Ein Angebot, das ich nicht ablehnen soll
»Nein, ich kann das nicht machen. Ich kann diese Bedingungen nicht akzeptieren. Ich hoffe, du verstehst das«, sage ich zu meiner Frau, Dilek Mayatürk.
Es ist Donnerstag, der 15. Februar 2018, gegen 19 Uhr. Wir sitzen in einer Besucherkabine, zwischen uns eine fingerdicke Glasscheibe. Reden können wir nur über die Sprechanlage. Es ist wie telefonieren, nur dass man sich dabei sieht, ohne sich berühren zu können.
Dilek hat für dieses Gespräch eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Das ist ihr zweiter Besuch in dieser Woche, eigentlich ist unsere feste Besuchszeit montags zwischen neun und zehn Uhr vormittags. Zwei Besuche innerhalb einer Woche sind sonst unvorstellbar. Und um diese Uhrzeit finden normalerweise gar keine Besuche statt. Aber normal ist an diesem Abend im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 so manches nicht.
Dabei hat dieser im Jahr 2008 eröffnete Knastkomplex in seiner recht kurzen Geschichte schon einiges erlebt. Während der Prozesse gegen die angebliche Putschistenorganisation Ergenekon und den Folgeverfahren saßen hier führende Militärs, von 2012 bis 2014 auch der vormalige Generalstabschef Ilker Başbuğ. Und erst vor ein paar Tagen sah ich beim Gespräch mit meinem Rechtsanwalt Veysel Ok in der Kabine nebenan Hüseyin Avni Mutlu. Während der Gezi-Proteste im Frühjahr 2013 war er Gouverneur von Istanbul und damit Dienstherr der Polizei und des hiesigen Wachpersonals. Nun ist er Insasse dieses Gefängnisses.
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurde Mutlu, so wie Tausende andere Beamte, unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der Organisation des islamischen Predigers Fethullah Gülen verhaftet. Außerdem sind oder waren bis vor Kurzem hier eingesperrt: Politikerinnen und Politiker der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), liberale Intellektuelle wie Ahmet Altan oder Şahin Alpay, linke Journalisten wie Ahmet Şık, Murat Sabuncu und andere Mitarbeiter der Tageszeitung Cumhuriyet. »In Silivri sitzt heute das Istanbul, das es nicht mehr gibt. Dort triffst du mehr Journalisten und Intellektuelle als in Beyoğlu«, sagen Oppositionelle. »Wir sind ein VIP-Gefängnis«, sagen die Aufseher mit hörbarem Stolz. »VIP-Knast« bedeutet irgendwie auch: »VIP-Aufseher«.
Am Tag vor Dileks überraschendem Besuch, am Mittwoch, dem 14. Februar, haben wir das einjährige Jubiläum meiner Festnahme gefeiert. Ich still in Silivri, der Freundeskreis FreeDeniz laut mit einem Autokorso in Berlin, mit roten Ballonherzen, welche die Teilnehmer an ihre Autos und Fahrräder banden. Eine Idee meiner Berliner Freundin Maria Triandafillidu. War ja Valentinstag. Abends wurde im Festsaal Kreuzberg mein Buch Wir sind ja nicht zum Spaß hier vorgestellt, eine Sammlung aus überarbeiteten alten und einigen neuen Texten. Der Herausgeberin, meiner besten Freundin Doris Akrap, und mir war es gelungen, die Briefzensur auszutricksen und an den Texten zu arbeiten. Nun erwiesen mir Hanna Schygulla, Herbert Grönemeyer, Anne Will und viele andere die Ehre, aus dem Buch zu lesen, dazu spielten Künstler wie Igor Levit oder Aynur.
Zur selben Stunde sendete die ARD ein Interview, das die Tagesthemen-Moderatorin Pinar Atalay mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım geführt hatte. Gleich zum Einstieg fragte Atalay: »Seit genau einem Jahr ist Deniz Yücel im Gefängnis. Wann kommt er frei?« Atalay begann mit dieser Frage, obwohl sie vermutete, was Yıldırım antworten würde: dass die Ermittlungen andauerten, dass die Regierung die Entscheidungen der Gerichte nicht beeinflussen könne, dass die türkische Justiz unabhängig sei, solche Sachen halt. Ungefähr so klang es zuvor bei Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und anderen Regierungspolitikern. Nur Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte sich gleich selber zum Ankläger aufgeschwungen und mich mehrfach als »Agentterrorist« beschimpft. Im türkischen Original ajan terörist, mit zischender Betonung auf der letzten Silbe.
Yıldırım aber griff nicht auf die gewohnten Phrasen zurück. Stattdessen sagte er: »Ich hoffe, dass er in kurzer Zeit freigelassen wird. Ich bin der Meinung, dass es in kurzer Zeit eine Entwicklung geben wird.« Auf die Nachfrage der sichtlich überraschten Journalistin, wie er zu dieser Einschätzung komme, fügte der Ministerpräsident hinzu: »Zumindest wird er vor Gericht kommen. Und jede Verhandlung ist eine Chance, damit er freikommt.«
»Mir schien, als habe Yıldırım auf diese Frage nur gewartet«, erzählte mir später Cemal Taşdan, ein langjähriger Mitarbeiter des ARD-Studios Istanbul, der bei dem Interview in Yıldırıms Heimatstadt Erzincan dabei war. Yıldırıms Sprecher hingegen meinte danach zu Pinar Atalay: »Jetzt haben Sie schon wieder die Hälfte der Zeit mit diesem Jungen verbracht.«
Diese Kommentare bestätigen einen Eindruck, der bei mir in den vorangegangenen Wochen und Monaten entstanden war: Die türkische Regierung wollte ihre Beziehungen zu Deutschland wieder verbessern. Das aber war nicht möglich, solange ich in Haft saß. So mehrten sich seit Mitte Oktober 2017 Anzeichen dafür, dass ich in absehbarer Zeit freikommen würde; erst zaghaft und unbestimmt, dann immer deutlicher. Das schönste dieser Anzeichen: Anfang Dezember wurde nach neun Monaten die Einzelhaft aufgehoben. In meiner neuen Zelle saß ich weiterhin allein, teilte mir nun aber tagsüber einen Hof mit dem Fernsehjournalisten Oğuz Usluer.
Von den Gesprächen, die der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel in meiner Angelegenheit mit Staatspräsident Erdoğan geführt hatte, sollte ich erst viel später erfahren. Doch auch so war es offensichtlich, dass man sich dazu entschlossen hatte, am Tag vor Yıldırıms Besuch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel eine baldige Lösung in Aussicht zu stellen. Dieses Interview gab mir die letzte Gewissheit: Das hier ist bald vorbei.
»Für den Verkauf deines Buches wäre es besser, wenn sie dich noch ein bisschen hierbehalten würden«, witzelte Oğuz, als am Mittwochnachmittag das Yıldırım-Zitat als Vorabmeldung im türkischen Fernsehen lief. Und am Donnerstagmorgen, bei der Zustellung meiner Tageszeitungen, war der zuständige Wärter mit den stahlblauen Augen, einer der freundlichsten unter den Wachleuten, noch fröhlicher als sonst: »Sie kommen bald frei, ganz sicher«, rief er, als er mir den Zeitungsstapel durch die Klappe in der Zellentür reichte.
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Staatsanwaltschaft endlich ihre Anklageschrift vorlegte. Vermutlich würde das Gericht die Anklageschrift zügig annehmen und mich mit der Annahme der Anklageschrift auf freien Fuß setzen. Und wahrscheinlich würde man den Verhandlungstermin möglichst weit in die Zukunft legen, vielleicht in vier, fünf Monaten, in der Hoffnung, dass das Verfahren dann weniger Aufmerksamkeit erregen würde. Ganz sicher würde man, so wie bei der deutsch-türkischen Journalistin Meşale Tolu und fast allen entlassenen politischen Gefangenen, zunächst ein Ausreiseverbot erlassen.
Und man würde, jede Wette, ein, zwei Wochen warten. Aber was waren schon zwei Wochen? Zweimal Bestellungen im Knastladen. Zweimal Wäschetag. Oder einmal mit Dilek telefonieren. »Nachdem ich 27 Jahre gewartet hätte, könne ich ohne Weiteres noch einmal sieben Tage warten«, erinnert sich Nelson Mandela in seiner Autobiografie Der lange Weg zur Freiheit an das Gespräch, in dem er das Angebot der südafrikanischen Apartheidregierung zu seiner sofortigen Freilassung abgelehnt hatte. Nun ist Zeit absitzen in Silivri nicht das Gleiche wie Steine klopfen auf Robben Island und ein halbes Leben im Gefängnis zu verbringen nicht das Gleiche wie gerade einmal ein Jahr eingesperrt zu sein. Doch das genügt bereits, um zu lernen, dass zwei Wochen ein Wimpernschlag sein können. Die Karenzzeit, die sich die türkischen Machthaber nehmen würden, um den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren, würde jedenfalls im Nu vergehen.
Am Donnerstagvormittag wurde ich zum Anwaltsgespräch gerufen. Donnerstag war Refik-Tag. Refik Türkoğlu war ein adretter Rechtsanwalt von 64 Jahren, der beinah sein ganzes Berufsleben lang das deutsche Konsulat in Istanbul vertreten hatte. Mit seinen perfekt sitzenden Anzügen und den stets passenden Krawatten, Hosenträgern und Brillengestellen wirkte er bei seinen Besuchen so, als hätte er auf dem Weg zum Dinner mit einer russischen Fürstin die falsche Ausfahrt genommen und wäre aus Versehen an der Frittenbude am Schrottplatz gelandet. Doch Refik war nicht nur Gentleman, er hatte auch eine Mischung aus Lausbübischem und Altväterlichem, was ihm half, diese Situation zu meistern. Trotz der langen Fahrt aus der Stadtmitte und der vielen Sicherheitskontrollen schaffte er es stets, um zehn Uhr in der Gesprächskabine zu sitzen. Danach konnte man die Uhr stellen. Und wenn es donnerstags mal später wurde, dann nur, weil er sich durch eine seiner jungen Mitarbeiterinnen vertreten ließ, die sehr nett, aber nicht ganz so perfekt organisiert waren.
Die Treffen mit den Anwälten fanden in rundherum verglasten Kabinen von jeweils fünf Quadratmetern statt. Das Interieur: zwei Gartenstühle aus Plastik auf der Seite der Anwälte, einer auf der Seite der Gefangenen. Dazwischen keine Trennschreibe, sondern nur ein bauchhohes Pult aus Sperrholz. So einladend wie eine Raucherzelle im Flughafen, in der man nicht mal rauchen darf. Für mich aber das Tor zur Welt.
Doch an diesem Donnerstag wurde ich erst mittags zum Anwaltsgespräch gebracht. Und auf der anderen Seite des...