3 Das Leben ist kein Zeichentrickfilm – die Suche nach Gesetzmäßigkeiten im Case Management
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In Kapitel 2 ist deutlich geworden, dass im Rahmen der Anwendung einer Methode – auch und insbesondere im Case Management – (1) die methodisch kontrollierte Beschreibung von Fakten, (2) die Entwicklung von Beschreibungs- und Erklärungstheorien sowie (3) die Entwicklung von Verfahren zur Erreichung praktischer Ziele auf der Grundlage systematischer Theorien (vgl. Bunge 2003, Staub-Bernasconi 2007, 2017) erfolgt.
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Dieses Kapitel will insbesondere auf Punkt 2 – Entwicklung von Beschreibungs- und Erklärungstheorien – ausführlicher eingehen, da meine Lehr- und Referententätigkeit im CM-Bereich zeigt, dass gerade dieser Punkt – insbesondere in der CM-Beratung – oft zu kurz kommt, alltagstheoretisch oder intuitiv gelöst wird oder gar ausgeblendet wird. Dabei kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Phase einen Schritt hin zum „langsamen Denken“ bedeuten und gerade die Problemlösung sehr fördern. Der Begriff des „langsamen Denkens“ ist dem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ des Wirtschaftsnobelpreisträgers von 2002, Daniel Kahneman (2014), entliehen. Kahneman – einer der einflussreichsten Psychologen unserer Zeit – vertritt darin die Auffassung, dass wir bei unseren Handlungen von zwei Systemen geleitet werden: einem System des „schnellen Denkens“ – einer fast intuitiven Erfassung und Deutung von Fakten – und einem weiteren System des „langsamen Denkens“, das einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt am ehesten nahekommt. Meine These in diesem Kapitel ist: Von diesem „langsamen Denken“ – insbesondere im Rahmen der Beratung und des Reflektierens darüber – können wir sehr profitieren.
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Bevor wir uns jedoch dieser These annähern, ist zu klären, was überhaupt unter einer (wissenschaftlichen) Theorie zu verstehen ist. Eine wissenschaftliche Theorie wird insbesondere im systemtheoretischen Ansatz nach dem kanadisch-argentinischen Wissenschaftler Mario Bunge als System von Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten in der Entstehung, beim Aufbau und im Verhalten einer bestimmten Art von Dingen definiert. Eine Gesetzmäßigkeit ist hierbei eine invariante Beziehung zwischen Eigenschaften der betreffenden Dinge oder Systeme (vgl. Bunge 2003, S. 293).
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Mit anderen Worten: Unser Leben ist kein Zeichentrickfilm – weder erscheinen die Dinge aus dem Nichts noch verschwinden sie irgendwohin, ohne Spuren zu hinterlassen. Es ist z. B. schlichtweg unmöglich (oder zumindest sehr unwahrscheinlich), von einer großen Höhe zu fallen, sich anschließend aufzusammeln oder sich ins Unendliche zu dehnen etc. Es sind diese und ähnliche Dinge, über die wir in einem Zeichentrickfilm lachen, weil wir insgeheim wissen, dass sie nicht unserer Realität entsprechen und nicht wie gezeigt funktionieren. Auch wenn etwas Ungewöhnliches passiert, bilden wir unweigerlich eine Theorie darüber, warum es passiert. Anders ausgedrückt: Sobald wir uns die Frage nach dem „Warum“ stellen, entwickeln wir immer eine (Alltags-)Theorie als System von Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten in der Entstehung, dem Aufbau und im Verhalten einer bestimmten Art von Dingen oder Menschen. Angenommen, Sie stehen an einer Ampel und jemand geht bei Rot über die Straße. Wenn Sie aufmerksam beobachten, werden Sie sich fast unweigerlich die Frage stellen: „Warum tut dieser Mensch das?“ Fast ebenso unweigerlich werden Sie eine Hypothese aufstellen: Er/sie hat es eilig, er/sie akzeptiert keine Regeln etc. Somit wird eine Theorie aufgestellt, deren Wahrheitsgehalt erst durch einen empirischen Test (z. B. durch ein Interview mit den Betroffenen) bestätigt (verifiziert) oder widerlegt (falsifiziert) werden kann oder könnte.
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Übertragen wir dies nun auf eine Beratung im Case Management, heißt das:, Sie werden sich bei einem/r Klient_in, die/der z. B. verbal dem Hilfeplan zwar zustimmt, aber die anvisierte Hilfe de facto ablehnt, (unweigerlich) fragen, warum er/sie das tut (selbst wenn der Phase der Erklärung nicht bewusst Platz eingeräumt wird). Sie werden vielleicht sogar (bewusst oder unbewusst) Hypothesen formulieren, die als Antworten auf diese „Warum“-Frage gelten können. Und diese hypothetischen Antworten werden den entsprechenden Beratungsprozess vielleicht beeinflussen. Es wäre besser, dieses Phänomen bewusst und reflektiert anzugehen, denn wenn Sie das unausgesprochen tun, ist die Gefahr groß, dass Sie Ihre Annahmen/Hypothesen weder empirisch (z. B. durch Nachfragen) noch gezielt überprüfen, infolgedessen etwas Falsches vermuten und sogar die nächsten Handlungsschritte ausgehend von unzutreffenden Annahmen planen, womit Sie Ihre Klient_innen und sich selbst in eine missliche Lage bringen können. Anders gesagt: Diejenigen, die behaupten, eine Theorie sei wertlos und die Praxis die Lösung aller Probleme, übersehen die Tatsache, dass wir eigentlich gar nicht theorielos agieren können: Wir haben nur die Wahl zwischen dem „schnellen“ (unreflektierten, alltagstheoretischen) und „langsamen“ (wissenschaftlich fundierten) Denken.
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Es ist sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass wir in einer Welt voller Gesetzmäßigkeiten leben und diese einen Einfluss auf uns und unsere Klient_innen – auch in der CM-Beratung – ausüben, ob wir es wollen oder nicht. Dieses Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der Welt kann für einen CM-Beratungsprozess noch ein Stück besser nutzbar und konkreter gemacht werden. Dem liegt eine Typologie der Gesetzmäßigkeiten zugrunde, die im Folgenden genauer dargelegt wird. Es besteht durchaus ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass es folgende Typen von Gesetzmäßigkeiten gibt: Kausalität, Wechselwirkungen, stochastische Prozesse (Zufall und Wahrscheinlichkeit) sowie Teleonomie (Steuerung der Organismen über Ziele) (vgl. Bunge 1967, S. 132 ff.; Bunge 2003). Alle diese Typen von Gesetzmäßigkeiten können sich sowohl auf die gesamte Realität (physikalische, biologische, psychische, soziale und kulturelle Systeme) als auch auf menschliches Handeln beziehen. Auch und gerade in der CM-Beratung erlaubt uns diese Typologie, Aussagen über Gesetzmäßigkeiten zum Zusammenhang zwischen menschlichen Intentionen, Handlungen und deren Folgen zu machen (Bunge 1967, S. 135 f.). Im Folgenden werde ich auf die einzelnen Typen von Gesetzmäßigkeiten eingehen und anhand von Beispielen aufzeigen, was diese für einen Beratungsprozess im Case Management bedeuten können.
3.1 Kausalität
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Die Gesetzmäßigkeit der Kausalität ist weithin bekannt – jede/r von uns hat schon einmal von „Ursache und Wirkung“ gehört: Bereits Kleinkinder bilden in ihrer Argumentation Kausalketten, indem sie begründen, was woraus folgt. In der Realität können die kausalen Beziehungen durchaus komplex sein und zu ganzen Kausalketten (A bewirkt B, B bewirkt C, C bewirkt D etc.) anwachsen. Dazu ein reales Beispiel aus der Praxis: Eine Frau aus Slowenien immigriert nach Österreich (A), ihr Abschluss als Diplom-Sozialarbeiterin wird in Österreich jedoch nicht anerkannt (B); dies bewirkt, dass sie bei einem Lebensmitteldiscounter arbeiten muss, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen (C). Das führt wiederum dazu, dass sie mit ihrer beruflichen Situation unzufrieden ist und erste depressive Symptome entwickelt (D). Dies hat zur Folge, dass sie sich vermehrt – auch länger – krank meldet (E). Der Arbeitgeber signalisiert daraufhin ihr gegenüber seine Unzufriedenheit (F). Damit endet die kausale Beschreibung der Vergangenheit, und für gewöhnlich frage ich an dieser Stelle meine Studierenden, was ein nächster realistischer kausaler Schritt sein könnte – mit anderen Worten bitte ich sie, aufgrund der bisherigen Kausalkette eine Prognose abzugeben. Es ist nicht schwer abzuschätzen, dass die Gefahr besteht, dass diese Frau ihren Arbeitsplatz verlieren wird (auch wenn eine Kündigung nur aufgrund längerer Krankheit arbeitsrechtlich schwierig durchzusetzen wäre). Ganz abgesehen davon, wie sich der Fall tatsächlich entwickeln wird, macht dieses Beispiel deutlich, dass über die Betrachtung der Gesetzmäßigkeit der Kausalität nicht nur die Zusammenhänge erkannt werden, sondern sogar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Prognose geschärft wird, sodass man in der Folge dem Vorhersehbaren entgegensteuern kann. Ein anderer Aspekt ist die Fülle der Handlungsoptionen, die sich aus einer solchen Betrachtung im Beratungsprozess ergeben können: Sie eröffnet die Möglichkeit, an jedem Punkt der Kausalkette anzusetzen. Diese Frau könnte z. B. – wie es nicht wenige Migrant_innen tun – in ihr Land zurückkehren. Oder es kann gemeinsam darauf hingearbeitet werden, dass sie ihren akademischen Abschluss anerkannt bekommt. Oder es kann nach einer Beschäftigung gesucht werden, die ihren Neigungen und Fähigkeiten eher entspricht. Auch gibt es die Option, sich fachgerecht mit ihren depressiven Stimmungen auseinanderzusetzen. Manche von diesen denkbaren Interventionen sind sogar parallel möglich und ergänzen sich in ihrer positiven Wirkung. Es wird deutlich, dass eine Analyse der Ursache-Wirkungs-Ketten weitaus mehr bedeutet als nur eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder mit der Frage nach dem „Woher“. Durch eine von Gesetzmäßigkeiten geleitete Analyse der Vergangenheit setzen wir uns in der CM-Beratung auch mit einer wahrscheinlichen Zukunft (Prognose) auseinander und erhalten mannigfaltige Handlungsoptionen.
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Nun wird in der Wissenschaft – teilweise zu Recht – postuliert, dass...