II Gerechtigkeitsdimensionen schulischer Bildung im Spiegel ausgewählter Dimensionen
1. Zur Integrationskraft der Schulsysteme
Die Gerechtigkeitsdimension der Integrationskraft gibt im Folgenden darüber Auskunft, wie gut es den Schulsystemen gelingt, Schüler systemspezifisch und sozial zu integrieren. Hierfür werden zwei zentrale Gesichtspunkte gesondert behandelt: die Integration von Schülern mit besonderen Förderbedarfen in das Regelschulsystem sowie der Ausbaustand und die Nutzung von Ganztagsangeboten. Im Vordergrund stehen also die Fragen, inwieweit alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihren besonderen Förderbedarfen mit- und voneinander lernen können und unter welchen schulischen Rahmenbedingungen dies geschieht.
Die Teilhabe am Regelschulsystem stellt rein strukturell die Möglichkeit der Begegnung aller Kinder dar. Im gegensätzlichen Fall der Exklusion wird der separiert beschulten Gruppe von Kindern und Jugendlichen die Begegnung mit anderen als Möglichkeit des Erfahrens kollektiver Lernprozesse (Miller 1986) und auch die Chance auf umfängliche Enkulturationsangebote des Schulsystems verwehrt. Diese Perspektive lenkt den Blick auf die Schulsysteme hinsichtlich ihrer Integrationskraft bezogen auf die Anteile der inklusiven und exklusiven Beschulung sowie grundsätzlich auf die Diagnosepraxis, also in welchem Ausmaß ländervergleichend überhaupt der besondere (sonderpädagogische) Förderbedarf attestiert wird. Berührt wird mit diesen Indikatoren auch die derzeit politisch hochaktuelle Agenda zur Notwendigkeit der gemeinsamen Beschulung, wie sie in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BMAS 2011) gefordert wird.
Die Schaffung und Nutzung ganztägiger schulischer Angebote stellt – so die Annahme – insofern eine soziale Form der Integration dar, als hier durch den schulischen Ganztag, der gegenüber der halbtägigen Beschulung einen Zeitvorteil hat, spezifische Erfahrungssettings bereitgestellt werden können, die auch die Einbindung anderer gesellschaftlicher Enkulturationsangebote berücksichtigen (z. B. durch die Kooperation mit Vereinen, Wirtschaft etc.). Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive kann zudem in der Entwicklung von und der Entfaltung in persönlichen Kontakten (die der ganztägige Raum zusätzlich zur Halbtagsbeschulung potenziell bereithält) eine wesentliche Form der Anerkennungserfahrung gesehen werden. Zudem ist anzunehmen, dass durch die Teilnahme an ganztägiger Beschulung auch curricular nicht festgesetzte Fähigkeiten wie kulturelle und politische Teilhabe weiterentwickelt werden.
Zwar können mit den hier verwendeten Indikatoren zu Angebot und Nutzung des Ganztags keine Aussagen zur erfahrbaren Qualität des Miteinanders getroffen werden – dies ist Aufgabe von Einzelfallstudien dennoch weisen die verwendeten Indikatoren darauf hin, inwiefern zusätzliche Räume für die Prozesse individuellen und kollektiven Lernens zumindest geboten werden.
1.1 Besondere Förderbedarfe und Beschulungsformen
Prinzipiell sehen die differenzierten bundesdeutschen Schulsysteme die Beschulung von Schülern mit besonderem Förderbedarf innerhalb des Förderschulwesens vor,12 welches nach unterschiedlichen Förderschwerpunkten gegliedert ist. Das Förderschulsystem bildet in Deutschland neben dem System der Regelschule noch einmal ein in sich differenziertes System. Durch die föderale Strukturgegebenheit emergieren je nach Bundesland unterscheidbare Infrastrukturen, Selbstverständnisse und Praktiken des Förderschulwesens – dies drückt sich unter anderem in den deutlich unterschiedlichen Exklusionsquoten der Länder aus, also den Anteilen der Schüler, die je nach Bundesland eine Förderschule besuchen.
Auf bildungspolitischer Ebene sind Bemühungen der Länder erkennbar, den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (BMAS 2011) zu entsprechen. Durch deren Ratifikation im Jahr 2009 muss auch Deutschland durch inklusive Beschulung für die Integration aller Schüler Sorge tragen. Die Zielsetzung der Konvention sieht den Ausbau des gemeinsamen Lernens von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung vor, in Anerkennung der vollen und wirksamen Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft sowie der Wahrung von »Chancengleichheit« (ebd.). Zu dieser Herausforderung haben sich die Länder innerhalb des Beschlusses der Kultusministerkonferenz von 2010 öffentlich bekannt (KMK 2010a). Hier äußert die KMK pädagogische Empfehlungen, die sich am Grundsatz der Inklusion orientieren, die als ein umfassendes Konzept des menschlichen Zusammenlebens definiert wird und für den schulischen Bereich einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle bedeutet. Jedoch ist zu konstatieren, dass die Kultusministerkonferenz den Inklusionsbegriff nicht in ähnlich konsequenter Weise formuliert, wie dies die UN-Konvention tut. Stellt die KMK gemeinsames Lernen sehr zurückhaltend als »Anliegen« der Bildungspolitik dar, für dessen Konzeptentwicklung es gilt, »so weit wie möglich offen zu sein« (ebd.: 7), fordert die UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 24 das Recht von Menschen auf Bildung ein und postuliert seine Gewährleistung durch ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen.
Die folgenden Analysen beziehen sich auf drei Indikatoren: die Förderquote, den Inklusionsanteil sowie die Exklusionsquote. Die Förderquote gibt den Anteil der Schüler mit besonderem Förderbedarf an allen Schülern im Regelschulsystem an. Den prozentualen Anteil der inklusiv beschulten Schüler mit besonderem Förderbedarf an allen Schülern mit besonderem Förderbedarf spiegelt der Inklusionsanteil wider. Die Exklusionsquote bildet den Anteil der separat unterrichteten Schüler mit besonderem Förderbedarf an allen Schülern ab (siehe auch Klemm 2010a).
Im Folgenden stehen diejenigen jungen Menschen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, bei denen formal besonderer Förderbedarf diagnostiziert wurde und die in Deutschland entweder in den Regelschulen oder separat in den Förderschulen unterrichtet werden.
Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf
Von der Kultusministerkonferenz wurde der von dem angelsächsischen Terminus »Special Education Needs« abgeleitete Begriff »sonderpädagogischer Förderbedarf« aufgegriffen, um den an eine Institution gebundenen Terminus der ›Sonderschulbedürftigkeit‹ zu ersetzen (Bleidick, Rath und Schuck 1995). Doch auch der Begriff des ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ ist kritisiert worden (Staatsministerium für Kultus 2005; Wocken 2010; Kottmann 2007; Dönges 2010). Er suggeriert zum einen, dass diese Kinder und Jugendlichen generell einer ›Sonder-Pädagogik‹ bedürfen, zum anderen bezieht er sich auf individuelle, von Regelschulen nicht zu leistende Fördermaßnahmen, die an besondere Lernorte gekoppelt sind bzw. von besonders qualifizierten Lehrkräften durchgeführt werden müssen. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention wird der Begriff damit obsolet. So soll im Rahmen des Chancenspiegels, analog zur letztjährig etablierten Begriffssetzung, der Terminus des ›besonderen Förderbedarfs‹ verwendet werden (allerdings wird auch mit diesem Ausdruck der Umstand vernachlässigt, dass Förderbedarfe immer individuell sind und demnach im Grunde keine besonderen Förderbedarfe existieren; vgl. Berkemeyer, Bos und Manitius 2012).
In Deutschland existieren Förderschulen mit jeweils verschiedenen Förderschwerpunkten13 (Lernen, Sehen, Hören, Sprache, körperliche und motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Kranke, übergreifender Förderschwerpunkt sowie noch keinem Förderschwerpunkt zugeordnet). In diesen können Kinder und Jugendliche beschult werden, sofern bei ihnen der besondere Förderbedarf diagnostiziert wird. Die Praxis der Diagnose ist jedoch umstritten (Schlee 2004); es fehlt an einheitlichen Diagnoseinstrumenten sowie an Standards für die Verfahren der sonderpädagogischen Diagnostik (Hofmann 2003; Klauer 2003). Zudem zeigen Untersuchungen, dass weder Kriterien zur Feststellung des Förderbedarfs noch die Entscheidung über den Förderort wissenschaftlich fundiert sind (Albers 2010; Jogschies 2008). Im Gegensatz zu den Förderschwerpunkten, in denen Kategorien medizinisch feststellbarer Behinderungen nachweisbar sind (Sehen, Hören sowie körperliche und motorische Entwicklung), sind klare Abgrenzungen zur als normal geltenden kindlichen Entwicklung innerhalb anderer Schwerpunkte, wie etwa Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung, bisweilen problematisch.
Die Abgrenzung der Kategorisierungen innerhalb dieser Diagnoseschwerpunkte fällt meist schwer, da beispielsweise Lern- und Verhaltensstörungen häufig gemeinsam mit unterschiedlichen, teils schwer zu differenzierenden Anteilen weiterer Förderschwerpunkte auftreten (Bos und Vaughn 2006; Ricking 2005). Neben der Tatsache, dass viele Schüler innerhalb dieser Bereiche gar nicht erst erfasst werden, bestätigen...