InhaltsverzeichnisTeil 1 Die Liebe dauert oder
dauert nicht
Frühjahr 1956. Kalte Morgendämmerung in Brechts Wohnung: Berlin, Chausseestraße 125. Aus dem großen Arbeitszimmer blicken wir durch die offen stehende Tür ins Schlafzimmer. Zeitungen liegen auf dem Boden, auf den flachen Tischen sieht man Manuskripte, ausgeschnittene Fotos und Artikel aus Zeitungen und Illustrierten, West und Ost, deutsch- und englischsprachig. Brecht sitzt auf der Bettkante, in eine helle Decke gehüllt. Durch einen Spalt im Vorhang fällt ein Streifen Licht auf sein Gesicht. Die erste Orientierung nach dem Erwachen. Der frühe Morgen, das ist seine Zeit. Noch ist es ruhig im Haus. Nur eine frühe Straßenbahn rollt auf den Schienen durch die Stille. Die Vogelstimmen durchs offene Fenster. Die Amsel, ihr Lied am Morgen, sie singt über den Gräbern. Das Haus liegt direkt am Dorotheenstädtischen Friedhof, berühmte Tote ruhen dort wie der von Brecht wegen seiner Dialektik verehrte Philosoph Hegel oder dessen Berufskollege Fichte. Der Bildhauer Schadow, der Architekt Stüler. Alles preußische Beamte. Die Amsel wird dort, über den Gräbern, auch dann weiter singen, wenn Brecht ihr Lied nicht mehr hören kann. Erst kürzlich hat er sich in einem Gedicht selbst versichert, dass ihn der Gedanke an die eigene Sterblichkeit nicht mehr ängstigt. »Als ich in weissem Krankenzimmer der Charité/Aufwachte gegen Morgen zu/Und eine Amsel hörte, wußte ich/Es besser. Schon seit geraumer Zeit/Hatte ich keine Todesfurcht mehr, da ja nichts/Mir je fehlen kann, vorausgesetzt/Ich selber fehle. Jetzt/Gelang es mir, mich zu freuen/Alles Amselgesanges nach mir auch.«[11] – Na ja, »gelang es mir« – so völlig unangestrengt klingt diese Freude über ein Weiterleben aller anderen nach dem eigenen Tod noch nicht.
Er blickt hoch zu einem chinesischen Rollbild, das ihn auf allen Etappen seines Exils begleitet hat. Es heißt Der Zweifler. Ein alter, allem Anschein nach weiser Mann sitzt gebeugt auf einer Bank. Was er dabei denken könnte (oder sollte), hat Brecht schon vor fast zwanzig Jahren in einem Gedicht festgehalten, eine Art Checkliste zur Qualitätskontrolle für die eigene literarische Produktion und die seiner Mitarbeiter. »Ich zweifle, ob/Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat./Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte./Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa/Auf die Wahrheit verlassen habt, dessen, was ihr gesagt habt./Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum/Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein/Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?/Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt.«[12] So hat sich Brecht die Haltung des Alten auf dem Rollbild für den eigenen Gebrauch zurechtgelegt.
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Das beständige kritische Befragen der eigenen Arbeit hat Brecht sein ganzes Leben über praktiziert. Von denen, die schnell Bescheid wissen und keine Fragen mehr zulassen wollten, gab es immer schon zu viele. Auch jetzt und hier in der DDR. Und von Jahr zu Jahr scheinen es mehr zu werden.
Diese Mischung aus Angst, Größenwahn und Dummheit, die sich ganz oben in Regierung und Parteispitze ausbreitet, wo er es mit Menschen wie diesem unsäglichen Bürokraten Ulbricht und diesem bornierten Erich Honecker zu tun hat. Diese Murxisten! Was hat er da neulich dieser Person von der Kunstkommission – nein, neuerdings gehört das ja zum Kulturministerium! – ins Telefon gebrüllt: »Ich kann meine Texte selber verantworten. Ich bin ein weltbekannter Schriftsteller!« Sie mussten schon mal den Hörer weit vom Ohr weghalten, so laut ist er geworden. Schließlich wollte er sich ja nicht von Ulbricht sagen lassen, wie man Gedichte schreibt! Der Ulbricht sollte sich vielmehr mal anhören, was der Brecht ihm über eine vernünftige Staatsführung erzählen kann!
Brecht blickt auf die Stahlschränke im großen Arbeitszimmer. Sie sind voller Manuskripte. Böse Worte, böse Szenen sind darunter, Worte, die der Regierung der DDR nicht gefallen würden. Brecht empfindet immer eine Art tröstlicher Genugtuung, wenn er auf die Schränke blickt.
Die wissen nicht so genau, wie sie mit ihm umgehen sollen. Er ist kein Parteimitglied und war nie eins, damit war und ist er keiner Parteidisziplin unterworfen. So kann man ihm auch nicht aus irgendwelchen »Abweichungen« vom Parteikurs in der Vergangenheit einen Strick drehen. Sie haben ja nicht mal eine Parteiakte von ihm, mit der sie ihn erpressen könnten. Und als Ultima Ratio haben Helene Weigel und er ja auch noch die österreichische Staatsbürgerschaft. Ihn kann man nicht so ohne Weiteres demütigen, zu Sündenbekenntnissen zwingen und degradieren wie Wolfgang Langhoff, den Intendanten des Deutschen Theaters, seinen Hausherrn der ersten Jahre hier.
Allerdings, wenn sie ihm das Theater nehmen würden? Noch einmal einpacken, noch einmal von vorn anfangen, womöglich gar als Renegat im Westen? Bloß nicht dran denken. Der wohlbeleibte, grauhaarige, scheinbar so gemütliche Staatspräsident Pieck oder Ministerpräsident Grotewohl sitzen schon mal in der Loge seines Theaters. Das hilft. Aber vor allem schützt ihn der Stalin- oder jetzt besser Lenin-Preis, der ihm letztes Jahr in Moskau verliehen wurde. Seitdem fällt es deutlich schwerer, ihn in seiner Arbeit zu behindern oder ihn über die staatstreuen Zeitungen anzupöbeln. Und wenn die Volkspolizei ihn bei seinen Fahrten zum Landhaus in Buckow an der Sperrgrenze um Berlin anhält und verdächtige Gegenstände wie etwa seine Schreibmaschine findet, dann genügt sein Ausweis, und jedermann weiß: Das ist ein anständiger Kommunist. Keine weitere Durchsuchung nötig, bitte weiterfahren!
Brecht greift nach einem Zigarrenstummel aus dem Aschenbecher und zündet ihn an. Ein erster Zug – belebend und beruhigend. Er hustet und spürt das Herz, es klopft jetzt nicht mehr so schnell wie gerade noch im Augenblick des Erwachens. Noch lebe ich. Wo bin ich gerade gewesen? Wer ist mir da im Traum begegnet? War das Paula, die Bi damals in Augsburg? Bi, das stand für Bittersweet, bitter, herb und süß zugleich, und er, er war der Bidi. Immer hat er den Frauen neue Namen gegeben. Sie getauft, wenn sie zu ihm gehören sollten, hat sie sich so angeeignet. Ein Spiel, und doch auch mehr. Die Bi, die He, dann die Mar, die Bess, die Grete – ach ja, die Margarete Steffin; Helli sowieso, die Käthe, Kathrin, die eigentlich Waltraut heißt. Und jetzt die Ise. Sie wird vielleicht die Letzte sein. Sie tut ihm gut. Sie erinnert ihn an die erste, Paula, die Bi. Beide sind sie natürlich, unkompliziert, kein betrügerisches Herz. Im rechten Augenblick auch schamlos, wenn man mit ihnen zusammen ist. Aber liebt sie mich, die Ise?
Einen Sohn hatten sie zusammen gehabt, Bi und er, den Frank. Sie hat dafür büßen müssen, unter den katholischen Bauern da unten im Allgäu. Das Kind wuchs bei einem Wegmacher auf. In Pflege gegeben. Manchmal hat er ihm später kleine Geschenke geschickt, dann hat sich das Kind auch brav bedankt. Wollte der Bub nicht auch mal Schauspieler werden? Na ja. Irgendwelchen Streit um den Unterhalt gab es da doch auch noch? Erst nach dem Krieg hat er erfahren, wie es mit dem Frank weitergegangen ist. Als Soldat der faschistischen Wehrmacht, mit dem Hakenkreuz an der Uniform, ist er hinter der Ostfront ums Leben gekommen, irgendwo zwischen Moskau und Leningrad soll’s gewesen sein. Ausgerechnet in einem Kino hat es ihn erwischt, Partisanen haben das Gebäude mit den Besatzern drinnen gesprengt.
Das Telefon steht am Bett. Ein Blick auf die Liste der wichtigen Rufnummern auf seinem Nachttisch: die Namen der Frauen, die Helli, Isot, Käthe, Kathrin, Ruth; das Theater, die Probebühne, der West-Verleger Suhrkamp. Neuerdings Walter, der Bruder.
Ein paar Schritte um die Ecke, und er steht im Bad. Das Fenster hat er sich eigens in die Wand brechen lassen. Von hier aus schaut er direkt auf den Friedhof. Er setzt seine Brille auf. Jetzt erkennt er das zarte Grün des Frühlings über den Gräbern. Ja, an den Augen spürt man es, das Alter. So wie damals wird er den Frühling nicht mehr sehen. Die ersten Blüten, wie das leuchtete! In Augsburg, da waren seine Augen noch jung. Jetzt pisst er über die Gräber.
Er nimmt sein Gebiss aus dem Wasserglas, schiebt sich die Zähne über den Kiefer und blickt grimmig in sein Gesicht. Er hatte sich nach und nach alle Zähne ziehen lassen. Das war doch vernünftig. Besonders schön waren sie ja nie gewesen. Vernünftig war auch der Cäsarenschnitt, einfach und kurz. Passt zu den praktischen Jacken, die er sich hat schneidern lassen, mit den vielen Taschen für Bleistifte, Kugelschreiber und Merkhefte. Es sind die Kleider des Stückeschreibers. So kennt man ihn. Die Lieblingsfarbe: Grau. Und natürlich immer nur das beste Material – auch für die feinen Hemden und die Schuhe. Das hält wenigstens. Am teuersten lebt stets...