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Chancenspiegel 2014

Regionale Disparitäten in der Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme

AutorBjörn Hermstein, Ina Semper, Melanie Bonitz, Nils Berkemeyer, Veronika Manitius, Wilfried Bos
VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl434 Seiten
ISBN9783867936446
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Die Frage nach den Merkmalen gerechter und leistungsfähiger Schulsysteme ist noch immer aktuell. Der Chancenspiegel stellt sich dieser Frage theoretisch und empirisch: Er untersucht die Schulsysteme der deutschen Bundesländer in den zentralen Gerechtigkeitsdimensionen 'Integrationskraft', 'Durchlässigkeit', 'Kompetenzförderung' und 'Zertifikatsvergabe'. Zudem unterzieht er die Ergebnisse einer vergleichenden Betrachtung. Im Zeitreihenvergleich werden Veränderungen nachgezeichnet. Um den Ursachen unterschiedlicher Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen wirklich auf die Spur zu kommen, legt der Chancenspiegel 2014 einen besonderen Schwerpunkt auf die Analyse von regionalen Disparitäten der Schulsysteme. Die Auswertungen statistischer Daten zu den Dimensionen 'Durchlässigkeit' und 'Zertifikatsvergabe' auf Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten zeigen: Sowohl zwischen den Bundesländern als auch innerhalb der Länder bestehen bisweilen deutliche Unterschiede hinsichtlich der Chancen auf schulische Bildungsteilhabe und Bildungserfolg. Die mit dem Chancenspiegel angebotenen theoretischen Reflexionen und empirischen Befunde stellen einen Beitrag zur gesellschaftspolitischen Diskussion über ein gerechtes und leistungsstarkes Schulsystem dar.

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Leseprobe

II Regionale Schulsysteme im Spiegel ausgewählter Gerechtigkeitsdimensionen


4. Regionale Disparitäten in Schulsystemen – Indikatoren der Gerechtigkeitsdimensionen im Spiegel empirischer Forschungsergebnisse


Bildung ist seit jeher eine wesentliche Dimension sozialer Ungleichheit und dadurch zentraler Gegenstand sozial- und erziehungswissenschaftlicher Forschung. Schon früh wurde von der Bildungsforschung auch die Bedeutung regionaler Merkmale für Bildungsprozesse in den Blick genommen, so beispielsweise in Untersuchungen zu sozialen und regionalen Disparitäten in der Bildungsbeteiligung (Peisert 1967; Geipel 1965). Aktuell ist nach der Prominenz der großen international vergleichenden Schulleistungsmessungen in der PISA-Ära der 2000er-Jahre wieder eine erhöhte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit regionalen Bildungsdisparitäten zu beobachten, etwa in der bildungsbezogenen Ungleichheitsforschung (Ditton 2013a; Sixt 2013; Kemper und Weishaupt 2011) oder im Kontext von Studien wie NEPS (National Educational Panel Study), die den Einbezug raumbezogener Fragestellungen in den Analysen erlauben. In aktuellen Untersuchungen steht insbesondere das Zusammenspiel zwischen kontextuellen Merkmalen, Bildungsangebot (Bildungsinfrastruktur), Nutzung der Angebote (Teilnahme) sowie Prozessen (z. B. Übergänge oder Bildungslaufbahnen) und Erträgen (z. B. erreichte Kompetenzen oder Abschlussquoten) im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses (vgl. z. B. Becker und Schulze 2013; Sixt 2010; Weishaupt 2009; Budde 2007; Below 2002).

Einen weiteren Zugang zu Bedingungen und Ergebnissen schulischer Bildungsprozesse bietet die kommunale Bildungsberichterstattung. Mit dem Ziel, die interessierte Öffentlichkeit zu informieren und Steuerungswissen für Akteure des Bildungswesens vor Ort bereitzustellen, geben Bildungsberichte datengestützt Auskunft über strukturelle Bedingungen, Bildungsprozesse und -erträge sowie gesetzliche Rahmenbedingungen von Bildung (Rürup, Fuchs und Weishaupt 2010; Döbert und Avenarius 2007). So werden beispielsweise im Bildungsbericht Ruhr (Regionalverband Ruhr 2012) dezidiert Angebotsstrukturen der Bildungseinrichtungen des Ruhrgebiets untersucht und zum Nutzungsverhalten in Beziehung gesetzt. Schließlich sind es vor allem die Forschungen aus Perspektive der Educational Governance (Altrichter und Maag Merki 2010; Kussau und Brüsemeister 2007), die den Blick auf die Regionen richten. Im Zuge einer Regionalisierung im Bildungssektor (Emmerich 2010) wird die Region zunehmend als Bildungspartnerin verstanden, was auch in gerechtigkeitstheoretischer Perspektive relevant für die Schulsystemgestaltung ist (Manitius 2013).

Gemeinsam ist diesen Beobachtungs- und Forschungsperspektiven, dass sie, obwohl jeweils unterschiedliche Aspekte von Bildung im Mittelpunkt stehen, die Rolle regionaler Bedingungen für die Ermöglichung von Bildungsprozessen betonen.

Die im Vergleich der Länder im vorherigen Kapitel vorgestellten teils hohen Streuungen der Werte in den Indikatoren verweisen darauf, dass Disparitäten hinsichtlich der Gerechtigkeit der Schulsysteme der Regionen bestehen. Um Erklärungen möglicher Ursachen für diese Unterschiede näherzukommen, wird im Chancenspiegel 2014 nachfolgend der Blick auf die Gerechtigkeit der Schulsysteme innerhalb der Länder auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte gerichtet.

In Kapitel 5 werden die regionalen Gerechtigkeitsunterschiede der deutschen Schulsysteme einer vertieften Betrachtung unterzogen. Dies geschieht im Rahmen von Länderberichten, in denen regionale Unterschiede im Schulangebot und ausgewählte Indikatoren der Dimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe« auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte in den 13 deutschen Flächenstaaten beschrieben werden (Kap. 5.1 bis 5.13). Die drei Stadtstaaten werden gesondert in einem Großstadtvergleich analysiert, dessen Ergebnisse in Kapitel 5.14 vorgestellt werden. Die Analyse der regionalen Gerechtigkeitsausprägungen erfolgt beschränkt auf die Dimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe«, da diese in einem strukturellen Zusammenhang stehen (Bellenberg und Klemm 1998) und es nicht für alle Gerechtigkeitsdimensionen möglich ist, auf regionalisierte Daten zurückzugreifen.

Einen Überblick über die verwendeten Indikatoren in den Gerechtigkeitsdimensionen und des Schulangebots/der Angebotsnutzung bietet Tabelle FS-1.

Diese Indikatoren werden nachfolgend genauer vorgestellt. Ihre Relevanz für eine gerechtigkeitstheoretische Analyse der Schulsysteme wird unter Bezugnahme auf empirische Forschungsergebnisse, insbesondere zu regionalen Disparitäten, begründet und damit wird die Folie aufgespannt, vor der anschließend in den Länderberichten die regionalen Unterschiede in den Werteausprägungen innerhalb der Schulsysteme aufgezeigt werden. Da schulstrukturelle Merkmale wie das Schulangebot zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten innerhalb von Bundesländern differieren und dadurch Unterschiede in den Werteausprägungen der Dimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe« mitbedingt werden, wird das schulische Angebot als weitere Indikatorengruppe in die Betrachtung einbezogen. Methodische Hinweise zum Vorgehen in den Länderberichten schließen diesen Abschnitt ab.

Tabelle FS-1: Für den regionalen Vergleich der Schulsysteme berücksichtigte Indikatoren (Indikatoren der Länderberichte)

Schulangebot

Angebot an weiterführenden Schulen im Regelschulsystem

Verhältnis von Schulen ohne Hochschulreifeoption zu Schulen mit Hochschulreifeoption

Durchlässigkeit

Zertifikatsvergabe

Übergang von der Grundschule zu weiterführenden Schulen – Fokus Gymnasien*

Abgänger ohne Hauptschulabschluss aus den allgemeinbildenden Schulen

Übergang von der Grundschule zu weiterführenden Schulen – Fokus Schulen mit Hochschulreifeoption*

Absolventen mit allgemeiner Hochschulreife aus den allgemeinbildenden Schulen

Verhältnis von Aufwärts- zu Abwärtswechseln zwischen den Schularten in den Jahrgangsstufen 7–9*

Absolventen mit Hochschulreife aus den beruflichen Schulen

Klassenwiederholungen in den Sekundarstufen I und II*

 

Übergang zwischen Sekundarstufe I und Sekundarstufe II des allgemeinbildenden Schulsystems*

 

Neuzugänge in die drei Sektoren des Berufsbildungssystems nach schulischer Vorbildung

 

* Diese Indikatoren beziehen sich auf das Regelschulsystem.

4.1 Zentrale Forschungsergebnisse zu regionalen Disparitäten

Die Indikatoren, die in den Gerechtigkeitsdimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe« zur Analyse herangezogen werden, sind Kennwerte, denen empirische Evidenz zugesprochen werden kann. Forschungsergebnisse etwa zu den Übergängen im Schulsystem oder Klassenwiederholungen geben Hinweise auf die Bedeutung, die die Werteausprägungen in den Indikatoren für ein chancengerechtes Schulsystem haben. Neben generellen Befunden, dargestellt entlang der Indikatoren, liegt der Fokus auf der Vorstellung von Untersuchungsergebnissen zu regionalen Unterschieden. Schulstrukturelle Merkmale moderieren diese Werteausprägungen, weswegen die Rolle etwa der Angebotslage hier ebenfalls Beachtung findet und entsprechende Forschungsbefunde vorgestellt werden.

4.1.1 Schulstrukturelle Merkmale

Das deutsche Schulwesen besteht aus den Schulsystemen der 16 Bundesländer, die im Zuge der Kulturhoheit deren Ausgestaltung im Rahmen bundesweit geltender Gesetzgebung verantworten. Unterschiede in der Ausgestaltung zeigen sich etwa in der Art und Anzahl der vorgehaltenen Schulen, in der Regelung der Übergangsmodalitäten von der Primar- in die Sekundarstufe oder in der Zahl der Absolventen eines bestimmten Bildungsgangs. Solche Merkmale sind aber nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Die Indikatoren in den hier betrachteten Gerechtigkeitsdimensionen sind, so ist anzunehmen, konfundiert mit strukturellen Schulsystemmerkmalen. So stehen Aspekte von Durchlässigkeit und Zertifikatsvergabe etwa in einem engen Zusammenhang mit der Angebotslage an Schulen und Schularten und mit dem Nutzungsverhalten der Schüler bzw. dem Entscheidungsverhalten der Eltern (Berkemeyer, Hermstein und Manitius, im Ersch.; Becker und Hadjar 2013; Sixt 2010).

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