Der Keiler im Schnee
Neuschnee – Jägerschnee, die Augen leuchten, wenn nachts die schweren Wolken ihre weiße Pracht über Feld, Wald und Flur wie ein großes helles Betttuch gebreitet haben, morgens die Sonne vom Himmel lacht und glitzerndes Weiß den Jäger blendet.
Im Dezember wollte ich noch einmal im Osten jagen, Jagdfreund Hartmut hatte mich gerufen: »Die Sauen sind überall, und beim nächsten Vollmond komm doch her, das Jagdjahr neigt sich, und ein paar Sauen wollen wir noch schießen.« Gern sagte ich zu.
Bisher war der Winter fast schneefrei gewesen, lediglich im November hatte Frau Holle ihre Betten kurze Zeit kräftig ausgeschüttelt, doch die Pracht währte nicht lange. So hoffte ich, dass uns in der zweiten Dezemberhälfte noch einmal der weiße Spürhund hold sein würde, und die Wetterberichte schürten die Hoffnungen.
Eher grau zeigte sich unsere Südheide, als ich losfuhr. Doch hinter der östlichen Wetterscheide, dem blauen Band der Elbe, keimte Hoffnung, die, je weiter ich nach Osten vordrang, zur Gewissheit wurde. Weiß gefleckt die Mark Brandenburg, um Berlin herum nur noch wenige apere Stellen, und dann empfing mich hinter Königswusterhausen eine blitzweiße, frische Schneelandschaft, wie ich sie mir besser nicht wünschen konnte. Da war er ja, der begehrte Neuschnee, und lauter freundliche und erwartungsfrohe Gedanken im Kopf, legte ich wohlgemut die letzten 80 Kilometer zurück.
16 Uhr ist es mittlerweile doch schon, als ich bei meinem Jagdfreund anlangte, zu spät, um noch persönlich abzufährten, aber das hat Hartmut sicher schon besorgt. Nach dem herzlichen Willkommensgruß geht’s gleich zur Sache: »Draußen auf den Feldern ist leider nichts los, keine Bewegung. Du weißt ja, dass die Sauen beim ersten Schnee ungern ihre Dickung verlassen und auf die Felder ziehen; das tun sie erst wieder, wenn sie richtig Schmacht haben. Im Wald haben wir aber sicher heute Abend eine Chance. Lass uns pirschen gehen, dann haben wir vielleicht Glück. Und morgen sehn wir weiter, ob wir die Kameraden irgendwo fest haben, damit wir drücken können.«
Vier Stunden später verlassen wir unser Auto. Natürlich muss der bewährte Pirschstock mit. Trotz des Schnees haben wir uns nicht zu stark angepelzt, denn Pirschen ist anstrengend und schweißtreibend, sofern wir nicht an bestimmten Stellen sehr lange verhoffen müssen.
Der Mond zeigt sich zu drei Vierteln, beste Voraussetzungen für unser Vorhaben. Die Sicht ist auf jeden Fall ausgezeichnet, und der Frost hat den Schnee noch nicht so im Griff, dass die weiße Decke knirscht und knackt. Wenn die Sauen in Bewegung sind und brechen, dann nehmen sie zwar die Geräusche, die der Mensch beim Pirschen auf einer harten Schneedecke verursacht, nicht so sehr übel, weil sie selbst in der Rotte genug Lärm veranstalten. Doch wenn sie sichern oder in der Dickung darauf warten, auswechseln zu können, dann sind die harschigen Begleiterscheinungen völlig fehl am Platz und vergrämen die begehrten Schwarzen.
Zur Linken erstreckt sich eine alte Zwetschgenbaumplantage. Mit Vorliebe stehen die Sauen im Herbst in diesen Kulturen. Sie genießen es, die leicht bitter schmeckenden, blausäurehaltigen Kerne zu knacken sowie das Fruchtfleisch, möglichst sollte dieses süß und schon ein wenig brandig sein, aufzunehmen. Wir leuchten mit unseren Gläsern die Baumreihen ab. Kahl wie dürre Gespensterarme strecken die alten Obstbäume ihre Äste in die kalte Luft. Doch unten auf dem Erdboden sind keine schwarzen Klumpen zu entdecken. Also geht es weiter.
Wir passieren ein Feld und gelangen dann in einen alten Kiefernbestand. Bisher haben wir noch keine Fährte der begehrten Schwarzen entdecken können. Doch jetzt wird es langsam feierlich. Hier an der Waldkante ist eine kleine Rotte durchgewechselt, die Fährten sind recht frisch. Wir freuen uns: »Die Sauen sind doch schon mobil.« Dieser vorsichtige Marsch durch die hohen Fuhren ist von besonderem Reiz. Fuß vor Fuß, Schritt für Schritt, langsam und leise, eher pirschen stehend als gehend schleichen wir die Wege entlang. Einige Hektar groß ist das Altholz, und es dauert eine halbe Stunde, bis wir es hinter uns lassen.
Sehnsüchtig warten wir eigentlich auf den altbewährten Begleiter der Sauen, den Waldkauz, der nachts mit seinem »Kuwitt – Kuwitt« schon auf große Entfernung ankündigt, dass Wild zieht. Doch bisher sind diese Leitrufe nicht zu hören. Schon einige Male hat er uns bei unserem Pirschen den Weg gewiesen und angezeigt, wo wir auf Sauen treffen können.
An den alten Föhrenbestand grenzt eine Fichtendickung. Schon von weitem sind die verschneiten Weihnachtsbäume zu sehen, sie zeigen sich so, als sollten sie demnächst Modell für ein besonders stimmungsvolles Weihnachtsfoto stehen. Vorsichtig nähern wir uns der Pracht, und richtig, der Wind steht für uns günstig, drinnen ist ein Getöse zu vernehmen, wie es für Jägerohren nicht reizvoller klingen kann. Da tobt sich eine Gesellschaft von Schwarzen so richtig aus. Die Frischlinge quieken, große Stücke blasen, lautes »Uik« ist zu vernehmen, dort scheinen sich zwei Keiler in die Wolle geraten zu sein, Unterholz und Äste krachen. Auf alle Fälle ist hier wohl eine Hochzeitsgesellschaft im Gang, und wir zwei sind Zeuge dieser Veranstaltung, ohne dass wir etwas erblicken können.
Wir pirschen uns zu einer Schneise vor, die die Dickung vom Altholz trennt. Vielleicht haben wir hier eine Chance. Wie gebannt stehen wir da und lauschen den lieblichen Klängen. Wenn wir bloß etwas sehen könnten, aber der dichte Mantel der grün-weißen Wehr hält die Hand über die Gesellschaft und lässt keine Einblicke zu. In die Dickung können wir auch nicht eindringen, also sind wir zur Untätigkeit verdammt und müssen abwarten, ob sich für uns etwas Günstiges tut, ob ein Stück über die Schneise wechselt oder die Rotte die Dickung verlässt. Natürlich haben wir uns schussfertig gemacht und sind beide bereit, uns bei der ersten besten Chance zu bemühen, von dem Segen etwas zu profitieren und ein Stück aus der Rotte herauszuholen.
Fünf Minuten haben wir gespannt wie ein Flitzebogen das Vergnügen, die urigen Laute zu vernehmen und zu hoffen, dass wir Fortune haben. Aber es soll nicht sein. Plötzlich, für uns unverständlich, aber wer kann schon in Sauenseelen hineinkriechen?, herrscht Totenstille. Kein Laut ist mehr zu vernehmen. Wir schauen uns fragend an, rühren uns jedoch nicht von der Stelle. So verhoffen wir glücklosen Jäger noch eine Weile und müssen schließlich zugeben, dass die Schwarzen uns wohl an der Nase herumgeführt haben und mal wieder die Schlaueren waren.
Endlich lösen wir uns von unseren Plätzen, umschlagen aus Neugier die Dickung, die etwa zwei Hektar groß ist. Tatsächlich, die Rotte ist auf der Nordseite ausgewechselt und hat sich ohne Gruß und Kuss von uns verabschiedet. Vielleicht haben sie doch von uns etwas mitgekriegt, der Wind küselt ja manchmal in den Waldbeständen. Und so haben wir das Nachsehen. Spannend, so gestehen wir uns gern ein, war das allemal, und, obwohl wir untätig eine ganze Weile bei Temperaturen unter null herumgestanden haben, gefroren haben wir auch nicht, die Spannung hat uns innerlich gewärmt.
Der Rotte nachzupirschen, hat keinen Sinn. Siebenmeilenstiefel haben wir nicht. Die schlaue Bande ist sicher schon über alle Berge und sucht sich sichere Einstände. Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiterzulaufen. Wieder passieren wir ein Feld und gelangen dann in einen neuen Kiefernbestand, der allerdings erst 60 Jahre alt sein mag.
Als wir schon den Kahlschlag am Ende des Holzes durchschimmern sehen können, vernehmen wir erstmals unseren ersehnten Leitruf, das »Kuwitt – Kuwitt« des Kauzes. Da müssen wir näher heran. Vielleicht treiben sich Sauen auf der Freifläche herum. Doch die Enttäuschung ist groß, der Kahlschlag entpuppt sich als undurchdringliches Getöse von allerlei Sträuchern und Unterwuchs, in der keine Kreatur zu erblicken ist. Wir trösten uns: »Vielleicht ist dort auch nur Rehwild gezogen, und die Käuzchen sind deshalb mobil geworden.«
Mittlerweile sind wir schon zwei Stunden unterwegs, die Beine sind noch nicht müde, und so beschließen wir, eine Stunde dranzuhängen. Wir wollen uns nicht mit dem Misserfolg zufriedengeben. An nicht allen Tagen sind die Bedingungen für eine Waldpirsch so günstig, und das wollen wir tunlichst bis zur Neige auskosten. Die Stunde vergeht wie im Flug. Hier und da schreckt mal ein Stück Rehwild, doch sonst ist von Wild, geschweige denn von unseren Schwarzen, nichts zu sehen oder zu hören. »Lass uns zum Abschluss noch mal zu dem kleinen Eichenbestand an der Birkenkoppel gehen, vielleicht haben die Burschen ja Schmacht, und dann kann ich mir vorstellen, dass dort für sie der Tisch gedeckt ist«, meint Hartmut, und nur zu gern bin ich einverstanden, dass wir auf unserem Rückweg diesen kleinen Schlenker auf uns nehmen.
Als wir 200 Meter von der kleinen Eichenpartie entfernt sind, vernehmen wir zu unserer Freude schon unseren Freund, den Waldkauz. Er verkündet uns mit seinem freundlichen Ruf, dass hier was los ist. Jetzt nur nichts falsch machen; vorsichtig, vorsichtig pirschen wir näher, überzeugen uns, ob der Wind stimmt. Der Weg ist eben und verspricht uns, ohne Hindernisse dort hinzuführen, wo unsere momentanen Träume augenscheinlich ihr Wesen treiben. Also Füße abrollen, Schritt für Schritt, möglichst kein Geräusch der Lederstiefel verursachen, aufpassen, dass unser schöner Bambusstock nicht ans Glas oder die Waffe stößt und uns die Partie verdirbt.
Jetzt sind wir auf 150 Meter heran und können gut ausmachen, dass unter den Eichen was los ist. Nicht beirren lassen. Wir müssen auf...