Vor Sonnenaufgang im Bus
Rosangela, ich schreibe ein Buch über Brasilien.«
»Ich hoffe, du schreibst nur Gutes.«
»Na ja, nicht nur.«
»Hm.«
»Also, viel Gutes natürlich. Aber eben nicht nur.«
»Da kann man wohl nichts machen.«
Ich sitze neben Rosangela in der letzten Reihe des Busses. Dort wo sie immer Platz nimmt. Draußen ist noch tiefe Nacht, und es ist heiß. Drinnen perlen an den Scheiben Tausende winziger Wassertropfen wegen der voll aufgedrehten Klimaanlage. Die roten und gelben Lichter des Morgenverkehrs huschen nur in Schlieren an uns vorbei.
Es ist halb fünf in der Frühe und Rosangela schon seit einer knappen Stunde wach. Sie wohnt mit ihrer Familie in dem Ort Maricá in einem kleinen Haus mit zwei Mangobäumen und einer Kokospalme im Garten. Jeden Morgen nimmt sie den Bus nach Rio de Janeiro, 70 Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht. Heute fahre ich mit ihr. Im vollen Bus ist es still, fast alle schlafen. Rosangela ist siebenundfünfzig, nicht gerade dünn, hat kurzes, leicht krauses, dunkles Haar, ein rundes Gesicht und manchmal ein verschmitztes Lächeln. Es wird zwei Stunden dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Bis sie angekommen ist an ihrem Arbeitsplatz – bei mir zu Hause.
Dieses Buch beginnt mit einem Selbstversuch. Mit einer Entdeckungsreise. Es ist eine Reise, die mich weit weg führt und dennoch nur ein Kurztrip ist. Und es hat mehr als drei Jahre gedauert, bis ich sie angetreten habe. Seit mehr als drei Jahren lebe ich in Rio de Janeiro. Genauso lange arbeitet Rosangela bei mir im Haushalt. Zweimal in der Woche kommt sie in meine Wohnung im Stadtteil Leme, in der Südzone von Rio de Janeiro an der Copacabana. Sie kümmert sich um meine Wäsche, hält die Wohnung sauber und kocht an diesen Tagen für mich. Ein Luxus, den ich mir in Deutschland so kaum leisten könnte, der aber in Brasilien für die Mittel- und Oberschicht Normalität bedeutet.
Jedes Mal, wenn Rosangela frühmorgens kommt, sehen wir uns nur kurz, kaum eine halbe Stunde vermutlich. Es bleibt nicht viel Zeit zum Reden. Ich frühstücke schnell, wir besprechen, was zu tun ist, dann fahre ich zur Arbeit ins ZDF-Studio Rio de Janeiro. Wenn ich abends nach Hause komme, ist Rosangela nicht mehr da. Sie kommt gegen halb sieben und geht um halb drei. Käme und ginge sie später, würde sie morgens und nachmittags nicht jeweils zwei, sondern vielleicht drei Stunden im hoffnungslosen Verkehrschaos von Rio de Janeiro stecken. Manchmal begegnen wir uns tage- oder wochenlang nicht, weil ich auf Reisen in ganz Südamerika unterwegs bin. Rosangela sieht unterdessen in meiner Wohnung nach dem Rechten. Sie hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ich lebe. Von ihr weiß ich dagegen so gut wie nichts. Deshalb habe ich sie gefragt, ob ich sie auf ihrem Weg zur Arbeit einmal begleiten darf.
Der Bus rumpelt weiter über die Schnellstraße, die an Favelas, den Armenvierteln, an Stundenhotels und heruntergekommenen Geschäften für Fensterglas, Türen und anderen Baubedarf vorbeiführt. Immer wenn der Fahrer einem Schlagloch nicht mehr ausweichen kann, bewegen sich die schlafenden Gestalten auf ihren Sitzen vor uns fast wie in Zeitlupe hin und her. Jeden Tag pendeln mehr als zwei Millionen Menschen aus der Peripherie in die reicheren Viertel Rio de Janeiros, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. »Du musst kämpfen«, sagt mir Rosangela. »Wer nichts vom Leben will, bleibt sitzen und wartet.«
Rosangela hat schon als kleines Mädchen gelernt zu kämpfen, denn mit elf Jahren fing sie an zu arbeiten. Ihre Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, wusch per Hand die Wäsche für sechzehn wohlhabende Familien im Stadtteil Copacabana. Rosangela half, die schmutzige Kleidung in großen Stoffbeuteln abzuholen und die frisch gewaschenen Hemden wieder abzuliefern. Die zehn Kleiderbügel in jeder Hand wurden immer schwerer und schnitten in die Haut, je länger sie im Bus stand. Mehrmals die Woche legte sie so den langen Weg von ihrer Favela weit draußen, in der sie aufwuchs, bis in Rios Südzone zurück. Copacabana kam der kleinen Rosangela wie eine völlig andere Welt vor. Sie fand die Gegend wunderschön und liebte den Anblick des Strandes. Auf den Straßen sah sie Menschen in eleganter Kleidung.
»Woran erinnerst du dich noch, Rosangela?«
»Ich erinnere mich an den Geruch von gegrilltem Rindfleisch in Copacabana. Bei uns in der Favela gab es immer nur Fisch.«
»Wann hast du zum ersten Mal churrasco gegessen?«
»Da war ich schon verheiratet.«
Wir überqueren die Guanabara-Bucht auf der vierspurigen Brücke, die Niterói mit Rio de Janeiro verbindet. Links in der Ferne thront die erleuchtete Cristo-Statue über der Stadt. Bald wird es hell werden.
Wer zum ersten Mal nach Brasilien kommt, ist oft geblendet und begeistert von den Schönheiten dieses Landes. Von der Herzlichkeit der Brasilianer, der Sinnlichkeit der Musik, der Natur, dem Klima und vielleicht auch den Frauen.
Brasilien ist in seiner Vielfalt und Größe einzigartig und faszinierend. Ein Land wie ein Kontinent, 24-mal so groß wie Deutschland mit fast 8 000 Kilometern Küste und dem einzigartigen Amazonasregenwald. Der fünftgrößte Staat der Erde. Ein wirkliches Sehnsuchtsland mit Traumstränden, Millionenmetropolen und Dschungelpfaden. Ein Schmelztiegel mit 200 Millionen Menschen unterschiedlichster Herkunft, bunt gemischt wie kein anderes Volk dieser Größe. Wer ein paar Tage oder Wochen in Rio de Janeiro verbringt, entdeckt eine gewisse Schwerelosigkeit – im fliegenden Rhythmus der Bossa Nova, in den fast schwebenden Bauten von Oscar Niemeyer, in den verspielten Ballkünsten brasilianischer Straßenkicker oder im süßlichen Geschmack von eiskaltem Kokoswasser am Strand von Ipanema.
Auch politisch und wirtschaftlich glänzte Brasilien im vergangenen Jahrzehnt. Das Land hat sich rasant entwickelt. Durch Wirtschaftsboom und milliardenschwere Sozialprogramme der Regierung sind mehr als 35 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht aufgestiegen. Brasilien wurde zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Erde – und zum B im Begriff der BRIC-Staaten, jener Gruppe hungriger, ungeduldiger, aufstrebender Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien und China), die nach ihrem wirtschaftlichen Aufschwung längst auch nach politischem Einfluss streben. Und spätestens mit dem Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016, die beiden größten Events der Welt, hat sich Brasilien eingereiht in die Riege der Global Player.
Das Land nimmt unter den BRIC-Staaten eine Sonderstellung ein. Denn es ist der BRIC-Staat mit Sambafaktor, und das bedeutet Sympathie. Brasilien ist mit Abstand die sympathischste Nation unter den neuen Mächten des 21. Jahrhunderts. Nicht so machtbesessen und grimmig wie Russland, nicht so kompliziert und undurchsichtig wie Indien. Und nicht so undemokratisch und unheimlich wie China. Brasilien ist wie der Apple unter den aufstrebenden Schwellenländern: cooles Image, sinnliches Design.
Ein Land mit positivem Look and Feel. Ein Land ohne Feinde. Brasilien steht für Samba, Strand und Fußball, für Leichtigkeit, Zwanglosigkeit und Lebensfreunde. Ob nun Klischee oder Wahrheit oder eine Kombination aus beidem – Brasilien wird von vielen Menschen weltweit gemocht.
Doch wer länger in Brasilien lebt, lernt auch die Schattenseiten kennen. Brasilien ist immer noch eines der sozial ungerechtesten Länder der Welt. Armut, Gewalt und Kriminalität, Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem, Korruption und eine miserable Infrastruktur sind nur einige der drängendsten Probleme, die das Land in den kommenden Jahren angehen muss. Das Wirtschaftswachstum ist zwischenzeitlich abgesackt. Massive Sozialproteste und Straßenschlachten von Demonstranten mit der Polizei, beginnend im Juni 2013, haben das Land ein Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft in Unruhe gestürzt.
Gerade eben noch gab das monotone Fahrgeräusch dem Innenraum des Busses ein beruhigendes Grundrauschen. Jetzt gehen die Türen auf, und der Lärm der Straße fliegt herein. Wir sind am rodoviária, Rios großem Busbahnhof angelangt – hier muss Rosangela umsteigen. Menschenmassen drängen sich auf dem schmalen Bürgersteig. An den Häuserwänden prangen schmutzige Graffitis. Scheinbar planlos halten und fahren die Busse wieder ab. Ein großes, lautes Durcheinander kurz nach Sonnenaufgang. Als wir endlich im Stadtbus sitzen, müssen wir uns gut festhalten, sobald der Fahrer in eine Kurve prescht.
Rosangela hat eigentlich ihr ganzes Leben als Hausangestellte gearbeitet, mal besser, mal schlechter bezahlt und behandelt. Sie ging nur drei Jahre zur Schule, aber ihre Tochter hat studiert und arbeitet für eine Kosmetikfirma....