Warum
Wurm-Würgen
die schlechtere
Lösung ist
Es gibt viele Gründe, warum die Selbstkontrolle eine suboptimale Form des Selbstmanagements darstellt. Zum einen ist die Selbstkontrolle extrem fehleranfällig. Der Verstand, der die Kontrolle über den Wurm ausübt, ist nämlich ein hochsensibles Instrument, das, gleich einer Operndiva, höchst störungsfreie Arbeitsbedingungen braucht, um funktionsfähig zu sein. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen dazu, wann die Verstandeskontrolle versagt und der Wurm gewinnt. Im folgenden dazu eine gut verständliche Zusammenfassung.
Wann der Wurm gewinnt
Wenn Sie viel um die Ohren haben
Das Kind ist krank, der Stromableser hat sich angemeldet, und das Auto muss in die Werkstatt. Das alles haben sie noch halbwegs im Griff. Dann ruft aber noch die Steuerberaterin an und sagt, dass sie mittags die unterschriebenen Belege für die Reisekosten braucht, damit die Steuererklärung fristgerecht eingereicht werden kann. Wie Sie das Telefon auflegen, sehen Sie Ihre Katze auf den Teppich kotzen. Spätestens jetzt ist es aus mit der Selbstkontrolle, der Wurm reißt sich los und macht, was er will. Falls Sie zum Beispiel ihren Wurm mit dem Vorsatz, auf Schokolade zu verzichten, gewürgt haben, dann entledigt er sich angesichts der sich übergebenden Katze mit einem Ruck seiner Fesseln und verleibt sich das Quantum Schokolade ein, das ihm, wie er meint, zusteht.
Bei zuwenig Erregung
Auch wenn Sie gelangweilt, träge oder unterfordert sind, hat der gewürgte Wurm ruckzuck die Regierungsgewalt. Um arbeiten zu können, braucht der empfindliche Verstand ebenso ein bestimmtes Erregungsniveau wie ein Motor den Treibstoff. Wenn dieses Erregungsniveau nicht garantiert ist, versagt er und damit die Selbstkontrolle. Wenn das Leben nicht genug Aufregung und Antriebsstoff für einen Menschen bereithält, hat der Verstand nicht genug Kraft, um Selbstkontrolle auszuüben. So etwa bei einem Jugendlichen, der arbeitslos geworden ist und es nicht schafft, sich aufzuraffen und in irgendeiner Form tätig zu werden. Der Wurm macht, was er will, was dazu führt, dass der junge Mann den lieben langen Tag auf dem Sofa abhängt und Schrottsendungen im Fernsehen schaut, anstatt sich zu bewerben. Aber Vorsicht! Das Ausmaß an Erregung muss wohl dosiert sein, denn:
Bei zuviel Erregung
reißt sich der Wurm genauso los und macht, was er will. Sie sind nervös, ärgerlich, gereizt, frustriert oder aufgeregt? Der Wurm wittert seine große Chance. Zuviel Erregung wird übrigens nicht nur durch negative Gefühle hervorgerufen, sondern auch durch ein Übermaß an guten Gefühlen. Wenn Sie euphorisch sind, weil Sie den Traumjob ergattert, die Zusage für den Immobilienkauf bekommen haben oder der Lotto-Jackpot von Ihnen geknackt wurde, bricht die Verstandeskontrolle mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen und Ihr Wurm erobert sich die Freiheit.
Bei starken Reizen
hat es der Verstand ebenfalls schwer, die Kontrolle zu behalten. Viele, die versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, kommen irgendwann mal auf den Trick, keine Zigaretten mehr einzukaufen. Gleiches gilt für den Umgang mit Alkohol oder mit Süßigkeiten. Wenn die Pralinen im Hause sind, dann schnappt sich der Wurm, was ihm gehört. Irgendwann, vielleicht nicht sofort. Er wartet ab, bis die Verstandeskontrolle geschwächt ist. Ein ärgerliches Telefongespräch genügt da schon.
Bei mangelnder Befriedigung von Basisbedürfnissen
wird der Wurm zum König und hat die Oberhand über den Verstand. Was sind Basisbedürfnisse? Hierzu zählen einmal körperliche Bedürfnisse wie genug zu Essen und zu Trinken zu haben, genug Schlaf, genug Sex. Es gibt aber auch psychologische Bedürfnisse, wie genug Zeit für sich alleine, genug Abwechslung, genug Sozialkontakte. Auch das Bedürfnis nach Anerkennung, das Bedürfnis nach Entscheidungsfreiheit und Autonomie zählen zu den Basisbedürfnissen. Das Bedürfnis nach Sinn gehört ebenfalls dazu, das vielen Menschen zwar nicht unbedingt bewusst ist, das aber, wenn es unerfüllt bleibt, ein nagendes Mangelgefühl verursachen kann.
Mangelnde Selbstkontrolle
Wenn Sie diese Liste einmal auf sich wirken lassen, dann werden Sie unschwer bemerken, dass es im ganz normalen Alltag, in dem wir alle ständig leben, von Ausbruchsgelegenheiten für den Wurm nur so wimmelt. Wer hat schon Lebensumstände, in denen alle Bedingungen, die der Verstand braucht, um seine Arbeit durchzuführen, optimal erfüllt sind? Niemand. Aus der Sicht des Wurms heißt das: Im ganz normalen Alltag findet er jede Menge Möglichkeiten, sich die Ketten vom Leib zu reißen, sich die Königskrone aufzusetzen und seine Arbeit zu tun. Der Wurm will seinem Besitzer oder seiner Besitzerin Unangenehmes ersparen und viel Angenehmes ermöglichen. Und zwar für den aktuellen Moment, für das Hier und Jetzt. Dies ist die Aufgabe des Wurms, und die erfüllt er mit großer Zuverlässigkeit.
Es gibt viele Gründe, warum Selbstkontrolle eine ungünstige Form des Selbstmanagements darstellt.
Ob Sie es glauben oder nicht, es gibt noch mehr Gründe, warum Selbstkontrolle eine ungünstige Form des Selbstmanagements darstellt. In der Liste, die ich eben erläutert habe, sind fünf Gründe dargestellt, die dazu führen können, dass die Selbstkontrolle zusammenbricht. Nun gibt es aber auch Personen, denen Selbstkontrolle gelingt, selbst wenn ihr Alltag mit Beispielen wie den oben genannten gespickt ist. Jeder von uns kennt solche Menschen, deren Willenskraft aus Stahl zu sein scheint. Sie ziehen ihre Pflicht durch, koste es, was es wolle. In diesen Fällen ist der Wurm chronisch gewürgt. Er liegt dauerhaft an der Kette und hat darum schon völlig vergessen, wie das freie Leben schmeckt. Diese Form der chronischen Selbstkontrolle ist jedoch gefährlich! Es gibt zuverlässige psychologische Verfahren, mit denen man das Ausmass an Selbstkontrolle, das jemand über sich selbst verhängt hat, messen kann. Und die Forschungsergebnisse zeigen, dass Depressionen, Zwangserkrankungen, Burnout-Syndrome und Essstörungen mit einem zu hohen Maß an Selbstkontrolle einhergehen.
Zuviel Selbstkontrolle macht krank
Wer jedoch den Wurm die meiste Zeit im Würgegriff hat, der lebt gefährlich.
Selbstkontrolle ist eine gut geeignete Methode, um kurzfristige Aktionen durchzuführen, die der Wurm nicht will. Wenn Sie ihr Würmli einmal im Jahr an der Würgeleine zum Zahnarzt schleppen, dann werden sie davon sicher nicht depressiv. Und wer sich am 75. Geburtstag von Tante Klothilde am Riemen reißt, sich in den Anzug wirft und einen Tag mit der buckligen Verwandtschaft verbringt, bekommt davon kein Burnout-Syndrom. Wer sich jedoch in einem Leben wiederfindet, in dem der Wurm die meiste Zeit im Würgegriff nach Luft schnappt, der lebt gefährlich. Ich hatte und habe Menschen in meinen Seminaren, die an dieser Stelle aufstöhnen: «Aber bei mir würgt es schon den Wurm, wenn ich am Sonntagnachmittag nur an die Arbeit am Montag denke!» Die Anzahl dieser Personen ist nicht klein, das kann ich Ihnen versichern. In solch einem Fall muss in der Tat dringend etwas unternommen werden. Kurzfristig gewürgt zu werden verträgt der Wurm. Langfristig und dauerhaft an der Kette, das hält er nicht aus, so robust ist er nicht.
Die Faustregel für ein Leben in Zufriedenheit und Gesundheit lautet darum: Zwei Drittel Ihres gesamten Lebens müssen Sie in der Selbstregulation, das heißt, mit freiem Wurm leben. Ihnen steht ein Lebensbudget von einem Drittel gewürgter Wurm zur Verfügung, mehr ist nicht drin. Und das ist ein Anfängerbudget, das möchte ich betonen. In meinem Leben ist das Verhältnis 9/10 freier Wurm zu 1/10 gewürgter Wurm. Ich arbeite allerdings schon 20 Jahre mit dieser Methode. Die Verschiebung hin zu einem immer wurmgerechteren Leben geschieht von ganz alleine, wenn man damit erst mal begonnen hat.
Kürzlich kam ich auf einer Tagung beim Abendessen mit einem Kollegen ins Gespräch. Ich hatte einen Vortrag über den Wurm gehalten. Er war bei diesem Vortrag nicht anwesend, hatte aber in den Pausengesprächen schon viel über das Würmli gehört. «Sind Sie diese Kollegin, die in ihrem Vortrag das Lob der Faulheit singt?» fragte er mich leutselig. Ich kenne dieses Missverständnis und bin froh, wenn ich die Gelegenheit bekomme, es zu korrigieren. Eine beliebte Frage aus dem Publikum in den Diskussionsrunden, die oft an meine Vorträge anschließen, geht in dieselbe Richtung: «Wo kämen wir denn da hin, wenn alle nur noch das tun würden, was der Wurm will? Dann würde unsere Gesellschaft ja zusammenbrechen!» Die Antwort lautet: Die 2/3- zu 1/3-Regel hat nichts damit zu tun, unüberlegt, hemmungslos und egoistisch zu handeln.
Im Hinblick auf die Zusammenarbeit des Verstandes mit den Signalen des Würmli, die in der Wissenschaft «somatische Marker» genannt werden, lässt sich ein Koordinatensystem aufzeichnen. Die Selbstregulation, die gesündeste Form des Selbstmanagements, befindet sich im mittleren Bereich. In diesem Bereich arbeiten Verstand und Wurmsystem optimal zusammen. Wenn der Verstand die Kontrolle über das Leben hat, dann wird ein Zustand von Überkontrolle erzeugt, dieser Zustand macht auf Dauer krank, und das Leben verliert an Freude. Menschen, die jedoch nie gelernt haben, dass man ein Würmli auch in die Schranken weisen kann, befinden sich in einem Zustand der Unterkontrolle. In der Sozialpädagogik etwa hat man es oft mit Jugendlichen zu tun, die sich im Zustand der Unterkontrolle befinden. Ihr Würmli hat die...