VORWORT
Nur wenige Menschen hat überrascht, was Anfang Dezember 2009 weltweit Schlagzeilen machte: »Frauen wählen Chanel N°5 zum ›verführerischsten Duft‹.« Wieder einmal hatte sich Coco Chanels Kultparfum als Duftwasser mit dem größten Sexappeal behauptet und die Designerparfums zeitgenössischer Modeschöpfer, darunter so populäre und anziehende Düfte wie Eternity von Calvin Klein und Beautiful von Estée Lauder, weit abgeschlagen. Manche Marken, die sich großartig verkaufen, schafften es nicht einmal auf die Bestenliste. Und unter den Top Twenty fiel noch etwas auf: Keines dieser Parfums war vor 1980 auf den Markt gekommen – außer dem inzwischen 90 Jahre alten Chanel N°5.
Chanel N°5 gehört zu den wenigen Parfums mit Tradition, und die Vorstellung, dass es eine Frau unwiderstehlich macht, ist beileibe nicht neu. Als die Story über das verführerischste Parfum der Welt in der London Daily Mail erschien, bemerkte der Autor trocken: »Marilyn Monroe hatte nie Probleme, anziehend auf Männer zu wirken.« Jetzt »allerdings entsteht der Eindruck, als verdanke sie ihr schillerndes Liebesleben vielleicht nur einer schlichten Entscheidung: Welches Parfum nehme ich?« Doch wer könnte je ihren berühmten Ausspruch vergessen, sie habe nachts im Bett nichts an außer ein paar Tropfen Chanel N°5? Jedenfalls nicht die Tausenden von Frauen, die Chanel N°5 zum verführerischsten derzeit auf dem Markt erhältlichen Duft kürten und behaupteten, es verhelfe einem nicht nur zu einem Rendezvous, sondern auch »weiter zu einer festen Beziehung«. Tatsächlich erklärten erstaunliche 10 Prozent der Befragten, das Kultparfum getragen zu haben, als sie »den Richtigen« kennenlernten.
Falls das stimmt, gehen eine ganze Menge Romanzen auf das Konto von Chanel N°5: Laut französischer Regierung wird im Schnitt alle 30 Sekunden irgendwo auf der Welt eine Flasche dieses berühmtesten aller Parfums verkauft, was sich zu einem Jahresumsatz von etwa 100 Millionen Dollar summieren dürfte. Die genaue Zahl ist, wie so vieles bei diesem gefeierten Duft, streng gehütetes Firmengeheimnis. Doch all diese Zahlen – auch dass folglich mehr als eine Million Flakons pro Jahr verkauft werden – ergeben im Grunde nur eines: eine riesige Zahl herrlich duftender Frauen, die jemanden betören. Und das Jahr für Jahr, seit Jahrzehnten.
Natürlich sind Geheimnisse der beste Nährboden für Legenden, die sich daher reichlich um die Geschichte von Chanel N°5 ranken. Und zwar fast seit Coco Chanel Anfang der zwanziger Jahre ihr sensationelles Parfum vorstellte – in jenem Schlüsselmoment nach dem Ersten Weltkrieg, als die Welt entschlossen war, eine schmerzliche Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Verheißungen des Neuen und Modernen zu folgen. Plötzlich schienen einst unvorstellbare Dinge möglich. Albert Einstein gewann den Nobelpreis für seine neue Sicht auf physikalische Gesetze, und bis dahin tödliche Krankheiten verloren durch das Wunder der Impfung ihren Schrecken. Zu Anfang des Jahrzehnts war die Anzahl der Millionäre in Amerika noch ziemlich überschaubar. Ein paar Jahre später war die Gruppe der Superreichen um über 700 Prozent auf etwa 15 000 angewachsen, es begann ein neues Zeitalter, das ein goldenes zu werden versprach. Die boomende Nachkriegswirtschaft schuf einen neuen Standard von Reichtum und Luxus, der zum ersten Mal auch für Normalverbraucher in greifbare Nähe zu rücken schien, mit Radios und Tonfilmen, Autos für die Mittelschicht und schicker Konfektionsmode – sowie eleganten französischen Parfums – in glitzernden Kaufhausetagen, ein weiteres Phänomen dieser verheißungsvollen neuen Wirtschaftsära.
Es war das Jahrzehnt von New York und Paris und all dem, was sich zu jenem Zeitpunkt ereignete, als die Entfernung zwischen diesen beiden Großstädten zu schrumpfen schien – ein Jahrzehnt der Superstars und Helden. Und weil dank immer schnellerer Kommunikationsmittel der Grundstein zu einer internationalen kosmopolitischen Kultur gelegt war, wurde es auch das Jahrzehnt gefeierter Ikonen. In den »wilden Zwanzigern« verhalf Babe Ruth den New York Yankees in den World Series zu drei Siegen, Charles Lindbergh flog in 33 Stunden von New York nach Paris. Clara Bow wurde das erste »It-Girl« der Welt; Charlie Chaplin führte den Hollywood-Slapstick in neue Dimensionen; und auf den Bühnen der französischen Hauptstadt tanzte die sinnliche Josephine Baker vor einem atemlosen Publikum Nacht für Nacht oben ohne. Doch keine der Ikonen dieser Zwischenkriegsjahre konnte Coco Chanel das Wasser reichen, die bereits als eine der elegantesten und einflussreichsten Frauen ihrer Generation galt.
Allerdings ist die Grenze zwischen Fakten und Fiktion erstaunlich verschwommen. Vieles von dem, was als Allgemeinwissen über den spektakulären Aufstieg von Chanel N°5 und seine Verwandlung zum internationalen Synonym für Luxus verbreitet wird, sind Halbwahrheiten, Irrtümer, kollektive Phantasien und reine Erfindung. Wobei die Wahrheit, die durch die Fiktion verdeckt wird, mitunter phantastischer ist als jeder Roman.
Rufen Sie sich einmal in Erinnerung, was Sie alles über Chanel N°5, das jahrzehntelang bestverkaufte Parfum aller Zeiten und eines der begehrtesten Luxusgüter des 20. Jahrhunderts, zu wissen glauben. Vielleicht fällt Ihnen ein, dass dieser einzigartige Duft im Sommer 1920 von der jungen Modeschöpferin Gabrielle »Coco« Chanel erfunden wurde? Nun, so war es nicht. Tatsächlich hatte die Duftkreation eine lange und verwickelte Vorgeschichte, in der Verlust und Begehren die Hauptrollen spielten.
Oder Sie haben irgendwo gelesen, dass Chanel N°5 in der Welt der traditionellen Düfte eine verblüffende Innovation darstellte: die erste synthetische Komposition, der erste abstrakte Duft, weil man sich bei der Zusammenstellung der Ingredienzien auf ganz neuartige Weise sogenannter »Aldehyde« bediente? Diese Behauptung stützt ganz wesentlich die Legende, warum Chanel N°5 ein so phänomenaler Erfolg wurde. Leider ist auch davon nichts wahr. Chanel N°5 war nicht das erste synthetisch komponierte Parfum auf Aldehydbasis. Es war nicht einmal das zweite. Entstanden an der Schwelle zu jener Ära, die auch heute noch als »goldenes Zeitalter« der Parfumherstellung gilt, war Chanel N°5 dennoch eine wahre Revolution und hat die Geschichte der Düfte auf immer verändert. Zudem war es ein Meisterwerk einer neuen Kunstform in einer pulsierenden Moderne. Aber es verdankt seine spektakuläre Wirkung etwas anderem – etwas, das es zu etwas Beständigem macht, das durch und durch sexy ist.
Fast universell verbreitet ist überdies die Meinung, der internationale Ruhm von Chanel N°5 sei das Ergebnis geschickter und beharrlicher Werbung. Auch wenn Parfumspezialisten die hinreißende Duftkreation als Meilenstein und Glanzstück preisen, kann doch wohl niemand bezweifeln, dass die Berühmtheit und die konstante Marktführerschaft von Chanel N°5 einem brillanten Marketing und insbesondere der umsichtigen Verpackung des Duftes in diesem wundervollen, betont zurückhaltend gestalteten Vierkantflakon zu verdanken sind – oder?
Schließlich erzählt uns die Legende auch, wie der Flakon geadelt wurde, indem Andy Warhol ihn in seiner berühmten Lithographie-Serie aus den Sechzigern in den Rang einer Ikone des 20. Jahrhunderts erhob. Und dann gibt es da dieses spektakuläre Foto von Marilyn Monroe, der besten Werbeträgerin, die Chanel N°5 je hatte, wie sie die Parfumflasche provokativ vor ihr ausladendes Dekolleté hält.
Das Problem ist nur, dass Chanel N°5 in Warhols berühmter Pop-Art-Ikonenserie nirgendwo auftaucht. Und Marilyn Monroe bekam keinen Cent für ihre Unterstützung der Marke. Selbst die oft kolportierte Geschichte, wie der Flakon Ende der fünfziger Jahre in die ständige Ausstellung des Museum of Modern Art in New York gelangte, ist falsch. Doch weil so offensichtlich auf der Hand zu liegen scheint, dass Chanel N°5 nun einmal Ergebnis eines glänzenden Marketings sein muss, lebt diese Meinung unbeirrt fort. Obwohl der Blick in die Archive zur Geschichte der Werbung und in staubige Kopien von Zeitungen und Modemagazinen eine simple und überraschende Tatsache zutage fördert: Der Erfolg von Chanel N°5 hatte ganz und gar nichts mit gutem Marketing zu tun.
Die Wahrheit ist weitaus fesselnder und komplizierter, denn in den ersten 40 Jahren war die Werbung für Chanel N°5 ausgesprochen mittelmäßig und uninspiriert, um nicht zu sagen eine Katastrophe. Und die größten Rivalen von Chanel N°5 in den zwanziger, dreißiger und auch noch in den vierziger Jahren waren eine von der Firma – und später von Coco Chanel selbst – hausgemachte Konkurrenz samt Verwechslungsgefahr. Doch aus irgendeinem Grund kam es auf Marketing und Werbung schlicht nicht an.
Rufen wir uns noch einmal die einfache Tatsache vor Augen: alle 30 Sekunden ein Flakon. Die Zahlen sind schwindelerregend, und sie zeigen nicht etwa einen neuen Trend. Chanel N°5 ist bereits seit den zwanziger Jahren solch ein Riesenerfolg. Laut Chandler Burr, Parfumkritiker der New York Times, wird der Duft, der heute noch den Weltmarkt dominiert, in der Parfumindustrie unserer Tage ehrfürchtig le monstre genannt – das Monster.
Und auch wenn Chanel N°5 keine von Warhols Ikonen der sechziger Jahre war, ist das Parfum zu einem jener überaus raren Produkte geworden, die eigenständig als Symbol fungieren – es ist tatsächlich eine Ikone. Ein anonymer Konkurrent bekannte einmal Burr gegenüber: »Es ist unglaublich! Das ist kein Parfum, sondern ein verdammtes Kulturmonument, wie Coca-Cola.« Die bessere Metapher ist allerdings die des bezaubernden Monsters, denn das Biest hat ein Eigenleben.
Wenige Produkte auf dieser Welt erfreuen sich größerer Beliebtheit als Chanel N°5. Es...