Sohn des »Soldatenkönigs«: Die Vorfahren
Hat brav krakeelt und ist recht fet und frisch.
Friedrich I. zur Geburt seines Enkels
Werwolf, Hexe, Wunderblume: Die Geburtsstunde eines Großen
Der Januar 1712 war bitterkalt und unheimlich. Am 24. des Monats löste indes kurz vor zwölf Uhr mittags die Geburt eines Knaben im königlichen Schloss zu Berlin Euphorie aus. Die Kronprinzessin Sophie Dorothea hatte zum dritten Mal einen Sohn geboren, der umgehend nach seinem Großvater, dem damaligen König Friedrich I., benannt wurde und der folglich später in der monarchischen Nummerierung die römische II erhielt.
Seine Majestät Friedrich I. war gemäß der Hofchronik über die Geburt des Enkels »so sehr alteriert [aufgeregt], dass sie mit Tränen in den Augen sich alsbald zur Kronprinzessin herübertragen ließen und hernachmals nichts essen konnten«1.
Die außergewöhnliche Freude des schwerkanken Königs hatte Hintergründe. Denn bereits zwei männliche Nachkommen seines Sohnes Friedrich Wilhelm waren jeweils binnen eines Jahres nach der Geburt 1708 und 1711 gestorben; sie hießen stets Friedrich. Der alte, zweimal verwitwete König wartete schon lange ungeduldig auf einen Enkel, der die Thronfolge über den Sohn hinaus sichern sollte. Seinen eigenen Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm hatte er deshalb am 14. November 1706 mit dessen Cousine Sophie Dorothea von Hannover verheiratet. Friedrich Wilhelm war damals erst achtzehn Jahre alt, Sophie Dorothea war neunzehn. Da das junge Paar zwei lange Jahre brauchte, um einen Nachkommen hervorzubringen, der dann auch noch rasch nach der Geburt verstarb, entschloss sich 1708 der rastlose König Friedrich I., mit einundfünfzig Jahren eine dritte Ehe einzugehen, um selbst für den Erhalt der Dynastie zu sorgen. Doch diese Verbindung mit der fast dreißig Jahre jüngeren Herzogin Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin blieb kinderlos, was nicht nur auf die kurze Ehe zurückzuführen ist. Obwohl die außerordentlich hübsche Sophie Luise bei Hofe als »mecklenburgische Venus« gepriesen wurde, konnte oder wollte sie ihre Reize mit dem Greis Friedrich I. nicht teilen, denn dieser gestand, dass sich in seiner letzten Ehe »bezüglich Beischlafs nichts Reeles ereignet« habe.2
Zur Beruhigung Friedrichs I. überlebte nach der Enkelin Wilhelmine (1709—1758) auch der 1712 geborene Enkel Friedrich. Insgesamt brachte seine Schwiegertochter Sophie Dorothea bis 1730 vierzehn Kinder zur Welt, wovon vier im Säuglingsalter starben. Zur lang ersehnten Geburt eines Thronfolger-Enkels stellte der begeisterte Großvater fest, dass sich die »Krohn Princes und mein Enckel recht wol befindet«. Der kleine Friedrich habe »brav krakeelt und ist recht fet und frisch«.3 Natürlich wurden außerdem Glocken geläutet und Kanonen abgefeuert.
Nach der Lehre Johannes Calvins »ist Aberglaube nicht entschuldbar«. 4 Doch der sonst sich strenggläubig-calvinistisch gebende König Friedrich I. ließ die Nabelschnur seines Enkels in ein diamantbesetztes Medaillon einschließen und trug es bis zu seinem Tod als Talisman an einer Halskette. Er war ohne Frage über die Geburt Friedrichs außer Rand und Band, was darauf schließen lässt, dass er dem eigenen Sohn und unmittelbaren Thronfolger wohl nicht recht traute — ein hohenzollernscher Charakterzug, der bis ins 20. Jahrhundert, bis zu Kaiser Wilhelm II. und dessen Sohn, Kronprinz Wilhelm, nachweisbar ist. »Mannigfache Gnadenbezeugungen und Beförderungen treuer Diener des Staates, die Speisung aller Armen in den Armenhäusern der Stadt erhöhten die Feier des Tages«, weiß der Chronist Franz Kugler zu berichten.5
Der alte König betrachtete es als ein günstiges Omen, dass Prinz Friedrich im Januar geboren wurde, dem gleichen Monat seiner Krönung im Jahr 1701. Um diesem vermeintlichen Fingerzeig der Vorsehung ein größeres Gewicht zu verleihen, ordnete er die Taufe noch für denselben Monat an. Am 31. Januar marschierte der gesamte Hofstaat in der Schlosskapelle auf. Die Patenschaft für den kleinen Friedrich übernahmen die Spitzenpolitiker Europas: der deutsche Kaiser Karl VI. in Wien, der russische Zar Peter der Große sowie Kurprinz Georg I. von Hannover, der 1714 König von Großbritannien wurde. Keiner der Paten war natürlich in Person anwesend. Zwei von ihnen — der Kaiser und der englische König — sollten allerdings achtzehn Jahre später als Paten tatsächlich gefordert werden, und beide handelten entsprechend. Die Patenschaft war unter gekrönten Häuptern also keine Formsache oder reine Ehrenbezeugung.
Der Täufling hatte eine kleine Krone auf dem Haupt und trug ein mit Diamanten besetztes Kleid, dessen Schleppe sechs Gräfinnen hielten. »In der Kapelle warteten ihrer der König nebst seiner Gemahlin, seinem Sohne, dem Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau, dem berühmten Befehlshaber des preußischen Heeres, und den übrigen Personen des Hofes. Der König stand unter einem prächtigen, mit Gold gestickten Baldachin, dessen vier Stangen von vier Kammerherren getragen wurden, während die vier goldenen Quasten desselben vier Ritter des Schwarzen Adlerordens hielten. Vor dem Könige war ein Tisch mit goldenem Taufbecken; er selbst übernahm den Täufling. Aufs neue läuteten alle Glocken der Stadt und ertönte der Donner der Geschütze, während in der Kapelle die heilige Zeremonie von rauschender Musik begleitet ward. Glänzende Festlichkeiten am Hofe und in der Stadt beschlossen den freudigen Tag.«6
Andernorts herrschte weniger Ausgelassenheit. Ja, eigentlich war es sogar schaurig. Denn zwei Tage vor Friedrichs Geburt, am 22. Januar 1712, geschah ein grausiger Mord in den Wäldern um Kühlungsborn in Mecklenburg. Opfer war Isolde Magenbert, die Magd einer Brunshauptener Bauernfamilie. Nachts war sie noch zu einer Tanzveranstaltung in Kröpelin im Gasthof »Krähe« gewesen und hatte sich dann zu Fuß auf den Rückweg gemacht. Am nächsten Morgen fand man ihre Leiche unweit des Weges, »entsetzelichst zugerichtet in der Vollmondnacht«, wie der Schreiber der Brunshauptener Chronik aus dem Jahr 1712 vermerkt. Der Arzt untersuchte die sterblichen Überreste der unglücklichen Magd und kam zu dem Ergebnis: »Man könnte schließen, sie sei von einem Tiere angefallen worden, etwa einem Hunde oder Wolfe. Nur mit Blick auf die Größe der Wunden kann man schon wieder zweifeln, ob es solch große Hunde oder Wölfe gebe. Man sollte auch in Betrachte ziehen, daß ein seiner Geisteskräfte beraubter Mensch als Täter in Frage käme.«7
Vier Wochen später wird der Seemann Christian Bertold ebenfalls in einer Vollmondnacht in den Wäldern der Kühlung angefallen und entkommt nur mit Müh und Not. Er gibt zu Protokoll, der Angreifer sei »weder Tier noch Mensch gewesen«. Als auch noch im Juni 1712 im gleichen Wald drei Zimmerleute auf der Wanderschaft bei Vollmond »zu Tode gerissen« werden, weiß das Volk nun, wer dort umgeht: Ein Werwolf haust in der Kühlung. Später wird von der Obrigkeit der geistig behinderte Sohn eines Landarbeiters als »Werwolf« identifiziert und hingerichtet. So steht es in den Akten, die im Schweriner Landesarchiv aufbewahrt werden.8
Während die Mecklenburger überzeugt sind, von einem Werwolf heimgesucht zu werden, wird zur gleichen Zeit in England die letzte »Hexe« hingerichtet. Um die Liste der Absurditäten des Jahres 1712 zu komplettieren, sei noch auf ein botanisches »Wunder« verwiesen. Einige Monate nach der Geburt Friedrichs, im Frühjahr und Sommer, erblühte im Lustgarten zu Köpenick — damals ein eigener Ort außerhalb Berlins — eine aus Amerika eingeführte Aloe, die dort schon vierundvierzig Jahre lang gestanden hatte, ohne zu blühen. »Sie trieb einen Stamm von einunddreißig Fuß Höhe [etwa 9.30 Meter], an welchem man 7277 Blüten zählte. Tausende strömten von nah und fern herzu, um dies Wunder der Natur zu sehen.«9 Man betrachtete die Pracht der Riesenblume »als ein Sinnbild jenes Glanzes, zu dem das preußische Königshaus emporsteige. Den Hoffnungen, welche die Geburt des künftigen Thronerben belebt hatte, schien hier eine neue Bestätigung gegeben. «10
So also war die Zeit oder vielmehr der Zeitgeist, in den Friedrich hineingeboren wurde. Seine Zeitgenossen glaubten an Vorzeichen des Schicksals, an Wahrsagerei,11 an Talismane, an Alchemie, an jegliche Art von Übernatürlichem, an Werwölfe, Vampire, Hexen, an unsichtbare Mächte; in seiner Familie spukte seit dem 14. Jahrhundert sogar eine »Weiße Frau«,12 die stets bei ihrem Erscheinen Todesfälle unter den Hohenzollern ankündigte. Mit solcherart Okkultismus — im engsten Familienkreis wie in der breiten Bevölkerung — musste sich Friedrich zeit seines Lebens auseinandersetzen.
Hier, in seinem Geburtsjahr, liegt begründet, warum er später als Monarch so heftig gegen die Unvernunft seiner Zeit wetterte, kämpfte, aufklärte. Sein Versuch, sein Volk in jeder Hinsicht über die Wahrheiten der Natur und des Lebens aufzuklären, muss zu seinen wirklich großen Leistungen gezählt werden. Ein Werwolf war für ihn kein angsteinflößendes Gruselwesen, sondern, wie er spöttisch meinte: »Ein Mensch, der die Wissenschaften pflegt und ohne Freund lebt, ist ein gelehrter Werwolf.«13
Sein erwachsenes Leben lang kämpfte Friedrich gegen Scharlatanerie und Aberglauben, meist vergebens. An den französischen Philosophen Marquis d’Argens, der unter Friedrich Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften war, schrieb er 1760 verzweifelt: »Das Unglück macht zaghaft und die Furcht abergläubisch. Es befremdet mich gar nicht, daß Leute, die unverschämt und dünkelhaft die Zukunft weissagen, Leichtgläubige finden, die ihren Prophezeiungen Glauben schenken. Ein Narr...