Begründung, Absicht und Ziel der Diplomarbeit
Die Idee zum Thema meiner Diplomarbeit ergab sich aus den Erfahrungen, die ich im Praxissemester an einer Suchtberatungsstelle sammelte. Dort traf ich zum ersten Mal und völlig unvorbereitet auf einen Klienten mit borderline-typischem Verhalten.
Von Anfang an waren die Beratungsgespräche sehr interessant und spannend. Bald wurde mir jedoch klar, dass ich es hier nicht mit einem Durchschnitts- Klienten zu tun hatte. Wenn er zu den Gesprächen kam, fand entweder eine intensive und von Traurigkeit geprägte Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten seiner Lebensumstände statt- oder er erzählte mir drei Tage später, er sei frisch verliebt und rundum glücklich. Zu diesen extremen Stimmungsschwankungen kam hinzu, dass er problemlos aufhören konnte, Alkohol zu trinken. Dies wurde mir klar, als ich für einen Sozialbericht seine bisherige Lebensgeschichte erfasste, die er mir sehr offen und schonungslos erzählte. Er ersetzte in der Vergangenheit häufiger umgehend den hohen Alkoholkonsum durch eine Essstörung, während der er sich innerhalb eines Jahres auf die Hälfte seines ursprünglichen Körpergewichts herunterhungern konnte. Die Essstörung aufzugeben war ihm wiederum ein Leichtes, und er begann, täglich 14 Stunden vor seiner Play-Station zu verbringen. Innerhalb der letzten 15 Jahre seines Lebens wechselten sich die verschiedenen Suchterkrankungen genauso schnell wie die unterschiedlichen Stimmungen ab. Auch lebte er einige Zeit auf der Straße und geriet durch kleinere Diebstähle immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt.
So abwechslungsreich und faszinierend die Gespräche in den drei Monaten der Betreuung auch waren, wurden sie mir doch zu einer Belastung. Meine Anleiterin gab mir nach einer Beschreibung der Situation den Rat, im DSM-IV, einer Klassifikationshilfe für alle anerkannten psychischen Krankheiten, nachzusehen und ein Buch über das Borderline-Syndrom zu lesen. Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich mein Verständnis für den Klienten und ich begann zu begreifen, dass es sich bei ihm nicht nur um einem Menschen mit verschiedenen Süchten handelte, sondern dass viel mehr hinter all dem stand. Das nächste Gespräch war wieder sehr intensiv und ich hatte das Gefühl, endlich sei der „Durchbruch“ gelungen. Einen Tag nach dem Gespräch zündete der Klient daheim seine Matratze an und schlug die Fensterscheiben in seiner Wohnung ein. Dabei verletzte er sich die Hand sehr stark. Beim nächsten Gespräch fehlte er, ohne abzusagen. Allerdings kam er eine Woche später unangemeldet in die Beratungsstelle und wollte unbedingt mit mir reden, wobei er mir stolz erzählte, der Arzt habe ihn krankgeschrieben, weil er Suizidabsichten habe.
Zu dem Zeitpunkt stand eine Entwöhnungsbehandlung an, die das Arbeitsamt auf Grund der Alkoholproblematik verlangte, und ich machte ihm den Vorschlag, sich dazu in eine Fachklinik zu begeben, in der er auch an seinen psychischen Schwierigkeiten arbeiten könnte. Davon wollte er nichts wissen, klammerte er sich doch an sein "Anderssein", wie er es bezeichnete, weil es das einzige war, das ihm das Gefühl schenkte, etwas Besonderes zu sein.
Statt eines Durchbruchs folgte also ein Bruch. Er kam nicht mehr zu den Gesprächen und rutschte kurzzeitig wieder in die Alkoholabhängigkeit ab, wie ich von seiner Bewährungshelferin erfuhr. Trotz des Kontaktabbruchs wagte er schließlich den Schritt, sich zu einer Entwöhnungsbehandlung in eine Fachklinik der Suchthilfe zu begeben, die auch Patienten mit Persönlichkeitsstörungen aufnimmt. Leider brach er die Therapie nach fünf Tagen ab.
Inzwischen weiß ich, wie wichtig es ist, Borderline- Klienten Zeit zu geben, denn eine sinnvolle Intervention kann völlig schiefgehen, wenn sie nur zwei Wochen zu früh gemacht wird. So schwierig und kompliziert sich die Arbeit mit Menschen gestaltet, die Borderline- Züge haben, so interessant und faszinierend ist sie in meinen Augen auch. Sie ist immer wieder spannend und stellt die große Herausforderung dar, angemessen auf borderline- typisches Verhalten zu reagieren, ohne die Klienten dabei zu verletzen. Diese Herausforderung war es auch, die ich suchte, als ich beschloss, meine Diplomarbeit zu diesem Thema zu schreiben.
Als ich begann, meinen Kommilitoninnen von meinen Diplomarbeit- Plänen zu erzählen, erntete ich betretenes Schweigen. Dieses Schweigen resultierte einerseits aus Unkenntnis, denn viele wussten gar nicht, was das Borderline- Syndrom ist. Andererseits war es einigen doch ein Begriff. Sie hatten zumeist in der Praxis erfahren, dass man sich am besten vor Menschen mit dieser Diagnose fern hält, da die Unberechenbarkeit und die heftigen Reaktionen der Borderliner oft Unverständnis, Ärger und Hilflosigkeit beim Fachpersonal auslösten.
Meine eigene Erfahrung machte mir bewusst, welch eine Überforderung es sein kann, wenn man in der Sozialen Arbeit überraschend mit Borderlinern konfrontiert wird. Deshalb sollte man sich als Sozialpädagoge von vornherein darüber im Klaren sein, dass in manchen Arbeitsfeldern des Sozialwesens die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, mit Borderlinern in Kontakt zu kommen. Dazu zählen vor allem der Sozialpsychiatrische Dienst, die Suchthilfe, der Krankenhaussozialdienst, die Straffälligenhilfe und nicht zu vergessen die Wohngruppen für verhaltensauffällige Jugendliche und junge Erwachsene. Hinzufügen möchte ich noch, dass in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung und in Frauenhäusern häufig Angehörige von Borderlinern Hilfe suchen, wobei die psychische Krankheit nur selten erkannt wird und die Schwierigkeiten als "normale" Partner- oder Familienproblematik eingestuft werden.
Deshalb ist es meine Absicht, mit meiner Diplomarbeit die Häufigkeit der Borderline- Klienten in den typischen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern deutlich zu machen und gleichzeitig eine Einstiegshilfe für diejenigen zu schaffen, die in der Praxis mit den Betroffenen und ihren Angehörigen arbeiten werden und sich darauf vorbereiten möchten. Aber auch für SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und StudentInnen, die schon mit dem Thema zu tun haben und sich einen Überblick verschaffen wollen, soll meine Diplomarbeit zum tieferen Einblick von der theoretischen Seite her nützlich sein.
Gliederung
Mir ist bewusst, dass es sich bei Menschen mit einer Borderline- Störung vorwiegend um Frauen handelt. Aus Gründen des Umfangs und der Umständlichkeit erscheint es mir dennoch sinnvoller, stets den männlichen Terminus zu verwenden, auch wenn ich mich damit immer auf beide Geschlechter beziehe.
Die Erklärung der Begriffe sowie einen historischen Überblick über die Entwicklung des Begriffs habe ich an den Anfang meiner Diplomarbeit gestellt, um in Kurzform einen Einstieg zu schaffen. Des Weiteren werde ich typische Arbeitsfelder skizzieren, in denen Sozialarbeiter mit Borderlinern in Kontakt kommen können.
In Punkt 2 gehe ich erst allgemein auf Persönlichkeitsstörungen und schließlich auf die Diagnosekriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung nach dem DSM IV ein. An dieser Stelle erläutere ich die typischen Symptome, weil sie meist das erste sind, was ins Auge fällt, wenn man mit Klienten arbeitet, die von der Borderline- Störung betroffen sind. Dabei lasse ich Anna-Lena (* Name geändert) zu Wort kommen, die erst vor kurzem mit der Diagnose "Borderline" konfrontiert wurde und bis dahin nur die Diagnose "Bulimie" erhalten hatte.
Viele Sozialarbeiter erleben die Kenntnis einer Diagnostik als ein Abstempeln des Klienten. Anschließend werde ich mich deshalb der Frage der Auswirkung einer Diagnosestellung sowohl auf gesellschaftlicher Ebene als auch auf der Ebene der Beziehung zwischen Betreuer und Klient widmen. Ich denke, dass gerade diejenigen, die täglich mit Menschen arbeiten und sich immer wieder mit ihnen auseinandersetzen müssen, einer Diskussion um solch unangenehme Themen nicht aus dem Weg gehen sollten.
Da es für mich eine große Verbesserung für mein Verständnis gegenüber den Klienten bedeutete, die unterschiedlichen Erklärungsansätze von Borderline-Störungen zu kennen, fasse ich in Punkt 3 einige davon zusammen.
Punkt 4 versucht einen Überblick über das Umfeld der Betroffenen zu geben, was nicht einfach ist, da es zur "Borderline- Angehörigenarbeit" kaum Literatur gibt. Außerdem besteht im Raum Stuttgart nach meiner Kenntnis keine Selbsthilfegruppe zu diesem Thema, weshalb ich bei meiner Recherche vollständig auf das Internet angewiesen war. Hilfreich waren allerdings auch Ansätze aus anderen Bereichen der Angehörigenarbeit, z.B. aus dem inzwischen gut beleuchteten Thema "Kinder von Suchtkranken".
Zum Umfeld zähle ich überdies auch den Therapeuten oder Betreuer des Betroffenen; deshalb stelle ich ein Interview mit dem Mitarbeiter eines Sozialpsychiatrischen Dienstes vor, um einen Einblick in den Arbeitsalltag mit psychisch Kranken zu geben.
Daraus ergibt sich eine Verbindung zu Punkt 5, den unterschiedlichen Therapieansätzen. Natürlich kann ich die Prozesse der verschiedenen Therapien nicht vollständig in meiner...