2 Störungswissen und Erklärungsmodelle
Da die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bei weitem die meisten Wirksamkeitsbelege für die Behandlung der BN aufweist (vgl. Kap. 4) und aufgrund dessen in den S3-Leitlinien als Goldstandardtherapie empfohlen wird, werden im Anschluss die Befunde der Grundlagenforschung hinsichtlich der Ätiologie und Aufrechterhaltung der BN in ein kognitiv-behaviorales Modell der Fallkonzeption eingeordnet2. Dies soll Behandlern, die ihr therapeutisches Vorgehen auf das hier vorliegende Buch ausrichten, die Verwendung der Befunde im Rahmen einer KVT-basierten Fallkonzeption nahelegen und erleichtern.
|12|2.1 Entstehung und Aufrechterhaltung der Bulimia nervosa
Die Entstehung und Aufrechterhaltung der BN wird in der aktuellen Forschung und Praxis als multifaktorielles Bedingungsmodell aufgefasst. Dabei sind sowohl individuelle – d. h. biologische, psychische und verhaltensbezogene Faktoren – als auch umweltbezogene Faktoren sowie deren Interaktion von Bedeutung. Bei der Darstellung dieser für die Entstehung und Aufrechterhaltung relevanten Faktoren wird dabei die in allen Modellen vorgenommene Unterteilung der Ätiologie von Essstörungen in prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen beibehalten, wobei sich diese wiederum sowohl auf individuelle Faktoren (psychische, biologische, verhaltensbezogene Faktoren) als auch auf Umweltfaktoren sowie deren Interaktion beziehen können. Die Analyse der Aufrechterhaltung wird über die klassische Problem- und Verhaltensanalyse (Aktualgenese) unter Berücksichtigung empirischer Befunde zu prädisponierenden und auslösenden Faktoren für das Problemverhalten der BN (d. h., Essanfälle und unangemessenes kompensatorisches Verhalten) vorgenommen.
2.1.1 Prädisponierende Faktoren
Prädisponierende Faktoren beziehen sich auf Faktoren und Mechanismen, die zur Störungsentwicklung – im vorliegenden Fall der BN – beigetragen haben. Einige dieser Entstehungsbedingungen sind auch im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der BN von Relevanz (z. B. ein internalisiertes Schlankheitsideal, Impulsivität). Andere Entstehungsbedingungen sind hingegen nicht mehr akut, können aber auf den Verlauf einer Erkrankung immer noch Einfluss nehmen (z. B. Gen-Umwelt-Interaktionen). Eine Zusammenfassung der in den folgenden Abschnitten beschriebenen Faktoren findet sich in Tabelle 2.
Tabelle 2: Prädisponierende Faktoren der Bulimia nervosa
Individuelle Faktoren | Umweltfaktoren |
Erblichkeit Genetisch bedingte Veränderungen in der Appetit-, Stimmungs- und Gewichtsregulation Adipositas im Kindesalter Diätverhalten und Fasten Sorgen um Figur und Gewicht Inhibitionsdefizite Perfektionismus
| Elterliche bzw. familiäre Essprobleme Sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauch Soziokultureller Schlankheitsdruck
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|13|Erblichkeit und andere biologische Faktoren. Nach den Ergebnissen einiger weniger Studien zur Erblichkeit der BN (für einen Überblick siehe Baker, Janson, Trace & Bulik, 2015) scheinen genetische Faktoren an der Entstehung der BN mitbeteiligt zu sein. So weisen Verwandte ersten Grades von Personen mit BN eine ca. vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Lebenszeitdiagnose BN und AN auf. Auch in populationsbasierten Zwillingsstudien ergab sich für eineiige Zwillingsgeschwister erkrankter Patientinnen mit BN eine höhere Wahrscheinlichkeit, ebenfalls an einer BN zu erkranken als bei zweieiigen Zwillingen. Der Einfluss der Erblichkeit für die BN variiert je nach Studie allerdings zwischen 28 % und 83 %. Kopplungsstudien hingegen, die die Möglichkeit bieten, spezifische Regionen von Chromosomen zu identifizieren, die eine Person zu einer bestimmten Störung prädisponieren, stehen im Bereich der BN noch am Anfang. So ist eine signifikante Kopplung der BN mit dem Chromosom 10p und 14q belegt. Allerdings stehen Replikationen hierzu sowie genomweite Assoziationsstudien (mit ausreichender Stichprobengröße) im Bereich der BN noch aus.
Kandidatengen-Assoziationsstudien, die den Zusammenhang der BN mit einem spezifischen Gen untersuchten, haben v. a. den Zusammenhang mit Genen des serotonergen und dopaminergen Systems getestet, die einen Einfluss auf Appetit, Stimmung und Gewichtsregulation nehmen. In Bezug auf das serotonerge System (v. a. der Serotonintransporter 5-HTTLPR sowie die Serotoninrezeptoren 5-HT2A, 5-HT2C) sind die Befunde in Bezug auf die BN allerdings uneinheitlich (Baker et al., 2015). So konnte lediglich eine Studie, noch dazu mit einer kleinen Stichprobe, eine Assoziation der BN mit dem Serotonintransporter 5-HTTLPR berichten. Dies konnte in neueren Metaanalysen allerdings nicht gezeigt werden. Ebenfalls ergaben sich uneinheitliche Befunde für den Serotoninrezeptor 5-HT2A. Im Unterschied zur AN scheint der 5-HT2C Rezeptor nicht mit der BN assoziiert zu sein. Weniger ist bekannt über den Zusammenhang von Ghrelin – einem gastrointestinalen appetitanregenden Hormon – und BN. Allerdings fand eine Studie einen Zusammenhang der 171T/C Genvariante des Ghrelin Rezeptor Gens (Growth Hormone Secretagogue Rezeptor [GHRS]) mit BN dahingehend, dass der CC Typus des GHRS Gens bei Frauen mit BN signifikant häufiger vorkam als bei gesunden Frauen. Darüber hinaus zeigte sich eine signifikante Assoziation des mit Übergewicht assoziierten FTO Gens (fat mass and obesity associated gen) mit der BN. Insbesondere fanden sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem A-Allel des Single Nucleotide Polymorphismus (SNP) rs9939609 und der BN.
Gen × Umwelt-Interaktionen. Während die erwähnten Studien zeigen, dass genetische Faktoren nicht allein für die Entstehung einer BN verantwortlich sind, liefern einige Studien Hinweise, dass genetische Faktoren in der Interaktion mit Umweltfaktoren von Relevanz sein könnten. So zeigten Studien eine stärkere Ausprägung psychischer Merkmale (wie z. B. Sensation-Seeking, |14|unsichere Bindung, dissoziales Verhalten) bei Frauen aus dem bulimischen Spektrum mit früherem sexuellen, physischen oder emotionalen Missbrauch, die Träger des kurzen 5-HTTLPR Allels waren. Ähnliche Befunde zeigen sich auch in Bezug auf das dopaminerge System. So wurden höhere Werte im Sensation-Seeking bei Frauen mit einer BN-Spektrum-Diagnose mit früherem sexuellen Missbrauch diagnostiziert, die Träger des A1 Allels der DRD2 Taq1A Genvariante waren. Zudem fand sich ein Zusammenhang zwischen niedriger Dopaminaktivität und selbstverletzendem Verhalten (Selbstbericht) bei Frauen mit einer BN-Spektrum-Diagnose: Frauen mit bulimischen Symptomen, die Träger zweier Hochrisiko-Genvarianten (7-R Allel und Val/Val) waren, zeigten in höherem Ausmaß selbstverletzendes Verhalten als Frauen mit BN ohne genetische Risikodisposition bzw. mit nur einem risikodisponierenden Polymorphismus (für eine Überblicksarbeit siehe Baker et al., 2015).
Adipositas im Kindesalter. Retrospektiv erhobene Daten an Patientinnen mit BN im Vergleich zu Personen mit anderen psychischen Störungen und verglichen mit Personen ohne Diagnose einer psychischen Störung liefern Hinweise, dass Adipositas in der Kindheit ein für die BN relevanter Prädiktor zu sein scheint. Darüber hinaus deuten die retrospektiv erhobenen Befunde auf eine Häufung familiärer (elterlicher) Adipositas bei Personen mit BN im Vergleich ...