Gegen die Schwellenangst: Die Buchgemeinschaften
Ein Traum. Ja, für mich ging an diesem 19. April 1969 ein Traum in Erfüllung. In meiner Schulzeit, als der Verlagsname Kiepenheuer & Witsch für mich noch nicht mehr bedeutet hatte als irgendein anderer, hatte ich mir von meinem Taschengeld die Bücher von Joseph Roth gekauft, hatte in der Oberprima ein Referat über Remarques »Im Westen nichts Neues« gehalten, »Désirée« von Annemarie Selinko meiner damaligen Freundin zum Geburtstag geschenkt, mir »Wie eine Träne im Ozean« von Manès Sperber von meinen Eltern zu Weihnachten gewünscht und mich an einer Novelle im Stil von Bölls »Und sagte kein einziges Wort« versucht. Mein Elternhaus lag in der Kölner Marienburg, quer durch den Südpark nur fünf Gehminuten vom Sitz des Verlages in der Rondorfer Straße 5 entfernt. Wenn ich unsere Hunde spazieren führte, saßen auf den Bänken des Parks möglicherweise Verlagsangestellte in ihrer Mittagspause, mit denen ich später eng zusammenarbeiten sollte. Das ahnte ich natürlich nicht, und der Umstand, dass in meinem Bücherregal neben dem Duden, dem Diercke-Weltatlas, einem Englisch- und einem Französisch-Diktionär vornehmlich Kiepenheuer & Witsch-Bücher standen, war ein Zufall, in dem ich keinen Fingerzeig sah. Hätte man mich nach dem Abitur nach meinen Berufsplänen gefragt, ich hätte wahrscheinlich nur mit den Schultern gezuckt. »Irgendwas mit Büchern?« (Heinrich Böll). Ja, das hätte ich mir vielleicht sogar vorstellen können.
Die Arbeit an meiner Doktorarbeit war keine Vorbereitung auf den Verlegerberuf im engeren Sinne, hatte aber mit dem ambivalenten Charakter des Buches als geistige Ware zu tun. Sie trägt den akademisierenden Titel »Die Kollektivierung des literarischen Konsums in der modernen Gesellschaft durch die Arbeit der Buchgemeinschaften«. Ich habe sie 1961 vorgelegt.
Auf die Idee, mich zum Ende meines Soziologie-Studiums mit den Buchgemeinschaften zu beschäftigen, brachte mich in den Dünen von Kampen auf Sylt mein Schwiegervater Joseph Caspar Witsch. Die Idee war gut, die Buchgemeinschaften waren in den 50er-Jahren in voller Blüte, und es gab keine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit deren Mitgliedern, ihrem Programm und der von ihnen entwickelten Vertriebsform beschäftigt hätte.
Professor Arnold Bergstraesser war von dem Vorhaben angetan und sagte mir Unterstützung zu. Ich betrat mir fremdes Gelände. Ich kannte niemanden, der sich bei einer Buchgemeinschaft eingeschrieben hatte, und der Gedanke, selbst Mitglied zu werden, lag mir fern. Aber das Thema reizte mich. Bei den Befragungen und deren Auswertung habe ich viel gelernt – auch als Vorbereitung auf meinen späteren Beruf.
Die Grundkenntnisse holte ich mir in der Informationsabteilung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Buchgemeinschaften, auch Buchclubs genannt, warben Mitglieder, die gegen eine Monatsgebühr ein Programmheft zugeschickt bekamen, aus dem sie die gewünschte Lektüre (später auch Schallplatten) auswählen konnten. Die zum Versand angebotenen Bücher waren nur in seltenen Fällen Eigenproduktionen, in der Regel erwarben die Buchgemeinschaften gegen eine geringe Gebühr Lizenzen bei den Buchverlagen und damit das Recht, nach Ablauf einer im sogenannten Hamburger Abkommen festgelegten Frist von zwei Jahren eine eigene, selbst gestaltete Ausgabe zu einem deutlich niedrigeren Preis herauszubringen. Dieses Prozedere war vom Kartellamt, das streng über Verstöße gegen die Ladenpreisbindung wachte, abgesegnet.
In einem der Bestellkataloge fand ich einen Satz, der mich aufmerken ließ. Dort hieß es, die Buchgemeinschaften wendeten sich an Leser, die sich durch das Angebot in Buchhandlungen überfordert fühlten, die beispielsweise aus Angst, den Namen eines Autors falsch auszusprechen, eine Buchhandlung nur mit Schwellenangst beträten, sich aber an den Umgang mit Büchern gewöhnen könnten und bereit seien, sich unter Anleitung »höher zu lesen«. Der Gedanke, mit Knittels »Via Mala« oder Scholochows »Der stille Don« zu beginnen, um eines Tages »Krieg und Frieden« von Tolstoi oder Goethes »Faust« mit Gewinn und Vergnügen lesen zu können, weckte meine Neugier.
Ich sah mir die Kataloge der einzelnen Buchgemeinschaften genauer an. Sie unterschieden sich durchaus in Auswahl und Ausstattung. Aber die Kurztexte, mit denen die Bücher angepriesen wurden, waren austauschbar. Bei allem tauchten Stereotype auf: die tragische Liebe, die urkomische Verwechslung, die erschütternde Wandlung, die menschliche Verirrung, die brennende Leidenschaft, die gläubige Hoffnung und die siegreiche Mutterliebe. Mit diesem Vokabular wurden Werke aller Literaturgattungen vorgestellt: Bristows Louisiana-Trilogie ebenso wie Klopstocks »Messias« oder Auszüge aus Hofmannsthals gesammelten Schriften.
Es gab Ende der 50er-Jahre dreizehn Buchgemeinschaften. Sie verkauften jährlich dreißig bis fünfzig Millionen Bücher. Die an den Verlag zu zahlenden Lizenzgebühren waren niedrig (dreißig bis fünfzig Pfennig pro Exemplar). Dennoch habe ich Verträge mit Buchgemeinschaften gern unterschrieben. Der Erlös war ein willkommenes Zubrot für den Verlag, und die Autoren freuten sich, dass ihre Bücher durch die Buchgemeinschaften in die Hände eines ansonsten für sie unerreichbaren Publikums gelangten.
Um Material für meine Dissertation zu sammeln, entwickelte ich einen Fragebogen, um bei den Buchgemeinschaften Auskunft über ihre Mitglieder und deren Lesevorlieben zu erhalten.
Die mit Abstand größte Buchgemeinschaft mit 2,5 Millionen Mitgliedern war der Bertelsmann Lesering in Gütersloh. Seine Kundenwerber hatten einen schlechten Ruf. Sie überfielen, meist zu zweit, Hausfrauen und Rentner und verließen deren Wohnung erst, wenn das Opfer den Beitrittsvertrag unterschrieben hatte. Wer in dem Katalog des Leserings nichts Geeignetes finden konnte, bekam automatisch den »Hauptvorschlagsband« zugeschickt. Im Frühjahr das Gartenbuch, vor Weihnachten die besten Rezepte für Plätzchen und Christstollen, zwischendurch einen Roman von Konsalik oder … Erich Maria Remarque. Die Entscheidung für einen Kiepenheuer & Witsch-Autor als Hauptvorschlagsband war für uns ein Freudenfest. Ein warmer Lizenzregen ging auf den Verlag nieder.
Beim Lesering gab es einen Lizenzeinkäufer, von dem ich nur noch den Nachnamen weiß: Leonhardt. Er war belesen, sammelte Pornografie und machte etwas Unerhörtes: Er nahm einige Hundert Exemplare unserer zehnbändigen Ricarda-Huch-Ausgabe ins Programm. Eine mutige Tat!
Bei meinem Besuch in Gütersloh durfte ich einen Blick in das Arbeitszimmer von Reinhard Mohn werfen. Es war riesig, möbliert mit einem leeren Schreibtisch, Sitzecke und Gummibaum, aber weit und breit kein einziges Buch, nicht einmal die Luther’sche Bibel, die er in dem ihm gehörenden Sigbert Mohn Verlag im Programm hatte.
Der Lesering hat den Medienkonzern, der sich heute Random House nennt, groß gemacht. Den Namen Bertelsmann, belastet und unattraktiv geworden, hat man weitgehend aus dem Verkehr gezogen. Er taucht nur noch gelegentlich im Zusammenhang mit der gleichnamigen Stiftung auf.
Die Büchergilde Gutenberg, die heute noch existiert, war in ihren Ursprüngen eine Initiative von Setzern, Druckern und Buchbindern. Das sieht man ihren Büchern an. Sie sind sorgfältig gestaltet, nicht selten illustriert und werden immer wieder wegen ihrer Schönheit prämiert. Sie hatte damals 310000 treue Mitglieder.
Chef des Unternehmens war Helmut Dreßler, mit Joseph Caspar Witsch so weit befreundet, dass sie zusammen Urlaub an der Riviera dei Fiori machten. Er war ein knorriger Typ, ein alter SPD-Genosse, der auch als Gewerkschaftsboss hätte Karriere machen können.
Das Programm der Büchergilde war gut bestückt mit Kiepenheuer & Witsch-Lizenzen. Aber es kam auch vor, dass der Verlag umgekehrt Bücher bezog, die in Frankfurt am Untermainkai konzipiert worden waren. So »Tyl Ulenspiegel« von Charles de Coster oder Erzählungen von Nikolai Gogol. Sie galten als Schmuckstücke. Die Hälfte der Auflage verschenkte Witsch zu Weihnachten an Freunde und Autoren.
Alle Buchgemeinschaften hier vorzustellen, würde zu weit führen. Nur noch ein paar Anmerkungen zur Deutschen Buch-Gemeinschaft. Sie gehörte einem Mann, der – wenn ich mich recht erinnere – Ernst Leonhard hieß. Mit seinem Angebot von in Halbleder gebundenen Büchern hatte er immerhin 400000 Mitglieder an sein Unternehmen gebunden. Die wollten sich nicht »höher lesen«. Im Gegenteil. Sie hatten den sozialen Aufstieg in jungen Jahren geschafft, hatten es zu mäßigem Wohlstand gebracht mit einer Sitzgarnitur im Wohnzimmer und einem Bücherregal an der Wand. Dann zerstörte der Bombenkrieg die Statussymbole der gerade erworbenen Bürgerlichkeit. Sie mussten sich im neuen Deutschland nach der Währungsreform neu einrichten. Da kamen ihnen die repräsentativen Ausgaben der Deutschen Buch-Gemeinschaft gerade recht. Die Rücken aus Leder mit Goldprägung, die Deckel aus Pappe. Ein paar Bände Schiller und Goethe, daneben Wilhelm Raabe und Gottfried Keller. So schloss sich langsam die Klassiker-Tapete.
Die Mitglieder dieser Buch-Gemeinschaft waren ein Klub von Senioren. Wenn das Augenlicht nachließ, kündigten sie ihr Abonnement. Ernst Leonhard sah die Gefahr der Überalterung und gründete, um die jüngere Generation zu gewinnen,...