1 Der Connétable
»Sehen Sie«, vertraute Charles de Gaulle nach seinem Rücktritt als Regierungschef im Januar 1946 seinem Adjutanten Claude Guy an,
»ich habe immer gedacht, dass ich eines Tages an der Spitze des Staates stehen würde. Ja, es ist mir immer so vorgekommen, dass das ganz selbstverständlich sein würde.«
Nach einem Zug an seiner Zigarre fügte er hinzu:
»Ich glaube, dass ich mich einer Art Einbildung anvertraut habe, einer Art warnenden Einbildung […] Und diese Einbildung, wenn ich daran denke, bedeutete nichts, sie hatte nichts Prophetisches: Tatsächlich sah ich mich zunächst als Kriegsminister.«1
Soll man das glauben?
Es gibt in der Tat einige Berichte aus dem Leben des jungen Charles de Gaulle, die den Anschein erwecken, als ob da jemand zielbewusst auf die historische Rolle hin gelebt habe, die dem Führer des »Freien Frankreich« und ersten Präsidenten der V. Republik schließlich zufallen sollte. Als Kind spielte er mit seinen Brüdern gerne mit Zinnsoldaten und nahm dabei immer die Rolle des Königs von Frankreich für sich in Anspruch, der seine Truppen befehligte; die Brüder und Cousins durften englischer König oder russischer Zar sein. Mit 15 Jahren lieferte er seinen Lehrern im Pariser Jesuitenkolleg der Unbefleckten Empfängnis eine Arbeit über den Feldzug nach Deutschland ab, die zu Beginn des Jahres 1931 spielte, 25 Jahre in der Zukunft. Auf 20 Seiten verhinderte hier ein »General de Gaulle« souverän die Umklammerung seiner Armee durch deutsche Truppen und rettete so das Vaterland. In der Offiziersschule Saint-Cyr, in die er mit 19 Jahren eintrat, verpassten ihm seine Mitschüler alsbald den Spitznamen »der Connétable«. Im alten Frankreich war das der höchste Offizier des Königs gewesen, im Rang noch über dem Marschall.
Aber natürlich ist auch de Gaulle im Rückblick der biographischen Illusion erlegen, die die Vielfalt und partielle Widersprüchlichkeit der Anlagen eines jeden Menschen ebenso leugnet wie die Zufälle , die nun einmal auf sein Leben einwirken. Lange Zeit sah es überhaupt nicht danach aus, als ob dieser zweite Sohn eines Lehrers und späteren Studienpräfekten an eben diesem Jesuitenkolleg in Paris auch nur eine Fußnote in der französischen Geschichte hinterlassen würde. Im Gegenteil: Seine starke Einbildungskraft, verbunden mit einem ausgeprägten Hang zur Rechthaberei, prädestinierten ihn eigentlich für die Rolle eines Sonderlings, und er ist im Laufe seines Lebens auch oft genug als Don Quichotte verspottet worden. Als er sich im Juni 1940 entschloss, den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs zu organisieren, war alles andere als sicher, dass er damit Erfolg haben würde. Ebenso wenig war nach seinem Rücktritt vom Amt des Präsidenten des französischen Ministerrats im Januar 1946 zu erkennen, dass er noch ein zweites Mal an die Spitze des französischen Staates treten würde.
Was allerdings schon sehr früh zu sehen war, waren Begabungen, die den jungen Charles de Gaulle für eine solche Führungsposition prädestinierten: sein außerordentliches Selbstbewusstsein, gepaart mit hoher Intelligenz und einem Ehrgeiz, der sich darauf fokussierte, sich im Dienst an jener fiktiven Gemeinschaft hervorzutun, an die er glaubte: das »ewige« Frankreich, das von einem Königtum von Gottes Gnaden geformt worden war und nun unter den Folgen der gottlosen Französischen Revolution litt. Geschichte, wie sie ihm sein Vater vermittelte und auch im Jesuitenkolleg gelehrt wurde, die Geschichte der Könige und Feldherren, der Feldzüge und Schlachten, wurde bald sein Lieblingsfach. Noch vor seinem 15. Geburtstag verschlang er so umfangreiche und trockene Werke wie die Geschichte des Konsulats und des Empires von Adolphe Thiers in 20 Bänden und Das zweite Empire von Pierre de La Gorce in sieben Bänden.
Die Identifizierung mit dem »ewigen« Frankreich verdankte Charles-André-Joseph-Marie de Gaulle der Familie, in die er am 22. November 1890 hineingeboren wurde. Die de Gaulles entstammten einem Adelsgeschlecht, das schon in Urkunden des 13. Jahrhunderts auftaucht. Im 18. Jahrhundert waren direkte Vorfahren des künftigen Generals als Anwälte der Krone und Rechtsanwälte am Pariser Parlament tätig. Sein Urgroßvater, Parlamentsrat Jean-Baptiste-Philippe de Gaulle wurde auf Veranlassung des Konvents 1794 ins Gefängnis geworfen und brachte es schließlich zum Direktor der Militärpost in Napoleons Armee. Sein Großvater Julien-Philippe de Gaulle ruinierte sich als Inhaber eines Pensionats in Valenciennes und führte dann ein unstetes und höchst prekäres Leben als »freier« Schriftsteller. Vor dem gänzlichen Untergang rettete ihn die Ehe mit Joséphine Maillot, Tochter eines Tabakkontrolleurs aus Lille, dessen Familie auf Vorfahren im irischen Adel zurückblickte. Sie zeichnete sich durch ein umfangreiches Oeuvre von historischen Romanen, Erbauungsschriften und Biographien aus, in denen die heile Welt des vorrevolutionären und vorindustriellen Frankreich beschworen wurde, während ihr Mann eine monumentale Geschichte von Paris und andere historische Darstellungen hinterließ.
Ihr zweiter Sohn Henri, der Vater von Charles, träumte von einer Karriere im Militär, kämpfte als Freiwilliger im Krieg von 1870/71 und begann nach der Niederlage eine Laufbahn im Innenministerium. 1884 ließ er sich beurlauben, weil er den antiklerikalen Kurs seines Ministers Pierre Waldeck-Rousseau nicht länger mittragen wollte. Stattdessen ließ er sich von den Jesuiten als Lehrer für Französisch, Latein, Griechisch, Geschichte, Philosophie und Mathematik einstellen. Zu den Schülern, die durch seinen ebenso fordernden wie fördernden Unterricht geprägt wurden, zählten Georges Bernanos, Marcel Prévost, der spätere Kardinal Fernand Gerlier und die Generäle Jean-Marie de Lattre de Tassigny und Philippe Leclerc. Die antirepublikanische und streng katholische Gesinnung, die für diesen Berufsweg bestimmend war, wurde noch verstärkt durch seine Heirat mit Jeanne Maillot, einer Nichte seiner Mutter, deren Katholizismus sich durch eine besondere Intransigenz auszeichnete. Die de Gaulles lebten in einem Milieu stolzen Widerstands gegen die herrschenden Tendenzen ihrer Zeit – den militanten und bisweilen frivolen Antiklerikalismus der III. Republik.
Wie die Frau von Charles de Gaulle später berichtete, war Jeanne de Gaulle der politisch fordernde Teil dieses Paares:
»Ohne jeden Zweifel hat der General den aggressiven Teil seines Charakters von ihr geerbt. […] Meine Schwiegermutter war ohne jeden Zweifel das, was man eine Frau mit starkem Willen nennt. Von ihr hat der General das meiste. Sie interessierte sich für die Probleme der Politik und äußerte sehr eigene Meinungen und Urteile. Zurückhaltend formuliert muss man dazu sagen, dass sie kategorisch und leidenschaftlich waren. Mein Schwiegervater war ein abgehobener Mann von großer Belesenheit. Er zog das Nachdenken und die Bücher jeder anderen Sache vor. Vor der Politik grauste es ihm.«2
Charles war das zweite von fünf Kindern. Offensichtlich hochbegabt war er als Schüler zunächst mittelmäßig, sehr am Lesen und Schreiben interessiert, aber ansonsten undiszipliniert. Das änderte sich, als er mit knapp 15 Jahren die Idee entwickelte, Offizier zu werden. Für die Aufnahme in die Offiziersschule Saint-Cyr musste man hart arbeiten, und das tat Charles nun auch. Um sein Deutsch zu verbessern, verbrachte er die Sommerferien 1908 im Schwarzwald, als Gast eines katholischen Pfarrers, der ihm auch Freiburg und Luzern zeigte. Im September 1909, noch nicht 19 Jahre alt, bestand er die Aufnahmeprüfung in Saint-Cyr als 119. von 221 angenommenen Bewerbern. Das war kein glänzender Erfolg, aber es war ein Erfolg: schließlich waren fast 800 Kandidaten zu dem Auswahlverfahren angetreten. Der Weg zu einer Karriere in der von ihm bewunderten Armee stand ihm nun offen. Es war zugleich ein Weg, dem Vaterland zu dienen, ohne sich mit dem Regime der III. Republik gemein machen zu müssen.
Der Offiziersanwärter an der Militärakademie Saint-Cyr, etwa 1910 (Bridgeman Images Berlin).
Notgedrungen akzeptierte Charles de Gaulle auch das eine Jahr Rekrutenausbildung, auf das die republikanische Regierung alle künftigen Offiziersanwärter im Jahr 1905 verpflichtet hatte. Mit seiner Größe von 1,93 Metern – einem Erbe der mütterlichen Seite – fiel ihm das nicht leicht, doch ertrug er die...