1 Auf der Bank
Natasha
Heute ist Donnerstag. Ich bin im Krankenhaus, auf dem Weg zu meiner Mutter. Im Flur riecht es nach Medizin und verkochtem Gemüse, vermutlich Rosenkohl. Bei der Mischung dreht sich mir der Magen um.
Eigentlich schmeckt mir Rosenkohl – aber nur, wenn er gut zubereitet ist. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken, die ihn immer mit Maronen und Speck servierte. Ihr wäre das Gemüse nie verkocht. Sollte sie den Rosenkohl in ihrem Krankenbett riechen können, lenkt sie das hoffentlich von ihrer Diagnose ab: Sie hat Lupus.
Lupus ist ein bescheuerter Name für eine Krankheit, die das Immunsystem komplett auf den Kopf stellt. Er klingt so harmlos und ungefähr so schrecklich wie Krokus, Schneeglöckchen oder irgendeine andere Frühlingsblume. Und trotzdem stehe ich wegen genau dieser Erkrankung nun vor dem Aufzug im Krankenhaus.
Wenn ich’s mir recht überlege, plagen meine Mutter vermutlich gerade andere Probleme als der Geruch von verkochtem Rosenkohl. Ich drücke den Knopf, aber der Aufzug steckt wohl noch irgendwo fest. Er ist in der Schwebe. Dieser Zustand kommt mir bekannt vor.
Schließlich öffnen sich die Türen, und ein paar Minuten später bin ich im siebten Stock. Erst suche ich rechts, dann links. Wo ist Nummer 41? Ich bin einundvierzig, aber im Augenblick fühle ich mich eher wie eine Zweijährige. Als Kind war ich sehr anhänglich. Meine ersten fünf Lebensjahre hing ich wie eine Klette an meiner Mutter. Plötzlich fällt mir eine Szene im Supermarkt ein: Meine Mutter will sich nach einer Dose Bohnen recken, aber sie kommt nicht hoch, denn ich klammere mich an ihr fest und will sie auf keinen Fall loslassen. Das muss furchtbar lästig gewesen sein. Aber sie hat es mir nie gezeigt. Ich sehe sie lächeln, obwohl ich den sorgfältig aufgebauten Dosenstapel fast zum Einsturz gebracht hätte.
Zimmer 41. Bin ich hier richtig? Nein, oder? Hier liegt doch nur eine gebrechliche alte Dame, sie schaut eine Quizsendung. Meine Mutter ist nicht gebrechlich. Ich würde sie nicht mal als alt bezeichnen, obwohl sie das mit ihren neunundsechzig Jahren vermutlich ist. Mir gefällt »älter« ohnehin besser als »alt«. Älter ist jeder. Teenager sind älter als Kleinkinder, Greise älter als Fünfzigjährige. Im Gegensatz dazu bedeutet »alt« so viel wie »am Ende«. Man ist auf dem Weg zur Endstation: Vergessen Sie beim Aussteigen bitte nicht Ihr Gepäck und Ihre überflüssige Gesichtsbehaarung. Es reicht! Im Moment will ich nicht an Endstationen denken, besonders nicht im Zusammenhang mit meiner Mutter.
Hier stehe ich also. Zimmer 41. Ich gehe vorbei an der Frau im ersten Bett, die ihren Bademantel enger um sich schlingt, und halte auf das letzte, mit einem Vorhang abgetrennte Bett vor dem Fenster zu. Mit angehaltenem Atem stecke ich den Kopf durch den rosa Stoffvorhang.
»Mama«, flüstere ich. »Ich bin’s, Tasha.«
Schweigen.
»Mama«, sage ich etwas lauter. »Ich bin’s.«
Ihr Kopf, von grauweißem Haar umrahmt, liegt auf einem Berg Kissen. In der Nase steckt ein Schlauch, und auf ihrem Nachttisch stehen ein Inhaliergerät und eine Flasche Wasser. Die Sauerstoffmaschine am Boden neben dem Bett schnauft vor sich hin. Ihre Augen sind geschlossen, das Gesicht geschwollen. Mit jedem Hub der Maschine bewegt sich ihr Brustkorb auf und ab. In dieser ungewohnten Umgebung wirkt das vertraute gelbe Nachthemd irgendwie tröstlich. Es ist das Lieblingsnachthemd meiner Mutter.
Wie angewurzelt stehe ich da und sehe sie an. Ich habe Angst, sie zu wecken, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass sie aufwachen würde. Schließlich hole ich mir auf Zehenspitzen einen Stuhl ans Bett und stelle die Tasche mit der frischen Nachtwäsche ab, lasse meine Mutter aber keine Sekunde aus den Augen. Sie ist so still. Nun schaue ich doch lieber aus dem Fenster. Ich bin noch nicht bereit für diesen Anblick.
Im Geiste sage ich der Frau, die ich mehr als jeden anderen Menschen liebe, was ich nicht laut aussprechen kann: Ich lasse das nicht zu. Du kannst dich doch nicht einfach aus dem Staub machen! Gerade erst bist du in den Ruhestand gegangen, und am Wochenende wolltest du mich besuchen. Du hast mir versprochen, mit mir die Fliesen fürs Badezimmer auszusuchen, und ich weiß, das ist jetzt völlig egal, aber ich kenne keinen, der so ein Auge für Mosaiksteinchen hat wie du. Wir haben unsere Reise nach Ägypten gebucht, und du wolltest doch noch die Eisberge in der Antarktis sehen. Wage es nicht, jetzt einfach abzuhauen! Ich brauche dich, wir alle brauchen dich. Du bist noch nicht dran!
Kaum habe ich das gedacht, streichele ich ihr mit schlechtem Gewissen über den Arm, weil ich sogar in Gedanken mit ihr schimpfe. Die Haut ist weich und schlaff. Sie rührt sich langsam und wendet mir den Kopf zu. Müde sieht sie mich an. Dann zieht sie sich den Schlauch aus der Nase und flüstert: »Hallo, mein Liebes. Schön, dass du gekommen bist.«
Schön, dass ich gekommen bin? Ihre Höflichkeit ist unerträglich. Wir unterhalten uns eine Weile, doch über unsere Gefühle reden wir nicht. Als wären wir stillschweigend übereingekommen, uns auf neutralem Boden zu begegnen. Stattdessen sprechen wir über die Nachrichten, das Mittagessen. Es gab tatsächlich Rosenkohl. Mit keinem Wort erwähnen wir die rasante Verschlechterung ihres Gesundheitszustands oder die Tatsache, dass sie so plötzlich im Krankenhaus gelandet ist. Weder von der Verwirrung noch der Hilflosigkeit, die wir beide ganz deutlich empfinden, ist zwischen uns die Rede. Aber wir können es in unseren Blicken lesen, weswegen ich ihrem auch schnell ausweiche.
Obwohl sie es nicht zugibt, sehe ich genau, wie erschöpft sie ist. Deshalb trete ich zögerlich den Rückzug an, tappe unsicher über den Flur zurück zum Aufzug und traktiere den Knopf mit dem Zeigefinger. Jetzt komm endlich! Ich will hier raus, und zwar sofort! Nach einer gefühlten Ewigkeit steige ich in den Lift und drücke EG für Erdgeschoss. Gibt es auch H für Hilfe? Unten angekommen, haste ich dem Ausgang entgegen, jeder Schritt bringt mich weiter von ihr weg.
Draußen halte ich mich an der Mauer fest und atme gierig die frische Luft ein. Dann mache ich mich auf den Weg zur nächsten Bank. Ich war zwar noch nie hier, aber plötzlich erkenne ich dieses unscheinbare Gartenmöbel genau: Es markiert die erste Station auf dem Weg zum Abschied eines geliebten Menschen. Hier halten wir inne, um darüber nachzudenken, welche schlimmen Dinge als Nächstes passieren werden. Ich setze mich hin und fühle mich schrecklich allein.
In meiner Tasche finde ich eine Flasche Wasser. Ich stürze es hinunter, als läge darin die Heilung, und spucke das meiste wieder zurück. Eleganz war gestern. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Ich halte mir den Bauch und tue das, was ich bereits tun wollte, als ich den rosafarbenen Vorhang in Zimmer 41 beiseitegeschoben habe: Ich weine. Während mir die Tränen über die Wangen laufen, geht mir wieder dieser Gedanke durch den Kopf: Meine Mutter wird mich verlassen. Aber das geht nicht, sie ist doch meine Mutter!
Diese Stunde vor dem Krankenhaus werde ich nie vergessen. Auf der Bank. Allein der Gedanke daran versetzt mich umgehend in dieselbe Panik, die ich dort zum ersten Mal verspürte. Normalerweise bin ich krisenfest. Ich behalte einen kühlen Kopf. Aber diesmal nicht. Auf der Bank fühlte ich mich vollkommen hilflos und überfordert.
Ich mache mir wegen der Krankheit große Sorgen um meine Mutter. Aber gleichzeitig habe ich Schuldgefühle, und ich frage mich: War ich eine gute Tochter? Habe ich ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe? Weiß sie, wie dankbar ich ihr für all das bin, was sie für mich getan hat? Was habe ich in den einundvierzig Jahren meines Lebens für sie getan? Ahnt sie, wie sehr ich sie als Frau und Mutter respektiere und bewundere? Und wenn nicht, habe ich noch genug Zeit, es ihr zu sagen?
Der Moment auf der Bank zwang mich dazu, reinen Tisch zu machen. Hier begann ich, die Beziehung zu meiner Mutter zu hinterfragen und mir zu überlegen, wie ich aus der Zeit, die uns noch blieb, das Beste machen könnte. Erst in dieser Stunde vor dem Krankenhaus erkannte ich, welcher Verlust mir bevorstand, und ich machte mir Gedanken darüber, wie ich damit umgehen könnte. Hier nahm dieses Buch seinen Anfang. (Zunächst gierte ich allerdings das erste Mal seit einem Jahr nach einer Zigarette und hatte außerdem keinen blassen Schimmer, was ich als Nächstes tun sollte.)
Vor fünf Jahren erkrankte meine Mutter an Lupus. Die ersten Anzeichen dieser Krankheit bemerkte ich während unseres Urlaubs in Marokko. Eines Tages bekam sie einen fürchterlichen Ausschlag, den wir allerdings zunächst auf die starke Sonne zurückführten. Doch das, was wir für Hitzebläschen hielten, waren Symptome von Lupus, eine Überreaktion des Immunsystems, bei der gesundes Gewebe angegriffen wird. Die Symptome sind zahlreich, es kann zu Entzündungen und Schwellungen kommen, und oft geht Lupus mit Schäden an Gelenken, Haut, Niere, Lunge und Herz einher. Dazu hat man bei meiner Mutter Bluthochdruck festgestellt, weswegen sie immer wieder am Sauerstoffgerät hängt.
Nachdem sie ihre Diagnose erhalten hatte, veränderte sich unsere Beziehung. Meine quirlige und furchtlose Mutter war auf einmal Patientin, auf ein Sauerstoffgerät und die Pflege ihrer Kinder angewiesen. Wenn sie nicht im Krankenhaus war, musste sich jemand um sie kümmern, denn sie durfte nicht allein sein. Unsere Familie wechselte sich damit ab. Ich lebe in Dublin, zweieinhalb Fahrtstunden von meiner Mutter in Galway entfernt, und wenn ich...