|1|Vorwort
Beginnend in den 1970er Jahren bemühten sich Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, die in psychiatrischen Kliniken mit der therapeutischen Versorgung von schwer gestörten Patienten im Erwachsenenalter betraut waren, die Psychoanalyse für die Behandlung dieser Patienten zu nutzen. Dabei mussten sie bald die Erfahrung machen, dass für viele der Patienten der Versuch, ins Unbewusste abgewiesene Erfahrungen und Konflikte bewusst zu machen und zu analysieren, ins Leere lief. Anderen Patienten fehlten die Voraussetzungen, die erforderlich sind, um mit ihnen psychoanalytisch zu arbeiten. Die Patienten konnten sich zu ihrem eigenen Erleben kaum äußern. Für seelisches Befinden, Gefühle und spontane Einfälle aufmerksam zu sein, war ihnen weitgehend verschlossen; sie waren vielfach nicht in der Lage, gleichsam in sich selbst hineinzuhorchen und sich selbst zum Objekt eigenen Nachdenkens zu machen. Vielen dieser Patienten war, was psychische Realität genannt wird, fremdes Territorium, wirklich war für sie nur, was materiell vorhanden und in diesem Sinn sinnlich-konkret erfahrbar war. Jegliche Bemühungen auf therapeutischer Seite, derartige Einschränkungen als Abwehr zu deuten, verfehlten die Patienten, sie konnten mit solchen und anderen Deutungsversuchen nichts anfangen. Vor diesem Hintergrund stellte sich zum einen die Frage, ob die psychischen und psychosozialen Beeinträchtigungen dieser Patienten ähnlich wie die der neurotischen Patienten auf unbewusste Konflikte zurückzuführen sind und im Rahmen einer Psychoanalyse potenziell aufgedeckt werden können oder ob zum Verständnis der Störungen dieser Patientengruppen ein anderes Störungsmodell erforderlich ist; zum anderen stellte sich aber auch die Frage, ob die Erkenntnisse der Psychoanalyse nicht dennoch für die therapeutische Versorgung dieser Patienten nutzbar zu machen sind und wie das ggf. mit welchen Modifikationen realisiert werden könnte.
Die weiteren Entwicklungen angesichts dieser Problematik bewegten sich in unterschiedliche Richtungen. Für die überwiegende Mehrzahl der Psychoanalytiker war und ist die therapeutische Versorgung von Patienten mit schweren Beeinträchtigungen wie gravierenden Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit, psychosenahen Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, erheblichen psychosomatischen Beeinträchtigungen, antisozialen Verhaltensstörungen u. v. a. kein bedeutsames Thema. Für sie steht oftmals die Analyse der Psyche im Vordergrund, weniger Fragen der therapeuti|2|schen Versorgung. Anders jene Psychoanalytiker, welche die therapeutische Versorgung dieser Patientengruppen als ihre zentrale Aufgabe betrachten. Die Erkenntnis, dass es sich bei den Beeinträchtigungen der Patienten nicht in erster Linie um Folgen von Konflikten handelte, die vom bewussten Erleben ferngehalten – mit anderen Worten: abgewehrt – wurden, veranlasste sie dazu, die psychoanalytische Behandlungstechnik mehr oder weniger weitgehend zu modifizieren und so auch für diese Patientengruppen psychoanalytische Erfahrungen nutzbringend einzusetzen. Aus solchen Bemühungen ist auch die psychoanalytisch-interaktionelle Methode hervorgegangen, die zuerst als Gruppentherapie, seit der Mitte der 1980er Jahre als Einzelbehandlung insbesondere für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und in der Folge auch als Gruppen- und Einzeltherapie für schwer gestörte Patienten im Jugendalter weiterentwickelt wurde.
Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM) wurde in den vergangenen Jahrzehnten in ihrer Wirksamkeit zunächst im naturalistischen Setting überprüft, weiter ausgearbeitet und auch gelehrt. In der Behandlung jugendlicher Patienten hat sich das Störungs- und Behandlungsmodell der PIM als besonders hilfreicher Bezugsrahmen bewährt. Jugendliche mit ungünstigen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen und traumatisierenden Erfahrungen in der Vorgeschichte, die oftmals trotz ihres jungen Alters bereits eine „Karriere“ von Behandlungsabbrüchen aufweisen, die jeweils auch als ein weiterer Beziehungsabbruch in der Biografie dieser Patienten verstanden werden können, können mit der PIM erfolgreich behandelt und stabilisiert werden. Mittlerweile liegen zur Wirksamkeit der PIM erste Wirksamkeitsnachweise aus randomisiert-kontrollierten Studien sowohl in der Behandlung von Jugendlichen als auch von Erwachsenen vor (Kap. 5).
Der im Rahmen der evidenzbasierten Medizin favorisierte Ansatz einer Störungsorientierung in der Behandlung psychischer Erkrankungen, der mit der Logik der klassifikatorischen Diagnostik korrespondiert, wird auch in dieser Manualreihe verfolgt. Dabei fassen wir unter dem gewählten Manualtitel „Borderline-Störungen“ mehrere Patientengruppen zusammen, nämlich sowohl Patienten, die bereits im Jugendalter symptomatisch das Vollbild einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aufweisen, als auch Patienten, die unter sogenannten Vorläuferdiagnosen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Von Kernberg (1967) als Borderline-Persönlichkeitsorganisation beschrieben, fand die Borderline-Pathologie Eingang in die Diagnosesysteme und wird seither als Persönlichkeitsstörung klassifiziert. Neben der grundsätzlichen Frage, ob die Vergabe einer Persönlichkeitsstörungsdiagnose im Jugendalter sinnvoll und angemessen ist (Kap. 1), lassen sich im Kindes- und Jugendalter bereits Vorläuferdiagnosen, beispielsweise die kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92 in der ICD-10), identifizieren. Patienten mit dieser Diag|3|nose erfüllen (noch) nicht das Vollbild einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD oder DSM, weisen aber dennoch ausgeprägte Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen mit der Tendenz zur Chronifizierung auf und sollten ebenfalls möglichst frühzeitig behandelt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir die Borderline-Störung generell vorrangig als Entwicklungsstörung (Kap. 2) verstehen – wir verwenden daher auch gelegentlich den Terminus der Borderline-Persönlichkeits(entwicklungs)störung –, die sich in der Regel im Jugendalter zu manifestieren beginnt und zu diesem Zeitpunkt auch adäquat behandelt werden sollte. Wir beziehen uns in diesem Manual also auf mehrere Patientengruppen mit ähnlichen Charakteristika und fokussieren mit dem Störungs- und Behandlungsmodell der PIM insbesondere auf die den Patienten gemeinsamen Schwierigkeiten in ihrem Bezug zu sich selbst und zu anderen. Diese Schwierigkeiten werden oftmals unter dem diagnostischen Begriff der strukturellen Störung beschrieben. Dass es sich bei diesen Beeinträchtigungen der Selbst- und der Beziehungsregulierung um zentrale Aspekte der Persönlichkeitspathologie handelt, findet gegenwärtig auch im DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013, 2015) im sogenannten alternativen Modell der Persönlichkeitsstörungen seinen Niederschlag: Dort wird unter Kriterium A das Funktionsniveau der Persönlichkeit in den beiden Kategorien Selbst und interpersonelle Beziehungen beschrieben und diagnostisch beurteilt. Auf die Bearbeitung dieser beiden so wesentlichen Aspekte hebt die PIM ab, die in diesem Manual insbesondere für das stationäre Setting ausführlich beschrieben wird (Kap. 4).
Wenn in der Psychotherapie Begriffe wie beispielsweise Behandlungsmethode, Intervention oder Therapiedosis verwendet werden, kann das leicht verdecken, dass es sich dabei im Grunde um metaphorische Begriffe handelt, die den Umstand vergessen lassen, dass Psychotherapie zuallererst ein Gespräch ist. Dabei sind neben Worten nichtsprachliches und körperliches Verhalten integraler Teil der kommunikativen Mittel, mit denen sich Jugendlicher und Therapeut verständigen und das Geschehen im Behandlungszimmer einschließlich ihres Verhältnisses zueinander gestalten. Wenn der Psychotherapeut „interveniert“, dann heißt das erst einmal, dass er etwas gesagt hat; wenn er den Jugendlichen „konfrontiert“, dann bedeutet auch das, dass er in einem bestimmten interpersonellen Kontext in bestimmter Weise mit dem Jugendlichen gesprochen hat. Insofern ist es gerechtfertigt zu sagen, dass der Psychotherapeut letztlich nicht eine Methode an einem Jugendlichen anwendet, sondern Jugendlicher und Psychotherapeut einen Dialog miteinander führen. Was sie in der Beziehung zueinander tun, realisieren sie durch die Art und Weise, wie sie miteinander kommunizieren. Kommunizieren ist soziales Handeln. Dieses soziale Handeln anhand der auch in diesem Manual verwendeten Termini wie Behandlungstechnik, Interventionen usw. in seiner ganzen Bedeutung erfassen zu wollen, greift zwangsläufig kurz. Wir hoffen, unseren Lesern mit |4|diesem Manual dennoch eine anschauliche Darstellung der PIM für die hier beschriebenen jugendlichen Patienten mit strukturellen Störungen vorlegen zu können.
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