2 Theoretische Überlegungen: Case Management und Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII
2.1 Case Management-Theorie und Implementierung im Jugendamt
Von Peter Löcherbach und Hugo Mennemann
2.1.1 Einführung
Der Handlungsansatz Case Management wird, auch wenn er in Deutschland schon seit Jahrzehnten bekannt ist, immer noch und immer stärker diskutiert. Die Befürworter schätzen ihn als eine der wichtigsten Innovationen im Sozial- und Gesundheitswesen ein, Kritiker sehen in ihm ein neoliberales Instrument, das im Wesentlichen Sparzwänge legitimieren soll. Auch im Feld der Jugendhilfe findet diese Auseinandersetzung statt; nicht immer in fachlichem Diskurs, wie das folgende Beispiel zeigt:
„Wenn Wörsdörfer da steht, auf dem Balkon vor seinem Büro, und immer neue Zigaretten dreht, um nicht aufhören zu müssen mit dem Reden, dann spürt man, dass sich etwas in ihm angestaut hat. Diese wachsende Entfremdung vom Beruf nagt an ihm. ‚Case-Manager‘, sagt Wörsdörfer verächtlich. ‚Wer mich so nennt, der kriegt eine Verleumdungsklage.“ (Die Zeit vom 21.05.2007).
Das Zitat stammt aus einem Frontbericht aus Berlin-Wedding, wo „Case-Manager“ den Sozialarbeiter ersetzen sollen. Der Bericht trägt den Titel „Die verhinderten Retter vom Jugendamt“ (Blasberg 2007). Es stehen sich mit dem Manager, dem früheren Jugendamtsleiter und jetzigen Stadtrat Fritsch, mit „vergoldetem Druckbleistift und Blackberry“ und dem „alten Idealisten“ Wörsdörfer (O-Ton) zwei Protagonisten gegenüber. Auf der einen Seite die kalte Organisation:
„In Deutschland arbeiten gerade rund 600 Jugendämter daran, sich zu verschlanken, und fast alle suchen ihr Heil in der Privatisierung, in standardisierten Abläufen und Checklisten. Man ahnt, dass die meisten dieser Ideen Sparvorschläge sind im Gewand der Modernisierung, und vielleicht muss die Gesellschaft eine grundsätzliche Antwort finden auf die Frage, wie viel ihr der Schutz von Kindern wert ist.“
Auf der anderen Seite steht der klientenorientierte, aufopfernde Sozialarbeiter:
„Wörsdörfer ist der Einzige aus seinem Team, der hier im Wedding wohnt. Vor ein paar Tagen schob er sein Rennrad durch das Viertel, und zu jedem zweiten Haus fiel ihm eine Geschichte ein.“
Neben solchen Frontberichten und Magazinbeiträgen (der Stern berichtete über das Case Management in Bremen im Fall „Kevin“), gibt es demgegenüber fachlich interessante Auseinandersetzungen: Die Zeitschrift Soziale Arbeit widmete dem Case Management ein kritisches Sonderheft (DZI 2007) und die Reaktionen darauf beleben den Diskurs (Wissert 2008; Funk 2008). Insgesamt fällt auf, dass häufig ein sehr verkürztes Verständnis von Case Management erörtert wird und die aufgeführten praktischen Beispiele, außer dass sie den Namen Case Management verwenden, weder in der Implementierung noch in der Umsetzung dem Case Management-Ansatz, so wie er konzipiert ist, entsprechen. Es ist, wie W. R. Wendt schon vor Jahren treffend formuliert hat, „nicht überall Case Management drin, wo Case Management drauf steht“. Es handelt sich häufig um sogenannte „Eye-Catcher-Modelle“, also schlichte Umbenennungen der Praxis fürs Auge: Für das Image nach außen werden Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen „über Nacht“ zu Case Managern (Löcherbach 2003). Dabei zeigt die Praxis sehr deutlich, wie notwendig ein fachliches Case Management für junge Menschen und Familien in der Jugendhilfe wäre, die mit vielfältigen Problemen befasst sind, und an welcher Stelle eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit dringend geboten wäre (Stern 39 / 2008). Es geht dabei nicht nur um Erziehungsprobleme, sondern gleichzeitig auch um materielle Sorgen (Wohnung, Einkommen, Versicherung, Arbeit), um ein Zurechtkommen in der Lebensführung im Alltag und es geht um die Nutzung von informellen und formellen Netzwerken.
Der fachliche Diskurs um das Case Management muss geführt werden, indem das Konzept und seine Anwendungen kritisch reflektiert werden.
2.1.2 Der Handlungsansatz Case Management
Unter Case Management wird eine Vorgehensweise organisierter, bedarfsgerechter Hilfeleistung in Sozial- und Gesundheitsdiensten verstanden, die den Fokus auf den aktuellen Versorgungsbedarf von Klienten (Klienten- und Angehörigensystem) richtet, die mit multiplen Belastungen konfrontiert sind. Über einen definierten Zeitraum und quer zu bestehenden Zuständigkeiten von Einrichtungen, Dienstleistungen und Ämtern wird mit den Beteiligten die notwendige Unterstützung, Behandlung, Betreuung und Versorgung abgestimmt. Dies setzt voraus, dass die erforderlichen Formen der Hilfe professionell geplant, implementiert und evaluiert werden und die Akteure für diese Form der sektorenübergreifenden Netzwerkarbeit entsprechend qualifiziert sind. Im Vordergrund des Handlungsansatzes Case Management stehen die fachgerechte Koordination des Klienten- und Angehörigensystems und seiner sozialen Netzwerke sowie eine möglichst effiziente Form der Steuerung der Hilfeleistungen. Im Sinne einer verbesserten Förderung des Selbstmanagements wird mit den Beteiligten die notwendige Unterstützung, Behandlung und sektorübergreifende Basisversorgung abgestimmt, um deren Autonomie zu stärken und das Verbleiben im gewohnten Lebensumfeld so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.
Case Management in der Jugendhilfe ist angebracht, wenn eine komplexe zeitlich andauernde Problembewältigung zu besorgen ist, die zudem individuell angemessen sein soll.
Der Zweck eines Case Managements besteht also darin, dass „die Person oder Personengruppe, die gemäß des Handlungskonzeptes Case Management begleitet, unterstützt, beraten und versorgt wird, in Absprache gemäß ihres Bedarfs aufeinander abgestimmte Leistungen [erhält].“ (DGCC 2008, 3) Die Bezeichnung „Bedarf“ wird hier umfassend verwandt. Sie schließt sowohl den „subjektiven“ Bedarf seitens des Klienten (-systems) ein als auch den „objektiven“ Bedarf, der die fachlich-professionelle Sicht und ggf. wissenschaftlich bestätigte Inhalte umfasst.
Die Rahmenempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) weisen spezifische Merkmale des Case Management-Prozesses bzw. -Handlungsablaufs aus:
Ausrichtung am Einzelfall,
Steuerung der Hilfeleistungen im regionalen Versorgungsgefüge „aus einer Hand“,
Transparenz des Verfahrens,
Subsidiarität der Versorgung,
aufeinander abgestimmte Hilfeleistungen,
Sicherung einer kontinuierlichen und bedarfsgerechten Versorgung.
Und sie begründen einen Qualitätsanspruch für die Anwendung von Case Management:
Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Professionen, Netzwerken und Sektoren der Versorgung sollen überwunden werden,
Fehlallokationen, Über- und Unterversorgungen sowie unnötige Belastungen des Adressaten- / Klientensystems sollen vermieden werden,
die einzelfall- und adressaten- / klientenbezogene Ausrichtung aller Unterstützungsleistungen soll die Hilfe effektiv und (mittelfristig) effizient aus gesamtwirtschaftlicher Sicht gestalten,
Egoismen von Leistungs- und Kostenträgern sollen überwunden werden,
Hilfeleistungen sollen adressaten- / klientenbezogen und nicht professions-, leistungsträger-, kostenträger- oder einrichtungsbezogen gegeben werden. (DGCC 2008, 3 ff)
Das Spezifische von Case Management kann daher definiert werden als die besondere Funktion, Arrangements von effektiven und effizienten (Human-) Dienstleistungen zu initiieren und zu gestalten.
Case Manager / innen sind damit Experten für eine bedarfsorientierte und -gerechte Planung und Steuerung von Hilfeprozessen und -leistungen (eine Einführung in das Case Management in der Jugendhilfe geben Neuffer 2002 und Remmel-Faßbender 2006a).
Wieso managen?
Nicht nur in der Jugendhilfe – aber hier besonders – wird dem Begriff des „Managers“, des „Managens“ nicht getraut. Warum managen und was soll gemanagt werden? Mit managen ist die geschickte Handhabung von (nicht trivialen) Vorgängen gemeint, wobei von einem Ausgangszustand zielstrebig auf einen Sollzustand hingearbeitet wird. Das erfolgreiche Zusammenwirken der hierzu benötigten Komponenten wird managerial organisiert, geplant und kontrolliert durchgeführt. So organisiert ein Case Manager Abläufe vernünftig, klärt Zuständigkeiten, sorgt für „prozedurale Fairness“ (Wendt 2008a, 79) und Transparenz im Verfahren. Case Manager / innen fordern und fördern Zusammenarbeit zur Integration diverser Dienstleistungen und legen Rechenschaft über den gesamten Ablauf ab.
Wie managen?
Case Management in der Jugendhilfe ist ein Unterstützungsmanagement. Die Unterstützung erfolgt durch Verknüpfung informeller Hilfen und formeller Versorgung für eine Person oder Familie im Rahmen der Selbstsorge. Das Selbstmanagement wird für bestimmte Belange (eben fallweise) durch den Case Manager ergänzt oder ersetzt. Dabei wir nicht die Person oder Familie zum „Fall“ (sie kann und soll eben nicht gemanagt werden), sondern es wird in gemeinsamer Bearbeitung geklärt, was der Fall (die zu regelnde Situation) ist. Case Manager / innen bedienen sich methodisch des Regelkreises im Case Management und arrangieren auf der Grundlage des Assessments die Hilfeprozesse.
Wo managen?
Dies geschieht auf der Mikroebene unter Berücksichtigung der Erfordernisse der...