur bereit wären, heim ins Reich zu kommen. Doch statt blühender Landschaften kamen zunächst Massenarbeitslosigkeit, Chaos, Korruption und aus der Alt-BRD mit „Buschzulage“ weggelobte Wessis, die nun im Osten den Chef markieren durften. Man hat Euch wieder mal belogen / Doch was könnt Ihr schon verlangen / Es waren Worte der Freiheit / Auf den Zungen von Schlangen. Die Rebellion der ostdeutschen Mehrheit richtete sich nun allerdings nicht mehr gegen die (neuen) Mächtigen, die sie sich schließlich selbst herbeigesehnt und -gewählt hatten, sondern gegen noch Schwächere. Ihr sagt, es geht Euch schlecht / Und die andren sind dran schuld. (Böhse Onkelz: „Worte der Freiheit“, 1993) Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Eberswalde und viele andere Orte wurden zum weltweiten Symbol des hässlichen Deutschen, des Ausbruchs des gewalttätigen (ost)deutschen Spießertums gegen alles, was ihm „fremd“ war: Linke, Alternative, vor allem „Ausländer“. Ganz vorne an der rassistischen Front, als Einheizer und Richtungsweiser für die diffuse Wut, marschierten die etablierte Politik und die großen Medien fleißig mit: „Scheinasylanten“, „Asylantenflut“, „Ausländerkriminalität“ … Doch als die ersten Familienhäuser entflammten, Kinder verbrannten, Tote internationale Proteste hervorriefen, da wollte es niemand gewesen sein. Sündenböcke mussten her. Nicht Familienväter, Lehrer, Polizisten hatten plötzlich die Pogrome beklatscht, begangen, ignoriert, nicht Innenminister und Chefredakteure die Opfergruppen dem Mob als Zielscheiben offeriert, sondern „die Skinheads“ waren es. Ohne Skinheads gebe es keinen Rassismus und keine Gewalt in Deutschland, verkündeten christ- und sozialdemokratische Politiker plötzlich in gutem Einvernehmen, die noch wenige Wochen und Monate zuvor von „Ausländerschwemmen“ und „an den Kragen packen und weg damit …“ schwadroniert hatten. Und wer heizte „die Skinheads“ dermaßen auf? Richtig: nicht etwa die tagtäglichen Schlag-Zeilen der auflagenstärksten Medien und (un)verantwortlichen Politiker, sondern „der Rechtsrock“. Und da vor allem eine einzige Band (die einzige, die man zu der Zeit wohl kannte): Böhse Onkelz. Zehn Jahre nach ihrer Gründung landete die bis dahin allenfalls unter ein paar zehntausend Punks, Skinheads, Hooligans und Hardrockern bekannte Band plötzlich in der Mitte der Gesellschaft. Denn die brauchte dringend jemanden, auf den sie ihren Teil der Verantwortung an den Missständen abschieben konnte. Da kamen jugendliche Subkulturen und Bands gerade recht. Die können sich in der Regel sowieso nicht wehren.
Es ärgert mich wahnsinnig, wenn nicht nur BILD-Zeitungsleser_innen und andere Volltrottel auf diese primitiven Strategien hereinfallen und Sündenböcke für ihr eigenes Unvermögen oder die Fehler der Mehrheitsgesellschaft suchen, sondern auch ansonsten kritische, gebildete, linksorientierte Menschen erst reden, dann denken (oder auch nicht). Und wenn mein Ärger größer wird und lange anhält, schlage ich bisweilen mit meinen bescheidenen journalistischen Mitteln zurück und schreibe ein Buch. Das hilft nicht nur mir, meinen Ärger gewaltfrei abzubauen, sondern vielleicht erreicht es ja sogar einige dieser Menschen, die noch guten Willens sind, selbst zu denken und Haltungen in Frage zu stellen, wenn sie einen kleinen Anschub dazu bekommen. Denn letztlich bin ich ein sehr optimistischer Mensch und glaube an die positive Kraft von Bildung und dass Medien Menschen auch positiv verändern können. Das gilt neben der Musik vor allem für Bücher, dieses intimste, nachhaltigste Medium. Leidenschaftliche Leser_innen erinnern sich mit Sicherheit an Bücher, die sie tief beeindruckt und geprägt haben. Jedenfalls erschien so 1993 nach etwa zweijähriger Recherche das Buch Die Skinheads (C. H. Beck) und drei Jahre später der Band Skinhead – a way of life, in dem ich hauptsächlich Skinheads aller Fraktionen selbst zu Wort kommen ließ. Gar nicht in erster Linie, um die Subkultur der Skinheads zu rehabilitieren (obwohl es unter diesen, wie ich aus meinem eigenen Bekanntenkreis und als regelmäßiger Punk- und Ska-Konzertgänger wusste, viele gab, die alles andere als rechts und rassistisch waren), sondern weil ich finde, man darf es einer Gesellschaft, die den Titel „Demokratie“ für sich in Anspruch nimmt, nicht durchgehen lassen, ihr rassistisches, Gewalt verherrlichendes und autoritäres Potential zu ignorieren, einfach auf Minderheiten abzuschieben – weil es sonst bald keine Gesellschaft mehr gibt, die diesen Titel verdient.
1993 erlebte ich auch die Böhsen Onkelz zum ersten Mal live....